Rüdiger, Axel, Staatslehre und Staatsbildung. Die Staatswissenschaft an der Universität Halle im 18. Jahrhundert (= Hallesche Beiträge zur europäischen Aufklärung). Niemeyer, Tübingen 2005. VII, 478 S. Besprochen von Wolfgang Rüfner.

 

Den Autor interessiert vor allem die soziale Konstruktion der Staatswissenschaft im Deutschland des 18. Jahrhunderts im institutionellen Rahmen der halleschen Universität unter Berücksichtigung der möglichen Gestaltungsspielräume (S. 23). Er beschreibt Gründung und Bedeutung der brandenburgisch-preußischen Landesuniversität in Halle in der 1. Hälfte des 18. Jahrhunderts, die in der deutschen Universitätslandschaft eine besondere Stellung erlangte. Ihre Gründung war eine Zäsur in der europäischen Universitätsgeschichte (S. 30). Die neue Universität wurde der ständischen Selbstverwaltung entzogen und stärker noch als die 1506 gegründete Universität in Frankfurt/Oder der fürstlichen Aufsicht unterstellt. Halle wurde zu der maßgebenden Hochschule in der Entwicklung der Kameralwissenschaft, in welcher der Beamtennachwuchs geschult werden sollte. Zugleich wurde versucht, die Ausbildung dieses Nachwuchses auf die preußischen Universitäten zu lenken und das Studium an ausländischen Universitäten zu behindern (S. 115). Ein voller Erfolg war diesen Bestrebungen nicht beschieden. Die Abhängigkeit Halles von den staatlichen Etats führte zu einem Niedergang der Universität seit den 30er Jahren des 18. Jahrhunderts (S. 113), vom dem auch die juristische Fakultät wesentlich betroffen war. Die Kameralwissenschaft, welche als Wissenschaft von der „Polizei“ weder zur Philosophie noch zur Jurisprudenz gehörte, sondern praktischen Bedürfnissen der Staatsverwaltung im Sinne einer Verwaltungslehre (S. 223) dienen sollte (S. 203), ging in der umfassenden Staatswissenschaft auf. Schließlich gewannen die liberalen Ideen der Aufklärung und der französischen Revolution die Vorherrschaft. Die Kameralwissenschaft bisheriger Prägung wurde von der neuen Staatslehre mit stärker juristischer Grundlage überwunden. Das Juristenmonopol in der öffentlichen Verwaltung setzte sich durch (S. 308).

Der Verfasser schildert ausführlich die wissenschaftlichen Werdegänge und Leistungen bedeutender Kameralisten wie Gasser und Stiebritz (S. 213ff.), den Übergang von der Kameral- zur Staatswissenschaft bei von Justi, Zschackwitz (S. 229ff.), Gundling (S. 234ff.) bis zu Schmeizel, Schmauß, Achenwall und Süßmilch (S. 257ff.), deren Wirksamkeit bis in das 19. Jahrhundert hineinreichte. Zum Liberalismus und zur allgemeinen Staatswissenschaft führt dann Christian Daniel Voß, dessen Wirken ausführlich behandelt wird (S. 309ff.). Am Ende stand, im Werk Rüdigers nicht mehr beschrieben, der Übergang zur „juristischen Methode“, welche die Betrachtung der Realien des Staatslebens vernachlässigte und auf juristische Dogmatik und Konstruktion setzte, in gewisser Weise eine Rationalisierung auf hohem Abstraktionsniveau, aber mit Verlust der Beziehung zur Wirklichkeit.

 

Der Verfasser hat einen interessanten Ausschnitt der Ideengeschichte behandelt, macht es allerdings in seiner Darstellung dem Leser nicht leicht. Dies gilt für die Gedankenführung wie für die sprachliche Gestaltung. Warum alles symbolisch sein soll, die Reduktion der Arbeit auf die ökonomische Rentabilität des kapitalistischen Verwertungsprozesses (S. 406), die Dimension des Produktionsprozesses (S. 406), die Tätigkeit von Politik, Kultur und Wissenschaft (S. 406), die Dimension der Arbeit (S. 406), die Souveränität (S. 46), die Produktion (S. 46), die Herrschaft (S. 47) bleibt dem Leser oft verborgen. Trotzdem: Wer die Mühe nicht scheut, den manchmal komplizierten Gedankengängen des Autors zu folgen und das Buch durchzuarbeiten, wird viele neue Aspekte der Wissenschaftsgeschichte und auch des (preußischen) Regierungs- und Verwaltungsstils im Absolutismus entdecken.

 

Köln                                                                                                  Wolfgang Rüfner