Reiter, Julius F., Entstehung und staatsrechtliche Theorie der italienischen Carta del Lavoro (= Rechtshistorische Reihe 316). Lang, Frankfurt am Main 2005. 391 S. Besprochen von Filippo Ranieri.

 

Bei der vorliegenden Arbeit handelt es sich um eine rechtshistorische Dissertation, die Horst Schröder an der Humboldt-Universität zu Berlin betreut hat. Einfluss auf die Arbeit hat offenbar auch Hans Hattenhauer genommen, während des Studiums des Verfassers an der Universität Kiel. Der Verfasser stellt bereits im Vorwort heraus, dass der Umstand, dass er als Sohn eines deutschen Vaters und einer italienischen Mutter zwischen zwei Kulturen aufgewachsen ist, für die Themenwahl und für die Ausrichtung der Untersuchung eine entscheidende Rolle gespielt habe. Im Zentrum der Arbeit steht in der Tat ein zentraler Aspekt der Staats- und Rechtsgeschichte Italiens in der Zeit zwischen den zwei Weltkriegen. Es geht um die „Carta del Lavoro“ aus dem Jahre 1927. Es handelt sich dabei um ein Gründungsdokument, welches als „Arbeitsverfassung“ der italienischen faschistischen Bewegung bezeichnet werden kann. Mit dieser „Carta“ sollte ein korporativer Ständestaat entstehen, der die Arbeit des Einzelnen in den Mittelpunkt allen gesellschaftlichen Lebens stellen wollte. Nach einer Vorbemerkung (S. 15ff.) widmet der Verfasser einen ersten gewichtigen Abschnitt (S. 21ff.) der „historischen und soziokritischen Betrachtung der Arbeitsverhältnisse in Italien“ in jenen Jahrzehnten. In einem darauf folgenden Abschnitt (S. 107ff.) werden die neuen legislativen und sozialen Strukturen in der italienischen Wirtschaftsverfassung nach der Machtübernahme durch die faschistische Bewegung im Jahre 1922 kurz beschrieben. Dazu gehören die neue Ordnung der Arbeitswelt: „Disciplina e lavoro“ (S. 167ff.) sowie die Beschreibung der neuen Zuständigkeiten für die dazugehörigen gesetzlichen Bestimmungen, die sog. Richtlinien (S. 201ff.). Der darauf folgende Abschnitt „Die Carta del lavoro“ (S. 225ff.) ist einer ausführlichen Exegese dieses Dokuments gewidmet. In diesem Rahmen wird auch die Fortwirkung des Einflusses des Dokuments auf das Sozial- und Staatsrecht Italiens analysiert. Die Untersuchung wird durch eine Schlussbetrachtung (S. 353ff.) abgeschlossen. Dem schließt sich ein Literaturverzeichnis an. Eine umfassende Bibliographie (S. 351-391) wird hier nach Sachgebieten untergliedert, etwa: Faschismustheorie, Allgemeine Darstellungen der faschistischen Epoche, Geschichte, Philosophie und Theologie, Dichtung, Nachschlagewerke usw. Diese Untergliederung ist zwar nützlich, behindert aber zugleich das Aufsuchen der einzelnen Werke, die nicht unbedingt nur in eine Kategorie eingeordnet werden können.

 

Will man den Gesamteindruck der Untersuchung vorweg festhalten, so kann der Rezensent durchaus einräumen, viel aus der Lektüre gewonnen zu haben. Die Arbeit ist übersichtlich gegliedert und außerordentlich gut informiert. Sie vermittelt eine präzise und genaue Beschreibung der angegangenen Problematik. Vielleicht können einige zusätzliche Hinweise zum Thema die vom Verfasser angesprochene Fragestellung ergänzen. Die „korporative Bewegung“, die das faschistische Italien hervorbrachte, charakterisiert zugleich vergleichbare diktatorische Regime in jenen Jahrzehnten in vielen europäischen Ländern. Die Hinwendung zu einem vermeintlichen Ständestaat finden wir in Rumänien, in Ungarn, z. T. in der katholischen faschistischen Phase der Österreichischen Republik vor dem Anschluss ebenso wie etwa im vordemokratischen frankistischen Spanien und in Portugal zur Zeit Salazars. Ein außerordentlich interessanter Gesichtspunkt, vom Verfasser leider nicht angesprochen, wäre es gewesen, diesen gesamteuropäischen Zusammenhang zu verdeutlichen und vor allem die Frage zu klären, inwieweit diese faschistische italienische Entwicklung in den übrigen genannten europäischen Ländern und in welchem Umfang gewirkt hat (Siehe inzwischen etwa Michael Stolleis, „Corporativismo“ und ständestaatliche Ideen, in: G. Bender, R. M. Kiesow, D. Simon (Hrsg.), Die andere Seite des Wirtschaftsrechts. Steuerung in den Diktaturen des 20. Jahrhunderts (= Studien zur Europäischen Rechtsgeschichte, Bd. 208 = Das Europa der Diktatur, Bd. 10), Frankfurt am Main 2006). Das Verhältnis, welches der Verfasser zwischen italienischem Korporativismus und deutschem Nationalsozialismus der 30er Jahre herstellt, ist nach meiner persönlichen Überzeugung sehr ambivalent. Gewisse Momente, die an die korporative  Bewegung in Italien erinnern, sind selbstverständlich auch in Deutschland wiederzuerkennen. Die rassische Ideologie überlagerte allerdings die nationalsozialistische Bewegung in einer Weise, welche in keinem Fall eine Entsprechung im damaligen Italien findet. Darin liegt der zentrale Unterschied zwischen deutschem Nationalsozialismus und italienischem Faschismus, wie die neuere italienische Geschichtsschreibung, hier vor allem Renzo di Felice, im Einzelnen herausgestellt hat (siehe im besprochenen Werk etwa S. 36ff.). Auch außenpolitisch standen Italien und Deutschland in den 30er Jahren durchaus auf gegensätzlichen Positionen. Erst nach 1936 und vor allem nach 1938 kam es zur verhängnisvollen außenpolitischen Annäherung. Der Verfasser stellt mit großer Vertiefung die kulturgeschichtlichen Zusammenhänge der italienischen korporativen Bewegung heraus. Der „homo corporativus“ sollte als neuer faschistischer Idealtypus seine Arbeit zum Wohle der Gemeinschaft und der Nation einsetzen, um eine Gesellschaft zu schaffen, deren Grundlage das Privateigentum blieb und mittels derer die marxistisch-sozialistischen Gesellschaftsutopien sowie die kapitalistisch wirtschaftsliberalen Realitäten überwunden werden sollten. Deutlich herausgestellt wird der antimarxistische und antigewerkschaftliche Hintergrund dieser Bewegung, die faktisch zu einer staatlichen Zwangsregulierung der Arbeitswelt zum Nachteil der Arbeitnehmer und zur Ausschaltung von freien Gewerkschaften führte. Weniger deutlich wird aus den Ausführungen des Verfassers, dass die korporative Wirtschaftsverfassung des italienischen Faschismus einen profunden antiliberalen Charakter hatte. Darin liegt übrigens wiederum eine Gemeinsamkeit mit dem Wirtschaftsverständnis des deutschen Nationalsozialismus. Dieser antiliberale Affekt erklärt zugleich die Abneigung der faschistischen und der nationalsozialistischen Bewegung für die anglo-amerikanische Welt dieser Zeit. Daraus erklärt sich auch die italienische und die deutsche Wirtschaftspolitik jener Jahre, die durch Protektionismus, Zwangskartellierung der Industrie und Autarkie charakterisiert wurde. In dieser Hinsicht steht die faschistische Bewegung bei der Machtübernahme am Anfang der 20er Jahre an der Bruchstelle der liberalen Tradition des italienischen Königreichs von 1865. Die liberalen Eliten des „Risorgimento“ haben in der Tat am Ende des 19. Jahrhunderts und am Anfang des 20. Jahrhunderts vor allem darin versagt, dass ihnen eine Modernisierung der italienischen Gesellschaft und der italienischen Wirtschaftsverfassung damals nicht gelang, wenn eine solche Modernisierung überhaupt angestrebt wurde. Die wirtschaftlichen und sozialen Belastungen des Ersten Weltkrieges führten dann zur Kollabierung des alten Regimes. Vielleicht hätte der Verfasser diese wirtschafts- und sozialhistorischen Zusammenhänge deutlicher herausstellen sollen. Er legt demgegenüber mehr Wert auf kulturgeschichtliche Zusammenhänge bis ins Mittelalter hinein. Darin unterliegt er möglicherweise einem Missverständnis. Der Rückgriff auf die historische Tradition der „Corporazioni delle arti e dei mestieri“ und auf die damit verbundenen ständischen Strukturen des Mittelalters war in meinen Augen ausschließlich ein ideologischer und propagandistischer Kunstgriff der faschistischen Medien. Die Analyse der damaligen Arbeits- und Sozialgesetzgebung in Italien hat der Verfasser vertieft vorgenommen. Es fehlt allerdings überraschend – soweit ich sehe – ein Hinweis auf die Fortwirkung der damaligen korporativen Gesetzgebung auf die neue Zivilrechtskodifikation im Jahre 1942. Ein solcher Einfluss gab immerhin Anlass nach dem Zweiten Weltkrieg, lange in Italien darüber zu streiten, ob eine „Bereinigung“ der Kodifikation nicht erforderlich sei. Es wäre vielleicht interessant gewesen, hier insbesondere die Vorarbeiten zum Fünften Buch des neuen Codice civile von 1942, „Dell’impresa“, aus diesem Blickwinkel zu analysieren. Neuere italienische historische und rechtshistorische Literatur zu diesem Punkt existiert bereits. Zusammenfassend liefert die Untersuchung wertvolle Einblicke in die Geschichte der italienischen Arbeits- und Sozialgesetzgebung der 30er Jahre. Sie wird alle Spezialisten der italienischen Rechts- und Verfassungsgeschichte sicher interessieren.

 

Saarbrücken                                                                                                  Filippo Ranieri