Reitemeier, Arnd, Pfarrkirchen in der Stadt des späten Mittelalters: Politik, Wirtschaft und Verwaltung (= Vierteljahrschrift für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte Beiheft 177). Steiner, Stuttgart 2005. 722 S. Besprochen von Thomas Vogtherr.

 

Diese Kieler Habilitationsschrift (2002) nimmt sich eines ebenso unübersichtlichen und disparaten wie in der bisherigen Forschung kaum behandelten Themas an: der Frage nach den Finanzen spätmittelalterlicher städtischer Pfarrkirchen, ihrer Verwaltung und ihrer Kontrolle, zumeist durch Gremien, die die städtischen Räte eingesetzt hatten oder die den Räten gegenüber verantwortlich waren. Damit ist gleichzeitig angedeutet, dass es sich nicht ausschließlich um ein rechtshistorisches Themenfeld handelt, in dem sich Reitemeier bewegt, sondern dass so unterschiedliche Bereiche wie die Wirtschaftsgeschichte einschließlich der Geldgeschichte, die Sozialgeschichte einschließlich prosopographischer Erfassungen bis hin zu einzelnen Personen, aber eben auch die Rechtsgeschichte einschließlich der Verfassungsgeschichte der mittelalterlichen Stadt berührt sind.

 

Ein Thema dieser Art ist selbst in einem Buch von wahrlich imposantem Umfang nicht flächendeckend und mit dem Anspruch auf Vollständigkeit zu behandeln. Deswegen hat sich R. klugerweise beschränkt: Die mittelalterlichen Kirchenrechnungen von St. Willibrord in Wesel – nahezu vollständig für den Zeitraum von 1401 bis 1519 erhalten – sind vollständig ausgewertet worden. Diejenigen von St. Nikolaus in Wesel, von St. Sebald in Nürnberg, von St. Moriz in Coburg, von St. Martin und Unserer Lieben Frau in Bamberg, von St. Jakob in Rothenburg ob der Tauber, von St. Marien in Bielefeld sowie von Unser Lieben Frau und Hl.-Kreuz in Dresden wurden zum Vergleich hinzugezogen. Darüber hinaus ist gesichtet worden, was an Rechnungseditionen zur Verfügung stand, und das Verzeichnis der ungedruckten Quellen (S. 628-630) weist nach, aus welchen Beständen noch zusätzliche Informationen bezogen wurden. Hinzuweisen ist an dieser Stelle auch auf eine alphabetisch geordnete Liste archivalischer Nachweise von einschlägigen Rechnungsbüchern, die immerhin 113 Positionen nennt und ebenso als Ausgangspunkt weiterer Lokalforschung wie als quellenkundlich verwertbares Repertorium noch ihre Qualitäten erweisen dürfte (S. 697-705).

 

In der durchweg systematisch angelegten Arbeit geht es zunächst um die Rechnungsbücher als historische Quellen (S. 33-88), um die Fragen nach Vollständigkeit und Aussagefähigkeit der Rechnungen, nach ihrer Kontrolle durch den Rat und nach der Überlieferung in den städtischen Archiven. So spröde dieses Kapitel daherkommt, so sehr zeigt es doch, wie intensiv die Forschung der vergangenen Jahrzehnte sich diesen Themen zugewandt hat, ohne sie indes wirklich zusammenfassend und überblicksartig zu beantworten. Reitemeier kommt durch den Blick auf die überlieferte Fülle dieser Quellengattung einen guten Schritt weiter.

 

Was die Kirchenfabrik in der mittelalterlichen Stadt gewesen sei, ist die Leitfrage des zweiten Kapitels (S. 89-158), das sich mit der Stellung dieser Körperschaft zur weltlichen und geistlichen Obrigkeit beschäftigt. Natürlich war der Erhalt des Kirchenbaus selber der wesentliche Daseinszweck der fabrica ecclesiae, aber das dritte Kapitel (S. 159-218) belehrt den Leser auch, dass selbstverständlich alle anderen Immobilien der Pfarrkirche ebenso der Verwaltung durch die Kirchenfabrik unterlagen, bis hin zu Brücken und – erstaunlich! – Deichen. Über die äußere Hülle der Kirche hinaus oblag der Kirchenfabrik auch die Sorge um die Ausstattung (S. 219-310), von den Altären bis zu Handschriften. Die Beschaffung von liturgisch notwendigen Materialien wie Wachs oder Weihrauch, die Ausstattung von Prozessionen und Messen brachte die Kirchenfabrik in die Situation, unmittelbar an den Formen spätmittelalterlicher Frömmigkeit beteiligt zu werden (S. 311-393).

 

Diese Aufgabenkreise zu schildern und durch zahlreiche, übrigens bei aller Varianz im Detail dennoch erstaunlich gleichartige Hinweise aus den sorgsam durchgearbeiteten Quellen zu ergänzen, ist an sich ein wesentlich über die bisherige Forschung hinausführendes Ergebnis. R. freilich lässt noch zwei weitere Kapitel folgen, die „Wirtschaft und Finanzen der Kirchenfabrik“ (S. 395-521) sowie „Administration und Personal der Kirchenfabrik“ (S. 523-603) zum Gegenstand haben. Einnahmen und Ausgaben werden charakterisiert und systematisch analysiert. Ein Abschnitt über die Zahlungsmoral (S. 505-515) lässt u. a. erkennen, dass unregelmäßige oder verzögerte Zahlungen öffentlicher Auftraggeber an Handwerker schon ein mittelalterliches Phänomen sind.

 

Die Arbeit Reitemeiers geht von wirtschaftsgeschichtlich einschlägigen Quellen aus, deren intensive Untersuchung bis in Bereiche der Sozialgeschichte und der Rechtsgeschichte hinein ausgreift. Der Kern aber bleibt die Behandlung wirtschaftlicher Fragen. Deswegen werden so unterschiedliche Bereiche wie die Frage nach der Kirchenherrschaft durch den Rat, nach den Patronaten des Rates, nach dem Verhältnis der Kirchenrechnungen zu den Ratsrechnungen wohl angeschnitten, aber nicht weiter verfolgt. Es hieße, zu viel von einem einzigen Buch zu erwarten, dies als Lücke zu bezeichnen. Deswegen soll nur angedeutet werden, dass vieles noch zu tun bleibt, um die Rolle der Pfarrkirchen innerhalb der spätmittelalterlichen Städte umfassend zu beschreiben. Dass Reitemeier dafür einen Meilenstein jenseits der Landmarken der bisherigen Forschung gesetzt hat, sei ausdrücklich hervorgehoben.

 

Osnabrück                                                                                                            Thomas Vogtherr