PaulyReißfichte20060927 Nr. 11729 ZRG GA 124 (2007) 51

 

 

Reiß, Stefan, Fichtes „Reden an die deutsche Nation“ oder Vom Ich zum Wir (= Politische Ideen 19). Akademie Verlag, Berlin 2006. 239 S. Besprochen von Walter Pauly.

 

Die bei Herfried Münkler in Berlin entstandene Dissertation folgt dem Trend der neueren Forschung, Fichtes vom Dezember 1807 bis März 1808 sonntags im Rundsaal der Preußischen Akademie der Wissenschaft zu Berlin gehaltene Reden nicht mehr einseitig als Begründung einer nationalistischen „Deutschtumsphilosophie“ (H. Lübbe) aufzufassen, sondern der Heterogenität dieser politischen Rhetorik entsprechend als Amalgam humanitärer, kosmopolitischer und nationaler Ideen (S. 167f.). Seit Frankreichs Sieg über Preußen 1806 kann Fichte als der „eigentliche Philosoph der Napoleon-Feindschaft“ (C. Schmitt) gelten, der dem Expansionismus des beutesuchenden „Geiers“ (S. 107) im Rahmen der zeitgenössisch verbreiteten „Lehrmeisterthese“ einen insbesondere auf die Vortrefflichkeit der deutschen Sprache gegründeten deutschen „Superioritätsanspruch“ entgegensetzte (S. 152). Die in den Reden entwickelte Sprachtheorie betont den Zusammenhang von Denken und Sprache, von nationaler Identität und sprachlich-kulturellem Kontext (S. 125). Beide ursprünglich ein germanischer Stamm, hätten die Deutschen ihre natürliche Ursprache und damit Ehre, Einfalt und das Lebendig-Schöpferische behalten, während die Franzosen mit Annahme einer fremden Sprache künstlich und oberflächlich geworden wären. Um das auch in dem nach Frankreich schielenden Deutschland verschüttete „Deutsche“ wiederzubeleben, schlägt Fichte eine „Deutschwerdung“ im Zuge einer Nationalerziehung vor, die für Knaben wie Mädchen in Form von Internaten pflichtig gemacht werden solle. Dabei versteht Fichte die deutsche Nation als offen für jeden, der an Geistigkeit und Freiheit glaube (S. 160), und zielt mit seinem Erziehungsprogramm auf eine Gesellschaftsordnung, wie sie das Vernunftgesetz vorschreibe (S. 205). Dass der polyvalente Charakter dieses Nationaldiskurses eine disparate Rezeptionsgeschichte erfahren sollte, vermag kaum zu verwundern. Die Leistung der vorliegenden Studie liegt nicht nur darin, Fichtes Programm sorgfältig zu entfalten, in die zeitgenössische Diskussionslandschaft einzubetten und die unterschiedliche Aufnahme wie Instrumentalisierung seiner Lehren nachzuzeichnen. Verdienstvoll werden auch die tiefgreifenden Umstellungen herausgearbeitet, die die „Reden an die deutsche Nation“ in Fichtes Rechts- und Staatsphilosophie vornehmen.

 

Hatte Fichte in seinem im Winter 1804/05 gehaltenen Vorlesungszyklus „Grundzüge des gegenwärtigen Zeitalters“ die Gegenwart noch dem durch das erwachende Freiheitsbewusstsein gekennzeichneten Zeitalter der „vollendeten Sündhaftigkeit“ zugerechnet, proklamiert er in den „Reden“ eine Zeitenwende, in der auf die Zerstörung des „Reichs der Selbstsucht“ durch fremde Gewalt die verheißungsvolle Welt der nationalen Einheit folge (S. 25ff.). Mit dem Ruin der preußischen Staatsmaschine verabschiedet Fichte die juridische Staatskonzeption zugunsten eines politischen Denkens auf nationaler Grundlage, das sich dem Volksbegriff und den identifikatorischen Aspekten eines erwachenden Wir-Gefühls zuwendet (S. 112ff.). Das auf Herrschaft, bürgerliche Gesetzgebung und Verfassung abgestellte Modell eines Zwangsstaates zum Ausgleich individueller Interessen wird abgelöst durch den auf Begeisterung, Hingabe, Entschluss und Tat ausgehenden und auf interpersonale Sittlichkeit aufbauenden Nationbegriff (S. 104ff.). Noch im Banne des von ihm geschätzten untergegangenen Alten Reichs liefert der Reichsgedanke bei Fichte die politische Form für die deutsche Nation, wobei er eine föderative Struktur nicht zuletzt wohl auch deswegen präferiert, weil er doch selbst im Atheismusstreit durch die Umsiedlung von Jena nach Berlin ihre Vorteile kennengelernt hatte (S. 158ff.). Insgesamt verleiht die Untersuchung den aus Verletztheit durch nationale Überhöhung menschheitsgeschichtlich ins Universale strebenden „Reden“ Hintergrund und Plastizität, ohne deren Zutun sie kaum mehr adäquat verstanden werden können. Nicht geschildert wird allerdings der Fortgang der Theorieentwicklung in Fichtes offenbarungsgeschichtlicher Spätphilosophie, derzufolge die Menschen sich zu „Reichen der Freiheit“ gestalten sollen. Auch hier spielt die Pädagogik eine bedeutsame Rolle, dieses Mal um der Erziehung zur Einsicht willen.

 

Jena                                                                                                                           Walter Pauly