Ollinger, Thomas, Die Entwicklung des Richtervorbehalts im Verhaftungsrecht von den Anfängen der Paulskirchenverfassung (= Schriften zur europäischen Rechts- und Verfassungsgeschichte 22). Duncker & Humblot, Berlin 1997. 425 S. Besprochen von Heinz Müller-Dietz.

 

Die rechtsgeschichtliche Trierer Dissertation knüpft an den Richtervorbehalt im Sinne des Art. 104 Abs. 2 des Grundgesetzes an. Gemeint ist damit die Rechtsgarantie, die dem Richter die vorgängige obligatorische Entscheidung über Verhaftungen vorbehält und in allen Fällen, in denen die Polizei aus Gründen der Eilbedürftigkeit einen Tatverdächtigen vorläufig festnimmt, eine richterliche Überprüfung der Freiheitsentziehung innerhalb von 24 Stunden vorschreibt. In zeitlicher Hinsicht spürt die Studie Thomas Ollingers den Ursprüngen dieser Rechtsgarantie im Mittelalter und in der frühen Neuzeit nach, um dann ihre Entwicklung in West- und Mitteleuropa (England, heutige Beneluxstaaten, Frankreich und Deutschland) bis zur Paulskirchenverfassung von 1848 darzustellen. Dass die Untersuchung schon in dieser zeitlichen und räumlichen Begrenzung ein überaus umfangreiches und differenziertes Arbeitsprogramm aufweist, zeigen die einzelnen Schritte, die der Verfasser im Gang durch die Geschichte von den römisch-rechtlichen Quellen über mittelalterliche Verhaftungsgarantien bis hin zu den Verläufen in den einzelnen Ländern zurücklegt. Dabei wird insgesamt mehrerlei deutlich. Die Entwicklungen verliefen in den Ländern und Regionen schon dank ihrer jeweiligen inneren Verfassung recht unterschiedlich. Mit dem Thema des Richtervorbehalts verbinden sich Fragen nach der Gestaltung des Strafverfahrens im Ganzen ebenso wie nach der Zuständigkeit für Verhaftungsanordnungen und der materiellen Voraussetzungen für Eingriffe in die persönliche Freiheit.

 

Ursprünglich hatte die Entscheidung über Verhaftungen Tatverdächtiger in der Hand des Stadt- oder Landesherrn gelegen. Erst relativ spät, im Zuge der Fortentwicklung des Strafprozesses bis hin zur Ausbildung von Rechtsgarantien zugunsten Betroffener, entstanden Rechtsinstitute, die dem Richter die vorgängige obligatorische Entscheidung über Verhaftungen zuwiesen. Lange Zeit ist die Auffassung vorherrschend gewesen, dass der Ursprung des Richtervorbehalts in der englischen Habeas-Corpus-Akte von 1679 und in der französischen Erklärung der Menschenrechte von 1789 zu suchen sei. Die Schwierigkeiten einer Bestimmung des Entstehungszeitraums liegen nicht zuletzt darin, dass in den west- und mitteleuropäischen Ländern die Entwicklung vom „klassischen“ Akkusationsprozess – der einen privaten Kläger voraussetzte – zu dem von Amts wegen betriebenen Inquisitionsprozess auch hinsichtlich der Ausgestaltung einzelner Rechtsinstitute und Rechtsgarantien unterschiedlich verlaufen ist. Ollinger tritt nun unter Heranziehung geschichtlich wesentlich weiter zurückgreifenden und weitgefächerten Quellenmaterials der bis dato maßgebenden Auffassung entgegen. Nach seinem Befund ist die Entstehungsgeschichte des Rechtsinstituts – oder vielmehr der historischen Entsprechungen zu seiner Gestaltung und Ausgestaltung – vielmehr bereits bis ins Hoch- und Spätmittelalter zurückzudatieren. Dadurch ist die alte Erfahrung wieder bestätigt worden, wie erhellend eine die regional unterschiedlichen Verläufe analysierende, differenzierende Untersuchung ist.

 

Anhaltspunkte und Belege für diese Sichtweise haben ihm deutsche, französische und flandrische Stadtrechte des 14. und 15. Jahrhunderts geliefert. Diese Entwicklung hat anscheinend in der im 13. Jahrhundert allmählich einsetzenden Strafverfolgung von Amts wegen eine ihrer Hauptursachen gehabt, die der Verfasser im Kontext der zivilisationsprozessual bedingten (Elias) „Rekonstituierung des abendländischen Individuums“ (Jerouschek) verortet. Auf verfahrensrechtlichem Gebiet hat sie sich im Geständnis als Ausdruck einer neuen Verknüpfung von Handlung und Schuld manifestiert. Im Rahmen dieser Veränderung der überlieferten Prozessstruktur sind denn auch zwischen dem 13. und 15. Jahrhundert zunehmend Verhaftungsgarantien ausgebildet worden. Sie haben Verhaftungen namentlich an die Zustimmung der Schöffen gebunden. Einen Sonderfall hat insoweit etwa der zwischen den Landständen und Herzog Ulrich von Württemberg ausgehandelte Tübinger Vertrag von 1514 dargestellt, dem – außer anderen prozessualen Garantien – kein eindeutiger Richtervorbehalt zu entnehmen gewesen ist.

 

Die Schöffenvorbehalte haben sich freilich weder in Frankreich noch in Deutschland auf die Dauer zu behaupten vermocht. Aus verschiedenen Gründen, die mit dem Wandel von Staatsverfassung und Prozessgestalt insgesamt zusammenhingen, sind sie, wenngleich zeitverschoben, wieder aus dem Verfahrensrecht verschwunden. In Frankreich etwa hat sich schließlich nach dem spätrömischrechtlichen System der Vereinigung von Strafverfolgung und Urteilsfällung in der Person des Richters zwar der Vorbehalt durchgesetzt; er hat aber eben der Personalunion wegen lediglich einen formellen Schutz gegen willkürliche Verhaftungen geboten. In Flandern hingegen sind die Schöffenvorbehalte vor allem auf Grund der Konflikte zwischen Städten und Landesherrn bestehen geblieben. Sie sind dann sogar 1570 in die Kriminalordonnanzen Philipps II. von Spanien übernommen worden.

 

Während es im England des 17. und 18. Jahrhunderts vor allem darum ging, das Verhaftungsrecht der Krone mehr und mehr einzuschränken, um es schließlich weitgehend abzuschaffen, richteten sich die Reformbestrebungen im Frankreich jener Zeit nicht allein gegen die königliche Prärogative, sondern auch gegen die arbiträre Entscheidungsmacht des Richters, der keiner Kontrolle unterlag. Nahm er doch die Funktionen des Richters, Anklägers und Verteidigers zugleich wahr. Die vorrevolutionäre Entwicklung sowie die in der Revolutionszeit und in der napoleonischen Zeit verwirklichten Reformen führten zwar letztlich zur Abschaffung der exekutiven Verhaftungspraxis – die sich im Wege der sog. „lettres de cachet“ eingebürgert hatte – und des ihnen zugrunde liegenden Prinzips der „justice retenue“ des Königs. Doch war der Richtervorbehalt bis hin zum „code d’instruction criminelle“ von 1808 nur unvollkommen geregelt.

 

Wiederum anders verlief die Entwicklung des Strafverfahrens(rechts) und insbesondere der Verhaftungsgarantien in England. Im Mittelalter galt der König zwar als „Quelle allen Rechts“, war aber doch an die Gesetze des Landes gebunden. Schon im 13. Jahrhundert wurde seine Prärogative mit der Begründung in Zweifel gezogen, dass England – im Unterschied zu Frankreich – keine absolute Monarchie sei. Zwischen dem königlichen Anspruch, ohne gerichtliche Beschränkung und Kontrolle verhaften zu lassen, und den common-law-Richtern bahnte sich deshalb ein Konflikt an, der im 17. Jahrhundert mit der Niederlage der Krone endete. Im Habeas-Corpus-Act von 1679 wurde – ganz im Sinne des nunmehr verwirklichten Systems der Gewaltenverschränkung (mixed government) – bestimmt, dass Verhaftungsanordnungen schlechthin richterlicher Kontrolle unterzogen werden konnten. Freilich stellte diese Regelung keinen Richtervorbehalt im strengen Sinne dar, ging doch die Überprüfung weder der Verhaftung voraus noch war sie obligatorisch. Umstritten blieben nicht zuletzt gewisse Eingriffsbefugnisse, insbesondere Verhaftungsrechte, der Exekutive. Erst im Gefolge weiterer Auseinandersetzungen zwischen Parlament und Krone wurden Blankohaft- und Eingriffsanordnungen (general warrants) der Exekutive mit der Begründung abgeschafft, dass der Erlass von warrants eine richterliche Aufgabe sei.

 

Die Entwicklung in Amerika fand insoweit unter der ganz anderen Fragestellung statt, ob das seit 1767 bestehende Parlamentsgesetz überhaupt verfassungsgemäß sei, weil es die Freiheit der Person zu sehr beeinträchtige. Garantien gegen willkürliche Eingriffe in die persönliche Freiheit fanden schließlich in die Virginia Bill of Rights von 1776 und in den Vierten Zusatzartikel (amendment) zur Verfassung der Vereinigten Staaten von 1791 Eingang. Sie stellten freilich nur materielle Präzisierungen der Eingriffsvoraussetzungen dar. Doch wurden sie von Anbeginn an im Sinne des Richtervorbehalts verstanden.

 

Demgegenüber verlief die Entwicklung der Verhaftungsgarantien in den Niederlanden und in Belgien im 17. und 18. Jahrhundert weitgehend anders. In den Niederlanden war – dank der faktisch weitergeltenden Kriminalordonnanzen Philipps II. von 1570 – ein allerdings durch Ausnahmen eingeschränkter Richtervorbehalt anerkannt, der für Verhaftungen eine richterliche Kontrolle innerhalb von 24 Stunden vorsah und ein Verhaftungsrecht der Exekutive ausschloss. Damit ging die niederländische Rechtsentwicklung – der eigenen Rechtstradition folgend – wesentlich über die französische hinaus. Dies traf auch auf die belgische Verfassung von 1831 zu – auch wenn sie letztlich hinter der niederländischen von 1815 zurückblieb. Zwar setzte ihr zufolge eine Verhaftung einen vorgängigen richterlichen Haftbefehl voraus, doch sah sie für den Fall des Ergreifens auf frischer Tat keine richterliche Kontrolle vor.

 

Im Zeitalter des Absolutismus kamen auch in Deutschland – wenngleich in deutlich geringerem Maße – Verhaftungen auf Veranlassung des Herrschers vor. Kritik gegen diese Praxis regte sich erst relativ spät. Der Rechtsschutz durch Reichsgerichte (Reichshofrat und Reichskammergericht) gegen willkürliche Verhaftungen erwies sich als wenig effektiv. Der Verfasser veranschaulicht die einschlägige Entwicklung namentlich anhand von Württemberg und Preußen. Einer der spektakulärsten Fälle willkürlicher Verhaftungspraxis betraf den Schriftsteller Friedrich Christian Daniel Schubart (1739-1791), der auf Veranlassung Herzog Karl Eugens von 1777 an zehn Jahre lang ohne gerichtliche Untersuchung auf dem Hohenasperg inhaftiert wurde. Auch in Preußen kam es – noch unter der Geltung des Allgemeinen Landrechts – zu solchen, wenn auch gerichtlich sanktionierten „Machtsprüchen“ des Königs (so z. B. im Fall des Kriegs- und Domänenrates Josef Zerboni).

 

In der Zeit von 1790 an wurden zwar verschiedene Verfassungsentwürfe mit verhaftungsrechtlichen Richtervorbehalten ausgestattet; doch traten sie nicht in Kraft. Einschlägige Garantien kannten zwar auch vormärzliche Verfassungen deutscher Staaten; ihnen kam indessen eher programmatischer Charakter zu, solange sie nicht Eingang in Prozessordnungen fanden. Soweit deren Regelungen die Zuständigkeit des Richters für Verhaftungen vorschrieben, wurden sie vor allem in Preußen – namentlich in der Ära der Demagogenverfolgungen – durch gesetzwidrige polizeiliche Verhaftungen unterlaufen. Erst die Paulskirchenverfassung sollte darauf angelegt sein, der bisherigen „Polizei- und Administrativ-Willkür“ (Wigard) ein Ende zu bereiten und dem Richtervorbehalt zum Durchbruch zu verhelfen.

 

Die materialreiche und instruktive Studie vermag nicht nur gängige rechtsgeschichtliche Annahmen zur Entstehung des Richtervorbehalts zu korrigieren. Sie zeigt auch einmal mehr an dieser Entwicklungsgeschichte die engen Zusammenhänge zwischen Staatsverfassung und Prozessstruktur einerseits sowie zwischen Verfahrensgestaltung und Rechtsgarantien andererseits auf. Insofern stellt sie einen gewichtigen Beitrag sowohl zur Verfassungsgeschichte als auch zur Geschichte des Strafprozessrechts dar.

 

Saarbrücken                                                                                       Heinz Müller-Dietz