Oestmann, Peter, Rechtsvielfalt vor Gericht. Rechtsanwendung und Partikularrecht im Alten Reich (= Rechtsprechung Materialien und Studien 18). Klostermann, Frankfurt am Main 2002. XVI, 728 S.

 

Das Buch, die Frankfurter Habilitationsschrift Oestmanns, unternimmt es, die vornehmlich von Siegfried Brie und Wolfgang Wiegand erforschte gemeinrechtliche Rechtsanwendungsdoktrin mit der einschlägigen Prozesspraxis zu konfrontieren. Als Material dienen vornehmlich 97 Prozesse des Reichskammergerichts, die in den Jahren zwischen 1495 und 1806 aus Lübeck und Frankfurt am Main an das Reichsgericht gelangten. Die Auswahl ist gut getroffen. Die Tätigkeit des Höchstgerichts als Appellationsinstanz und die erstinstanzliche Prozessführung im Rahmen der beiden unterschiedlich gestalteten, doch vergleichsweise gut erforschten Stadtrechte versprechen optimalen Erkenntnisgewinn. Darauf, dass die Auswahl möglicherweise Besonderheiten weiträumiger Landrechtsadministration vernachlässigt, weist der Verfasser selbst hin. Man kann eben nicht alles auf einmal haben. Auch die 97 Prozessakten mussten im Hinblick auf ihre potentielle Aussagekraft für das Thema aus rund 2400 Reichskammergerichtsakten ausgewählt werden.

 

Der untersuchte Gegenstand hat deshalb besonderes Gewicht, weil die wichtigsten Aussagen der gemeinrechtlichen Rechtsanwendungslehre den Schluss nahe legen, dass im Zuge der Rezeption schon allein dieser Lehre wegen einheimische Rechtsgewohnheiten massiv durch die Anwendung römischen Rechts verdrängt worden seien. Dieser Schluss ist denn auch vielfach gezogen worden, indem man unterschwellig die Vorstellung nährte, die mit gelehrten Juristen besetzten Gerichte hätten die Lehren von der Geltungsvermutung (fundata intentio) zugunsten des römischen Rechts sowie der Vorbringens- und Beweisbedürftigkeit des partikularen Rechts, also dessen prozessuale Behandlung als factum, strikt und auf die Dauer von rund 300 Jahren hin ungeschmälert umgesetzt. Dabei waren die normativen Grundlagen der Rechtsanwendung nur bis zur Mitte des 16. Jahrhunderts und die gerichtliche Praxis gar nicht erforscht.

 

Die Arbeit ist nach einer Einleitung in fünf Hauptteile gegliedert, denen eine Zusammenfassung und Explikation der Ergebnisse folgt. Der erste Hauptteil dient dazu, die „Brüchigkeit des gemeinrechtlichen Rechtsquellen- und -anwendungssystems“ darzulegen (S. 23-45). Die hier erfolgende Demontage der gemeinrechtlichen Rechtsanwendungsdoktrin angesichts ihrer „mehrfachen logischen Unzulänglichkeiten, terminologischen Unschärfen und ungeklärter Detailprobleme“ (S. 39) ist zwar als Einstimmung auf die Forschungsaussagen der Arbeit tauglich. Sie war aber in dieser Form durch die Aufgabenstellung nicht angezeigt. Ich hätte sie lieber eingebettet in die Ergebnisse der Praxisbetrachtungen gelesen. Mit ihnen harmonieren sie, soweit es um die terminologischen Schwierigkeiten mit Beweis und Allegation, mit consuetudo und statutum, also um die Unmöglichkeit einer scharfen Trennung von Statutar- und Gewohnheitsrecht geht. Dagegen vermag der Auftakt des ersten Hauptteils mit der Darlegung eines „von den Zeitgenossen unbemerkten“ Zirkelschlusses (S. 27) in der Rechtsanwendungsdoktrin inhaltlich nicht zu überzeugen. Die sich an das vom lübischen Kommentator Joachim Lucas Stein 1738 formulierte Verständnis der rechtlichen Gewohnheit anschließenden Überlegungen wirken wegen eines Übermaßes an Scharfsinn angestrengt. Stein repräsentiert nicht, wie Oestmann ja sieht, die deutsche Gewohnheitsrechtslehre zwischen 1495 und 1806, sondern eine „absolutistisch“ verengte Vorstellung von Rechtsbildung. Soweit eine solche Lehre Auswirkungen in der Prozesspraxis hatte, sind diese selbstverständlich beachtlich. Wenig Sinn aber hat das Ausmalen der theoretischen Konsequenzen einer derartigen Fehlkonzeption. Und der Hinweis auf eine nicht hinterfragte Bemerkung Max Webers macht die Sache nicht besser.

 

Volle Zustimmung verdienen die (im Grund schon auf S. 40 unten beginnenden) Ausführungen zur Unangemessenheit der Übertragung einer in Italien unter den Bedingungen des gelehrten gemeinen Rechts entstandenen „Statutenlehre“ auf das nördlich der Alpen in je begrenzten Rechtskreisen und -familien autonom gebildete ungelehrte Recht. In dieser umgestaltenden „Zumutung“, in den unpassenden und bei ihrer „Anwendung“ auf einheimisches Recht offensichtlich auch nicht an Klarheit gewinnenden Kategorien steckt der Kern des von Oestmann erforschten Problemzusammenhangs. Soweit allerdings (S. 43f., 670) der Eindruck entsteht, die terminologischen Schwierigkeiten der gemeinrechtlichen Lehre führten notwendigerweise zu einem bestimmten Aufbau der Untersuchung, überzeugt dies nicht. Stellt man die eingeschränkte Leistungsfähigkeit der Begriffe hinreichend in Rechnung, so lässt sich das Denkmodell sehr wohl an der Rechtswirklichkeit messen. Letztlich tut Oestmann im Rahmen der von ihm gewählten Gliederung auch nichts anderes. So wäre etwa eine nach Problemfeldern gliedernde und innerhalb dieser Entwicklungsabschnitte stärker akzentuierende Darstellungsweise denkbar. Um die Mitte des 17. Jahrhunderts scheinen einschlägige Veränderungen im Selbstverständnis der Reichsstände wie auch in einer stärker autoritativ geprägten Rechts- und Gesetzesvorstellung auf. Möglicherweise sind alsbald nach 1555 und im 18. Jahrhundert weitere nennenswerte Akzentverschiebungen erfolgt.

 

Oestmann wählt den Aufbau nach dem Prozessverlauf. Der zweite Hauptteil behandelt Formen und Strategien der Beibringung von Recht durch die Parteien (S. 47-177), der dritte die Reaktion des Prozessgegners auf das beigebrachte Recht (S. 179-261), der vierte Formen der und Anforderungen an die Bestärkung des beigebrachten Rechts (S. 263-430), der fünfte schließlich die Rechtsanwendung durch das Gericht (S. 431-667). Der letzte Hauptteil ist auch nach Oestmanns Ansicht der wichtigste. Nur in ihm geht es um gerichtliche Rechtsanwendung. Freilich ist die Einbeziehung des Parteiverhaltens „sachgerecht“ (S. 670). Schließlich agierten die Parteien mit dem Ziel der Anwendung des von ihnen favorisierten Rechts durch das Gericht. Und ihre Anwälte beachteten argumentativ und strategisch Gesichtspunkte, die – wie sie annahmen – das Gericht bei seiner Entscheidung über das anzuwendende Recht leiteten. Indem sich nun herausstellt, dass die nach den Vorgaben der gelehrten Doktrin zu erwartenden „klassischen“ Konflikte in den Prozessakten keineswegs eine prominente Rolle spielen, weil nämlich in praxi die starren Fronten zwischen ius commune und Partikularrecht unter den verschiedensten der konkreten Entscheidungssituation, der Normenvielfalt und einem weiten richterlichen Anwendungsermessen geschuldeten Gesichtspunkten weithin bedeutungslos wurden, entwickelt die Arbeit einen zweiten Gegenstandsbereich, nämlich den der Prozessführung unter den Bedingungen der Rechtsvielfalt und der Unsicherheit darüber, welches Recht das Gericht anwenden wird. Dieser Gesichtspunkt tritt, nachdem er bereits die Ausführungen der Hauptteile drei bis fünf begleitete, in der Zusammenfassung (S. 669-687) zumindest gleichgewichtig neben die engere Frage nach den Regeln der Rechtsanwendung. Im Titel des Buches schließlich steht die Rechtsvielfalt sogar voran, wobei sie freilich die Fragen der Rechtsanwendung einschließt. Der Untertitel aber vernachlässigt das anwaltliche Vorbringen des Rechts und irritiert mit einem unpräzisen „und Partikularrecht“.

Die Darstellung des Parteiverhaltens in drei der fünf Hauptteile ermöglicht die optimale Auswertung der einschlägigen Prozessakten für zwei einander ergänzende Gegenstandsbereiche. Diese Auswertung ist die eigentliche, die höchst beeindruckende wissenschaftliche Leistung Oestmanns, die ihn zu vielfältigen den bisherigen Forschungsstand überschreitenden und korrigierenden Erkenntnissen führte. Nur er hat bislang in dieser Breite und Intensität mit Prozessakten des Reichskammergerichts gearbeitet, was übrigens schon angesichts seiner Dissertation über die vor diesem Gericht geführten Hexenprozesse gesagt werden konnte. Die großen Verdienste, die sich Oestmann mit seinen als Pionierleistung Maßstäbe setzenden Untersuchungen erworben hat, stehen außer Frage. Der hohe wissenschaftliche Ertrag der Arbeit möge auch anderen Ansporn zu Untersuchungen dieser Art sein, damit eines Tages eine auch der Praxis genügende „Privatrechtsgeschichte der Neuzeit“ vorgelegt werden kann.

 

Die nach Breite und Tiefe optimale Auswertung der Prozessakten hat ihren Preis. Das Buch erfordert, was die „unvermeidlich etwas komplizierten Detailuntersuchungen“ (S. 671) angeht, den optimalen Leser. Er sollte etwas im Prozessrecht bewandert, ausdauernd, konzentriert und hellwach sein, sich auch von gewissen Wiederholungen und dem, was ihm bei erster Lektüre als Wiederholung nur erscheinen mag (siehe den Hinweis S. 291 oben), nicht entmutigen lassen. Die in ihrer hohen Abstraktion und den weittragenden argumentativen Zusammenhängen in der Tat oft komplizierten Detailuntersuchungen können hier nur pauschal gewürdigt werden. Sie erschienen mir durchweg verständlich formuliert, in der Sache überzeugend oder zumindest vertretbar. Zur näheren Auseinandersetzung müsste man ja oft die Prozessakte zur Hand nehmen, zumal deren Inhalte meist nur in Form der die Argumentation unmittelbar tragenden Auszüge mitgeteilt werden (können). Jedenfalls tragen die Detailuntersuchungen die als Ergebnisse formulierten Aussagen. Ein eher technisches Versehen findet sich auf S. 481, wo es in der dritten Zeile von unten doch wohl „dem Appellaten“ statt „dem Appellanten“ heißen muss. Die Wiederholungen und Beinahe-Wiederholungen sind zumindest auch dem Aufbau der Arbeit geschuldet. Nicht selten wird derselbe Prozessstoff mehrfach unter nur wenig veränderter Fragestellung ausgewertet. Vor allem aber zwingt die großzügig am Prozessverlauf orientierte Grobgliederung zur schrittweisen Verdichtung auf konkretere Problemzusammenhänge, die dann wieder in „Ergebnissen“ und in der Zusammenfassung auf den Punkt gebracht werden. Mit welcher Intensität Oestmann sein Quellenmaterial durchdringt, das veranschaulicht schon die Untergliederung der Hauptteile zwei bis fünf (ist gleich den §§ 3-6). Jeder Hauptteil eröffnet mit einer exemplarischen Fallschilderung, beschreibt dann die normengeschichtlichen Ausgangspunkte, schließlich anhand der Akten die “Rechtsanwendungs“-Praxis. Die hierbei ermittelten Einzelbefunde werden anschließend als „Antworten auf die bisherigen Forschungsfragen“ gebündelt und zugespitzt. Die „Forschungsfragen“ ihrerseits sind untergliedert in Betrachtungen zu verschiedenen Rechtsquellentypen, zu möglichen Veränderungen der Praxis unter dem Blickwinkel des Übergangs des Prozesses an eine andere Instanz, zu in der Zeit liegenden Veränderungen und zu Unterschieden zwischen Lübecker und Frankfurter Rechtsstreitigkeiten. Größere Unterpunkte sowie jeder Hauptteil werden mit der Formulierung eines Ergebnisses abgeschlossen. Alle Ergebnisse werden in der Zusammenfassung gebündelt und hinsichtlich ihrer Tragweite expliziert.

 

Die vielen Durchgänge fordern den, der das gesamte Buch liest, zumal etliche Ergebnisse aus mehreren, verstreut liegenden Begründungszusammenhängen hergeleitet, die „Forschungsfragen“ des Öfteren nicht hinreichend zugespitzt vorgetragen und die Ergebnisse kaum je in eine feste, zeitlich und/oder inhaltlich angelegte Abfolge gebracht werden. Die vielen Leser, die künftig nur die „Ergebnisse“ und die Zusammenfassung zur Kenntnis nehmen werden, werden sich leichter tun. Der pflichtbewusste Rezensent mochte sich diese Erleichterung nicht zugestehen. Was zur Folge hatte, dass er seine Bemühungen erst im zweiten Anlauf zum Abschluss bringen konnte.

 

 

Würzburg                                                                                           Jürgen Weitzel