Nachschlagewerk des Reichsgerichts. Gesetzgebung des Deutschen Reichs, hg. v. Schubert, Werner/Glöckner, Hans Peter. Band 1 Kaiserzeit I Haftpflicht-, Börsen-, Versicherungs- und Kriegsnotrecht, Band 2 Kaiserzeit II Gewerblicher Rechtsschutz und Urheberrecht. Lang, Frankfurt am Main. 674, 657 S. Besprochen von Hans-Peter Benöhr.

 

1. Gegenstand der Leitsätze

 

Das „Nachschlagewerk“ diente von Anfang an zum Nachschlagen der Leitsätze so gut wie aller Reichsgerichtsentscheidungen, doch ohne Urteilstenor, Sachverhalt und Gründe, entschieden zwischen 1900 und dem Ende der reichsgerichtlichen Tätigkeit, auffindbar nach den betroffenen Gesetzen, geordnet nach den einzelnen Paragraphen. Gegenstand der jetzigen Edition sind die Leitsätze betreffend privatrechtliche Spezialgesetze: Band 1 zum Haftpflicht-, Börsen-, Versicherungs- und Kriegsnotrecht, Band 2 zum gewerblichen Rechtsschutz und Urheberrecht, also zu Gesetzen, die in der Kaiserzeit erlassen wurden, zu denen die Rechtsprechung aber bis etwa 1944 nachgewiesen wird. Der vorgesehene Band 3 wird die Rechtsprechung u. a. zur Weimarer Verfassung und zum Reichstumultschadengesetz, zum Arbeitsrecht, zum Reichsheimstättengesetz, den Mietgesetzen und zur Pachtschutzordnung, zum Luftverkehrsgesetz und zur Kraftfahrzeugverkehrsordnung, zur Kartellordnung, zum Bankgesetz und zur Vergleichsordnung enthalten. Der vierte Band soll die Rechtsprechung zu den Gesetzen der NS-Zeit umfassen, u. a. zum Gesetz zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums und zum Reichsbeamtengesetz, zum Gesetz zur Ordnung der nationalen Arbeit, zum Reichserbhofgesetz, zu Straßenverkehrsordnung, Patentgesetz und Aktiengesetz, zum Ehegesundheitsgesetz, Reichsbürgergesetz und zur Verordnung zur Ausschaltung der Juden aus dem deutschen Wirtschaftsleben.

 

Nebenbei deuten die Herausgeber einmal die künftige Publikation der Leitsätze zum HGB an und vielleicht meinen sie damit auch weitere handelsrechtliche Spezialgesetze, insbesondere zum Gesellschafts- und Schifffahrtsrecht.

 

Dann blieben vor allem ZPO, GVG und FGG offen, die Aufwertungsrechtsprechung, GBO und ZVG sowie KO und Anfechtungsgesetz.

 

Da bedauerlicherweise nicht sämtliche Teile des vorhandenen Nachschlagewerks ediert werden können, haben die Herausgeber die richtige Entscheidung getroffen, die ausgewählten Teile komplett darzubieten und nicht etwa eine Auswahl der Leitsätze innerhalb eines Teils vorzunehmen.

 

Die Arbeit mit der Edition wird durch die Wiedergabe des jeweiligen Paragraphen-Textes, auf den sich die Leitsätze beziehen, nicht unerheblich vereinfacht.

 

Eine Statistik über die zeitliche Verteilung der Entscheidungen zwischen 1900 und 1944 kann nicht ohne Weiteres erstellt werden.  Der nicht von den Editoren verschuldete Beginn erst mit dem Jahr 1900 macht leider eine Aufarbeitung der kaiserzeitlichen Rechtsprechung (Bismarck, Arbeiterfrage, Große Depression, Hochindustrialisierung) fast unmöglich.

 

Mit dieser Edition setzen Schubert und Glöckner nach mehrjähriger Unterbrechung das im Keip-Verlag, Goldbach, unter demselben Namen, „Nachschlagewerk des Reichsgerichts. Gesetzgebung des Deutschen Reichs“, begonnene Vorhaben fort. Es sei daran erinnert, dass zwischen 1994 und 2001 dort, wie es jetzt heißt, „ein zehnbändiger Zyklus zum Bürgerlichen Gesetzbuch“ erschienen ist; die Bände sind nunmehr bei dem Verlag Keip und von Delft GmbH, Spessartstr. 2, D 63811 Stockstadt zu erhalten. Außerdem hatten Schubert und Glöckner 1998 im Keip-Verlag einen Band zum „preußischen Landesrecht“ an die Öffentlichkeit gebracht.

 

Einzelheiten zum Nachschlagewerk und zu der Edition sind in der früheren Edition nachzulesen[1].

 

2. Edition

 

Art und Qualität der Editionen, an denen Schubert beteiligt ist, sind bekannt: akribisch genaue Wiedergabe der Texte und geradezu kriminalistische Nachweise (etwa zu Publikationen der betroffenen Entscheidungen). Dazu kommen angenehm zu lesende, sorgfältige Einleitungen zur Gesetzesentstehung und Gesetzesanwendung, Angaben zu den Gesetzesautoren und Richtern und Beschreibungen des politischen und wirtschaftlichen Umfelds. Das Ganze wird begleitet von Hinweisen auf neueste Sekundärliteratur, die dann mühelos zur älteren führt. Schubert lässt seine eigenen Forschungen zu vielen der hier relevanten Gebiete jetzt der Edition  zu Gute kommen.

 

Wer bei der historischen oder modern-dogmatischen Arbeit das von Schubert und Glöckner hergestellte Handwerkszeug links liegen lässt, begeht einen Kunstfehler. Die biographischen Notizen füllen die längst gefühlte Lücke, neben die Geschichte der Rechtswissenschaftler die der Rechtspraktiker zu stellen. Die bibliographischen Nachweise ergeben, wie viel, nicht zuletzt in der Form von Doktorarbeiten, zur neuesten Privatrechtsgeschichte bereits erforscht worden ist und wie dringend ein Werk ist, das die vereinzelten Forschungen zusammenfässt und der Öffentlichkeit zu Bewusstsein bringt. Dennoch finden Professoren und Promovenden in den Leitsätzen und in den Einleitungen bequeme Anregungen zu weiteren Dissertationsthemen.

 

Da das Nachschlagewerk Sachverhalte und Gründe kaum erkennen lässt, ersetzt es keine Dogmengeschichte. Die Sammlung der Leitsätze sollte nach dem Willen des Reichsgerichts nur den Schlüssel zum Auffinden der kompletten Entscheidungen bilden. Ohne diesen Schlüssel sind die Entscheidungen nicht zu erschließen, und ohne die Gerichtsentscheidungen, die also in anderen Druckwerken oder in Archiven nachzulesen sind, ist die Geschichte der Gründe, Ziele und Wirkungen der Gesetze nicht zu schreiben.

 

3. Inhalt der Entscheidungen und Gesetze

 

Rechtsprechung, Gesetzgebung und das hier kaum in das Blickfeld tretende Verwaltungshandeln könnte man als Emanationen eines liberalen Interventionsstaates oder eines sozialen Nachwächterstaates bezeichnen. Doch welchen Sinn hätten derartige „Schubladen“? Andere Ziele traten sicherlich hinzu, z. B. die Förderung des wirtschaftlichen Sekundär- und Tertiärsektors, der Schutz der Landwirtschaft oder die Stimulierung des Bevölkerungswachstums. Der Staat bediente sich zu Steuerungszwecken eher des Privatrechts als des Verwaltungsrechts und des Strafrechts (s. den „vierbändigen Zyklus“ zum Straf- und Strafprozessrecht, den Schubert und Glöckner bereits herausgegeben haben). Übrigens kann das Privatrecht, wenn es den Staatszwecken dienstbar gemacht werden soll, nicht als pure Umsetzung des Kant’schen Freiheitsgedanken ausgestaltet werden.

 

Zu oft beschränkt man die Sicht auch auf die Reichsgesetze, ohne zu sehen, dass die Einzelstaaten keineswegs müßig waren und dass auf noch niedrigeren Ebenen die verschiedenartigen Aktivitäten der Städte, Kreise und Gemeinden von weitreichenden Auswirkungen für die Allgemeinheit wie für den einzelnen waren.

 

Damals war das Richterbild nicht weniger umstritten als etwa hier in den Jahren nach 1968. Die Leitsätze machen deutlich, dass die Richter keineswegs so gesetzespositivistisch und wirklichkeitsblind agierten, wie es ihnen, überwiegend durch einzelne Richterkollegen, vorgeworfen wurde.

 

Zitieren wir nur ein einziges, mehrfach bedeutsames Beispiel: „Gefahren, die infolge neuer Verkehrsmittel neu auftauchen, sind nicht schlechthin von einem Unfallversicherungsvertrag ausgeschlossen. So kann, wenn der Versicherte, von einem Motorradfahrer verletzt worden ist, die Gesellschaft sich nicht darauf berufen, dass solche Fahrräder zur Zeit des Vertragsschlusses noch nicht bekannt gewesen seien. Wenn dagegen der Versicherte selbst ein solch neues Verkehrsmittel benutzt und dadurch zu Schaden kommt, so ist von vornherein nicht als Wille der Beteiligten anzusehen, dass auch eine derartige, in den eigenen Handlungen des Versicherten begründete Gefahrerhöhung ohne weiteres mitversichert sein sollte“[2].

 

Die Zahl der Entscheidungen (wiedergespiegelt in der Zahl der Leitsätze und der sie aufnehmenden Seiten) hängt sicherlich auch von dem Umfang des Gesetzes ab. Deswegen nimmt die Rechtsprechung zu der oft unterschätzten, kontinuierlich novellierten Gewerbeordnung über 80 Seiten ein, wird aber noch von den 90 Seiten zum Kriegsnotrecht und dem sogenannten Übergangsrecht (insbesondere auf der Grundlage des Versailler Vertrages) übertroffen. Hinsichtlich beider Rechtskomplexe erweist sich die nur begrenzte Unterscheidungskraft zwischen öffentlichem Recht und Privatrecht. Ein Beispiel für die damalige Regelung in einem Privatrechtsgesetz gegenüber der heutigen Regelung im Grundgesetz bildet das Gesetz über die Haftung des Reichs für seine Beamten von 1910. Übrigens warten im Nachschlagewerk des Reichsgerichts noch mehrere Bände zum „öffentlichen Reichsrecht“ auf die Publikation. Alle diese Bereiche wurden bisher in den Monographien oder den zusammenfassenden Lehrbüchern zur Rechtsgeschichte kaum verzeichnet.

 

Die Spielregeln des Marktes und der Staat als der Schiedsrichter zeigen sich in den 130 Seiten zum Warenzeichenschutz (1894) und den 160 Seiten zu den UWG-Gesetzen von 1896 und 1909. Forschungsintensität und Industrialisierung finden sich in den fast 200 Seiten zum Patentgesetz (1891) wieder.

 

Die Bedeutung von Gesetz und Rechtsprechung für die Lösung fundamentaler Widersprüche tritt in den über 100 Seiten zum Reichshaftpflichtgesetz von 1871 und den sogar 200 Seiten zum Versicherungsvertrag[3] zu Tage. Durch das Reichshaftpflichtgesetz werden die Risiken, die die Industrie- und Transportunternehmen hervorgerufen haben, von den unmittelbar Geschädigten wieder zurückverlagert auf die Schadensverursacher (dazu die berühmten Leitsätze gegen die Eisenbahnlobby[4]), und durch das Versicherungsvertragsgesetz wird die Übermacht bei der Vertragsgestaltung und Vertragsabwicklung beschnitten. Beidemal, ebenso wie im Abzahlungsgesetz von 1894, geht es um Korrektur des heute sogenannten strukturellen Ungleichgewichts unter Wahrung der volkswirtschaftlich unentbehrlichen Leistungen. Einige weitere Seiten sind den Vorläufern der heutigen Arbeitsgerichtsbarkeit, den Gewerbegerichten (Gesetz von 1890) und Kaufmannsgerichten (1904), gewidmet.

 

Die Rechtsprechung setzte den Willen des Gesetzgebers um, gleichzeitig die Wirtschaftsentwicklung  zu fördern und  die von ihr betroffenen Personen zu schützen: Börsengesetze von 1896 und 1908 zur Kapitalmarkt- und Terminmarkt-Entwicklung und zum  Schutz der Anleger[5], Bauforderungssicherungsgesetz von 1909[6] zur Fortsetzung der Urbanisierung unter Schutz der Bauunternehmer, Kraftfahrzeuggesetz von 1909 zwecks Absicherung der industriellen Produktion und Schutz der nicht motorisierten Bevölkerung. Die Gründe für die Ausdehnung der Gesetzgebung gerade am Ende des ersten Jahrzehnts bedürften noch der Aufklärung. Die Relation von Gesetzgebung zu Rechtsprechung ist an Hand der vorliegenden Edition jetzt leichter herzustellen.

 

Die Spezialgesetze neben dem BGB bestätigen den Befund Schmelzeisens für das Verhältnis der Policey-Gesetze zum frühneuzeitlichen ius commune. Es wäre töricht, noch heute die beiden Partien der Rechtsordnung gegeneinander auszuspielen. Es wäre sogar missverständlich, von Ausnahme und Regel zu sprechen. Denn sie sind notwendig zusammengehörende Bestandteile innerhalb der Rechtsordnung, zu denen etwa Sozialversicherung, Verfahrensgesetze, Strafrecht, sonstiges öffentliches Recht und Verfassungsrecht hinzutreten.

 

Berlin                                                                                                             Hans-Peter Benöhr



[1] Nachschlagewerk des Reichsgerichts. Bürgerliches Gesetzbuch, hg. v. Schubert, Werner / Glöckner, Hans Peter, Bd. 1, 1994, Einleitung, S. IX bis XLVIII, und in der Anzeige in ZRG (Germ.) 121 (2004), S. 884 ff.

[2] Nachschlagewerk zit., Bd. 1, S. 491, Urteil von 1907, Kursiv im Original.

[3] U. Wenzel, Deregulierung, Verstaatlichung oder materielle Staatsaufsicht: Die Diskussion um das Versicherungsaufsichtsgesetz von 1901, Steinbach 1990 (zugl. Diss. Frankfurt a. M. 1989).

[4] Benöhr, Die Entscheidung des BGB für das Verschuldensprinzip, TRG 46 (1978), S. 1 ff.

[5] U. Wolter, Termingeschäftsfähigkeit kraft Information, Paderborn 1991.

[6] Benöhr, Das Gesetz als Instrument zur Lösung sozialpolitischer Konflikte, ZRG (Germ.) 95 (1978), 221 ff.