Müller, Ralf C., Franken im Osten. Art, Umfang, Struktur und Dynamik der Migration aus dem lateinischen Westen in das osmanische Reich des 15./16. Jahrhunderts auf der Grundlage von Reiseberichten. Eudora-Verlag, Leipzig 2005. 571 S. Besprochen von Petra Roscheck.

 

Vorliegende Monographie - die Druckfassung der mit dem Förderpreis der Südosteuropa-Gesellschaft ausgezeichneten Leipziger Dissertation aus dem Jahre 2004 – liefert erstmals eine in gleichem Maße die Geschichtswissenschaft, die Orientalistik und die Soziologie ansprechende systematische Analyse von Zeitzeugenberichten auf der Basis einer inzwischen ebenfalls veröffentlichten zehnbändigen Prosopographie von rund 3600 abendländischen Migranten. Ausgewertet wurden dazu 388 Reiseberichte, die zeitlich den Rahmen von 1396 bis 1609/1610 umspannen und geographisch Verfassern aus dem Gebiet des deutsch-römischen Reiches zuzuordnen sind, wobei die niederländischen und burgundischen Territorien keine Berücksichtigung fanden, sehr wohl aber Aussagen zu Migranten, die aus anderen europäischen Ländern stammten, aufgenommen worden sind.

 

Stets im Rückgriff auf die umfangreiche, oftmals reichlich spröde Sekundärliteratur, deren Theorien pointiert vorgestellt und einprägsam resümiert werden, erläutert Müller nach einer anschaulich präsentierten methodologischen und quellenkritischen Einführung und der Darstellung von Erkenntnismöglichkeiten und Erkenntnisgrenzen des beschrittenen Forschungswegs, den soziologischen und kulturhistorischen Hintergrund eines dokumentarisch nicht einfach zu fassenden Phänomens. Begriffsdefinitionen, die großzügig eingestreuten Quellenzitate, zahlreiche Diagramme und Tabellen sowie der Verzicht auf die Benutzung der von allen Nichtspezialisten gefürchteten Fachsprache der Soziologie erleichtern das Einlesen in den zwangsläufig theorielastigen strukturgeschichtlichen Teil. Die eigentlichen Auswertungen führen den Leser anhand von Fallbeispielen aus dem aufgearbeiteten Material in die unterschiedlichen Kategorien der freiwilligen (Reisende, Missionare, Kaufleute, Handwerker, Künstler, Söldner) und unfreiwilligen (Glaubensflüchtlinge und Kriegsgefangene) Migranten ein und vermitteln ihm wiederum dank der Aufnahme direkter Aussagen der Betroffenen ein lebendiges Bild von den Beweggründen, allgemeinen Zeit- und persönlichen Lebensumständen. Einen breiten Raum nehmen auch Untersuchungen zum Renegatentum und zur Sklaverei sowie in einem abschließenden Kapitel Studien zu den Bedingungen und Möglichkeiten der Integration und zur Identitätswahrung ein.

 

Als Ergebnisse hinsichtlich der soziologischen Aspekte verzeichnet Ralf C. Müller die persönlichen Eigenschaften und Ansichten des Migranten, seine wirtschaftliche und gesellschaftliche Unabhängigkeit schon in seiner Heimat sowie auch seine vom Lebensalter her gereifte Persönlichkeit als tragende Rolle, die hohe Assimilierungsfähigkeit der multiethnischen osmanischen Gesellschaft sowie die bewussten Akkulturationsbemühungen des Staates, aber auch die fundamentalistische Strömungen ausgleichende Wirkung der Migration, während er als politisches Fazit festhält, dass eher von Einheit als von Spaltung des eurasischen Kontinents, einer Dominanz von Koexistenz und Kooperation, dem Bestehen einer kulturellen Symbiose entlang der Kontaktzone ausgegangen werden muss, das Osmanische Reich durchaus eine Alternative für Westeuropäer darstellte und der Bruch sich erst im 17. Jahrhundert (i. e. mit dem einsetzenden Niedergang) zu vollziehen begann. „Wie fremd waren sich Orient und Okzident vor einem halben Jahrtausend? Weniger fremd als heute!“ - Dieser Reflexion ist nichts hinzuzufügen.

 

Ralf C. Müllers umfangreiche Abhandlung besticht durch methodisch akribisches Vorgehen ebenso wie durch eine gefällige Darstellung, einen sehr schönen literarischen, einen weiten Bildungshorizont verratenden Stil und eine beeindruckende Bibliographie (S. 501-522, davon eine siebenseitige Auflistung ungedruckter Quellen), für die allein man dem Autor schon dankbar sein müsste, ist grundlegendes Werk, Handbuch und Steinbruch für weitere Studien in einem.

 

Saarbrücken                                                                                                  Petra Roscheck