Köhler, Andreas, Die Sorgerechtsregelungen bei Ehescheidung seit 1945. Scheidungsstrafe und verordnete Gemeinsamkeit (= Rechtshistorische Reihe 328). Lang, Frankfurt am Main 2006. XXII, 286 S. Besprochen von Gerhard Köbler.

 

Die Mutter kriegt das Kind und der Vater zahlt. Diese alte Lebenserfahrung wird von narzisstischen Vätern im Kampf gegen ihre verzweifelt entronnene Ehefrau gern unter Berufung auf ihre Menschenrechte auf den Kopf gestellt. Deswegen verdient eine Untersuchung über die Entwicklung der Sorgerechtsregeln bei Ehescheidung Aufmerksamkeit.

 

Für die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts widmet sich die vom Fakultätsrat der rechtswissenschaftlichen Fakultät der Friedrich-Schiller-Universität Jena angenommene, von Elisabeth Koch betreute Dissertation des Verfassers dieser Fragestellung. Sie geht zutreffend davon aus, dass in (der Bundesrepublik) Deutschland in dieser Zeit sechs Reformen erfolgt sind. Dementsprechend gliedert sie sich in ein einleitendes, sechs untersuchende und ein abschließendes Kapitel.

 

Den Ausgangspunkt bildet in Kapitel 2 das Gesetz Nr. 16 des Alliierten Kontrollrats vom 20. Februar 1946, durch welches das bei Gelegenheit des Anschlusses Österreichs an das Deutsche Reich am 6. Juli 1938 erlassene Ehegesetz von nationalsozialtistischen Gedankengut gereinigt wurde. Dadurch wurde § 81 EheG 1938 mit dem Wortlaut „Ist die Ehe geschieden, so bestimmt das Vormundschaftsgericht, welchem Ehegatten die Sorge für die Person des Kindes zustehen soll. Maßgebend ist, was nach Lage der Verhältnisse dem Wohl des Kindes am besten entspricht. Einem Ehegatten der allein oder überwiegend für schuldig erklärt ist, soll die Sorge nur übertragen werden, wenn dies aus besonderen Gründen dem Wohl des Kindes dient. Vor der Entscheidung sind die geschiedenen Ehegatten zu hören“ geändert in § 74 EheG 1946 mit dem Wortlaut „Ist die Ehe geschieden, so bestimmt das Vormundschaftsgericht, falls eine Einigung der Ehegatten nicht zustande gekommen ist, welchem von ihnen die Sorge für die Person des oder der gemeinschaftlichen Kinder zustehen soll. Ist der Vorschlag innerhalb der Frist nicht vorgelegt worden oder findet er nicht die Billigung des Vormundschaftsgerichts, so hat dasselbe diejenige Regelung zu treffen, die dem wohlverstandenen Interesse des oder der Kinder unter Berücksichtigung der gesamten Verhältnisse am besten entspricht. Einem Ehegatten, der allein oder überwiegend für schuldig erklärt worden ist, soll die Sorge nur übertragen werden, wenn dies aus besonderen Gründen dem Wohl des Kindes oder der Kinder dient.“ Demnach wurde nicht viel abgeändert und betrafen die Neuerungen nur den Zwang zur Anhörung der Eltern und die Möglichkeit eines Elternvorschlags, doch setzte sich in der Rechtsprechung die Vermutung durch, dass der im Scheidungsurteil für nicht schuldig erklärte Elternteil zur Erziehung und Betreuung des Kindes oder der Kinder besser geeignet sei.

 

In dem verhältnismäßig kurzen Kapitel 3 untersucht der Verfasser das Richterrecht zwischen dem 1. April 1953 und dem 30. Juni 1958. Im Ergebnis stellt er fest, dass § 74 EheG 1946 in dieser Zeit wenig Beachtung fand. Eine Auseinandersetzung mit der Alleinsorge, der gemeinsamen Sorge und dem Schuldprinzip sei nicht erfolgt.

 

Danach wendet der Verfasser sich im vierten Kapitel dem Gleichberechtigungsgesetz vom 3. Mai 1957 zu, das zum 1. Juli 1958 in Kraft trat. Danach stärkte dieses Gesetz für den Fall der Scheidung die elterliche Einigung bei der Verteilung der Kinder, wobei das Vormundschaftsgericht von einem gemeinsamen Vorschlag der Eltern nur abweichen durfte, wenn dies zum Wohl des Kindes oder der Kinder erforderlich war. Zugleich schwächte das Gesetz das Schuldprinzip ab, weil das Vormundschaftsgericht nur noch die Alleinschuld eines Ehegatten berücksichtigen durfte und bei Alleinschuld die elterliche Gewalt dem Alleinschuldigen nur aus schwerwiegenden Gründen übertragen konnte.

 

Das fünfte Kapitel betrifft das am 1. Juli 1977 in Kraft getretene erste Eherechtsreformgesetz. Dieses löste das Schuldprinzip im Ehescheidungsrecht und im Scheidungsfolgenrecht durch das Zerrüttungsprinzip ab. Allerdings sollte das Verhalten innerhalb und außerhalb der Ehe bei der Zuteilung der elterlichen Gewalt berücksichtigt werden, womit in gewisser Weise Schuldgesichtspunkte weiterhin galten.

 

Gegenstand des sechsten Kapitels ist das  Sorgerechtsreformgesetz vom 10. Mai 1979, das den Wandel des Verständnisses vom Kind als Objekt elterlicher Fremdbestimmung zum Kind als Grundrechtsträger umsetzen sollte. Danach bestimmt nach Rückführung der Materie in das Bürgerliche Gesetzbuch gemäß § 1671 BGB bei Ehescheidung das Familiengericht, welchem Elternteil die elterliche Sorge für ein gemeinschaftliches Kind zustehen soll, trifft das Gericht die Regelung, die dem Wohl des Kindes am besten entspricht und soll das Gericht von einem übereinstimmenden Vorschlag der Eltern nur abweichen, wenn dies zum Wohle des Kindes erforderlich ist. Das gemeinsame Sorgerecht wird bewusst ausgeschlossen.

 

Im siebenten Kapitel erörtert der Verfasser das Kindschaftsrechtsreformgesetz vom 25. September 1997. Danach kann nach § 1671 – unabhängig von einer Ehescheidung – bei nicht nur vorübergehendem Getrenntleben von gemeinsam sorgeberechtigten Eltern jeder Elternteil beantragen, dass ihm das Familiengericht die elterliche Sorge ganz oder teilweise allein überträgt, muss dies aber nicht. Dem Antrag ist stattzugeben, soweit der andere Elternteil zustimmt und das mindestens vierzehjährige Kind nicht widerspricht oder zu erwarten ist, dass die Aufhebung der gemeinsamen Sorge und die Übertragung auf den Antragsteller dem Wohl des Kindes am besten entspricht, sofern nicht die elterliche Sorge auf Grund anderer Vorschriften abweichend geregelt werden muss.

 

Statistisch hat dies zu erheblichen Veränderungen in den letzten Jahren geführt. Das bei Fehlen eines Antrags einfach fortgeltende gemeinsame Sorgerecht veränderte sich zwischen 1983 und 2002 von 1 Prozent auf 84 Prozent, das Alleinsorgerecht von 99 Prozent auf 16 Prozent. Dieses Ergebnis erzwingt die Rechtsprechung teilweise, indem – zwar die Scheidung nicht mehr bestraft wird, aber – die Rechtsprechung die Eltern zu Konsens verpflichtet bzw. Gemeinsamkeit verordnet.

 

Dem liegt die Vorstellung zu Grunde, dass die Alleinsorge der Verantwortung der Eltern gegenüber den Kindern nicht wirklich gerecht werde. Der Antrag auf Übertragung der Alleinsorge werde von einem Elternteil in der Regel gestellt, weil er mit dem anderen Elternteil nichts mehr zu tun haben wolle. Das sei ein Elterninteresse, das mit den Kindesinteressen nichts zu tun habe und deswegen bei einer Sorgerechtsentscheidung grundsätzlich unberücksichtigt bleiben müsse.

 

Am Ende der Reformen der letzten Jahre zum Kindschaftsrecht stehe, so fasst Andreas Köhler seine sorgfältigen, auf breiter Literaturgrundlage beruhenden und insbesondere die Gesetzgebungsverfahren detailliert nachzeichnenden Darlegungen zusammen, ein Sorgerecht, das dem Stellenwert des Kindes als Träger von Grundrechten gerecht werde. Das Kind sei weder Objekt des Vaters noch der Mutter, sondern selbst Subjekt, dessen Interesse den Interessen von Vater wie Mutter grundsätzlich vorgehe. Das ändert aber nichts daran, dass die Mutter grundsätzlich das Kind kriegt und der Vater zahlt, insbesondere wenn der Vater im Streitfall das Kindeswohl nur benutzt, um sich an der Mutter für deren verzweifeltes Entrinnen zu rächen.

 

Vielleicht ist die Entwicklung aber noch nicht am Ende. 2005 wurden in Deutschland zwar noch rund 688000 Kinder geboren, doch bestand bereits ein Defizit von 144000 Geburten. Möglicherweise wird angesichts des zunehmenden Individualismus beider Partner auch die zwecks Wohles des Kindes verordnete Gemeinsamkeit in absehbarer Zeit tatsächlich weitgehend entbehrlich.

 

Innsbruck                                                                                                       Gerhard Köbler