Kiesow, Rainer Maria, Das Alphabet des Rechts (= Fischer-Taschenbücher 16316). Fischer-Taschenbuch-Verlag Frankfurt am Main 2004. 320 S. Besprochen von Filippo Ranieri.

 

Bei der vorliegenden Arbeit handelt es sich um die von Regina Ogorek betreute Frankfurter rechtshistorische Habilitationsschrift des Verfassers. Bei Rainer Maria Kiesow handelt es sich um einen wissenschaftlichen Mitarbeiter am Frankfurter Max-Planck-Institut, Schüler von Dieter Simon, der bereits mit mehreren, zum Teil recht eigenwilligen Veröffentlichungen aufgetreten ist. Hier sei zunächst seine Frankfurter Dissertation genannt: „Das Naturgesetz des Rechts“, Frankfurt (: Suhrkamp) 1997; aus den vergangenen Jahren seien ferner erwähnt „Das Irrsal hilf“, zusammen mit Giorgio Agamben, Berlin (: Merve) 2004; zusammen mit Dieter Simon, „Auf der Suche nach der verlorenen Wahrheit. Zum Grundlagenstreit in der Geschichtswissenschaft“, Campus Fachbuch 2000. Kürzlich publizierte er, zusammen mit Martin Korte, „EGB. Emotionales Gesetzbuch“, Köln-Wien (: Böhlau) 2005. Der Verfasser scheut nicht die Polemik und dezidierte Ansichten. Man denke etwa nur an seine mehr als kritische Rezension „De quelque façon nul. Ich bin platt. Bernhard Großfelds bunte weite Welt der Rechtsvergleichung“, in Frankfurter Allgemeine Zeitung 1996. Auch das vorliegende Buch kann man wohl als mehr als eigenwillig bezeichnen (siehe dazu die ambivalente, recht kritische Stellungnahme Gerd Roelleckes, „Alphabet des Rechts, rechtswidrig. A.B.C. – so viel Nachtheit tut weh“, in Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 7. 2. 2005, S. 36). Auch in unserem Band verteilt der Verfasser freigiebig offene und verdeckte kritische Anspielungen und Spitzen. So etwa über das Frankfurter Graduiertenkolleg für Rechtsgeschichte, wo niemand Anfang der 90er Jahre etwas mit dem historiographischen Ansatz Michel Foucaults hätte anzufangen wissen (Forschungsansatz, S. 9); ähnlich ebenso zum Frankfurter Policey-Projekt (ebda., S. 13); zuletzt sei die süffisante Kritik zu Jan Schroeder, Recht als Wissenschaft, München 2001 (S. 110-111) erwähnt. Das Buch enthält dankenswerterweise auch ein Namensregister (S. 304-311), so dass jeder der denkbaren Betroffenen gegebenenfalls sorgfältig recherchieren kann, wie er jeweils traktiert wurde. Einiges sei nun aber zunächst zum Anliegen und zum Inhalt des Werkes selbst mitgeteilt.

 

Theoretischer Hintergrund des Verfassers ist die Geschichts- und Wissenschaftsphilosophie des bereits erwähnten Michel Foucault. Ob es sich bei dem genannten französischen Philosophen um einen der „größten Theoretiker der Geschichtswissenschaft“ (so auf S. 7) handelt, mag dahingestellt bleiben. Zweifel sind wohl eher angebracht (siehe nur die knappe halbe Spalte, die ihm in der Enzyklopädie Philosophie und Wissenschaftstheorie, ed. Jürgen Mittelstraß, Bd. 1, 1995 [Nachdruck Stuttgart-Weimar 2004], S. 666, gewidmet wird). Unbestritten hat Foucault durch sein Werk aus dem Jahre 1961 „Folie et déraison. Histoire de la folie à l’âge classique“; deutsch: „Wahnsinn und Gesellschaft. Eine Geschichte des Wahns im Zeitalter der Vernunft, Frankfurt am Main (: Suhrkamp) 1969, einen beträchtlichen Einfluss in den westlichen Sozialwissenschaften der letzten Jahrzehnte ausgestrahlt. Über diesen Forschungsansatz berichtet der Verfasser recht ausführlich in einem ersten Abschnitt „Forschungsansatz“ (S. 7-16). Diese Form von „radikaler Geschichtsschreibung“ oder, wie es Jürgen Habermas einmal genannt hat, „gnadenlosem Historismus“ hat allerdings – hier darf man insoweit dem Verfasser uneingeschränkt Recht geben – keinesfalls viele Freunde und Gefolgsleute in der europäischen Geschichtswissenschaft und umso weniger bei den Rechtshistorikern gefunden. Erkenntnistheoretischer Ausgangspunkt ist bei Foucault und seinen Anhängern der Glaubensverlust an der Möglichkeit von rationaler Kommunikation. Damit verbunden ist insoweit auch der Glaubensverlust an die Möglichkeit einer wissenschaftlichen Kommunikation. Abgelehnt wird deshalb nicht nur die moderne Wissenschaft, sondern auch das Wissen darüber: Sie können nur gesellschaftliche Selbsttäuschungen darstellen. Dieser Diskussionsstrang ordnet sich in die nihilistische Richtung der französischen Strukturalisten und Dekonstruktivisten der Nachkriegsjahrzehnte ein. Der Verfasser bezieht nun das Recht, die Rechtswissenschaft und die historische Reflexion hierüber in diese dekonstruktive Betrachtungsweise ein. Der Zusammenhang zwischen Wissen und Recht sei in der Moderne auseinandergebrochen. Die Glaubwürdigkeit der Rechtserkenntnis sei damit abhanden gekommen. Die Möglichkeit, das Recht insoweit als Einheit zu erfassen und kognitiv zu beherrschen, sei verloren. Den Anknüpfungspunkt für solche Überlegungen stellt für den Verfasser die Literaturgattung der juristischen Enzyklopädien in Frankreich und Deutschland vom 16. bis zum 20. Jahrhundert dar. Diese Literaturgattung sei besonders privilegiert für eine solche Betrachtung, weil sich gerade bei solchen Werken die Vorstellung, dass Recht etwas mit Wissen zu tun haben könnte, besonders konkretisiert hat. Alle diese Versuche, das Recht als Gesamtheit oder gar in einem System zu erfassen und darzustellen – so die Grundthese des Verfassers – seien in der Moderne gescheitert. Gerade diesen Versuchen, das Recht als Einheit zu erfassen und zu präsentieren, gilt nun das Hauptanliegen der vorliegenden Habilitationsschrift. Zu dieser Literaturgattung von juristischen Enzyklopädien existieren in der Tat bereits Untersuchungen. Zu erwähnen sind insbesondere die Beiträge von Arno Buschmann, Enzyklopädie und Jurisprudenz, in: Archiv für Kulturgeschichte 51 (1969), S. 296ff. sowie von demselben, Rechtsenzyklopädie, in: Handwörterbuch zur deutschen Rechtsgeschichte, Bd. 4, Berlin 1990, Sp. 284ff.; erwähnt sei noch Heinz Mohnhaupt, Recht, Natur und Geschichte als Argument. Quelle und Autorität in deutschen Rechtsenzyklopädien des 18. und frühen 19. Jahrhunderts, in: ders./Jean-François Kervégan (Hrsg.), Recht zwischen Natur und Geschichte, Frankfurt am Main 1997, S. 73ff.; ein spezifisches Kapitel darüber war übrigens im nie erschienenen Band zum 18. Jahrhundert des Coing’schen Handbuchs der Quellen und Literatur der neueren Europäischen Privatrechtsgeschichte vorgesehen.

 

An die zitierte rechtshistorische Literatur knüpft der Verfasser jedoch nicht an. Das oben skizzierte theoretische Anliegen steht für ihn ganz im Vordergrund. Darstellerisch ein solches wissenschaftliches Projekt zu verwirklichen, war in der Tat nicht einfach. Nach Ansicht des Rezensenten, um dies vorweg festzuhalten, ist der Verfasser gerade an dieser schwierigen darstellerischen Aufgabe gescheitert. Es hätte sich möglicherweise eine chronologische Stoffpräsentation empfohlen. Wie Gerd Roellecke in der bereits erwähnten Rezension schon bemerkt hat, erörtert Kiesow eine solche chronologische Darstellungsmöglichkeit überhaupt nicht. Er glaubt offensichtlich nicht mehr an eine solche Möglichkeit. „Ihm kommt es offenbar darauf an“ – bemerkt Roellecke zutreffend – „den Gedanken einer systematischen Ordnung des Rechts schlechthin zu destruieren“. Deshalb bleibt als Ordnung der Darstellung nur übrig, eine solche zu wählen, die die Möglichkeit einer systematischen Ordnung schlechterdings verneint, eine alphabetische. Das Buch zeichnet sich in der Tat durch den Einfall aus, keine systematische geschlossene Darstellung anzubieten, sondern nur eine Vielzahl von längeren oder auch recht kurzen Textabschnitten jeweils in alphabetischer Einordnung, aneinanderzureihen. Die historische Analyse der Versuche, dem Recht eine systematisch geordnete, vollständige Darstellung zu geben, wird im „Alphabet des Rechts“ in fünfundzwanzig alphabetisch aufgelisteten Kurzessays dargestellt (siehe Inhalt, S. 314-320). Hier eine exemplarische Auslese: Aufbruch (S. 21ff.), Fabrik (S. 106ff.), Gargantua (S. 113ff.), Irrsal (S. 134ff.), K. (S. 157ff.), Tanz (S. 246ff.), XY (S. 279ff.) usw. Erst ein Inhaltsverzeichnis und vor allem ein Index der Begriffe und Themen (S. 291-303) ermöglichen es dem Leser, sich einigermaßen in dieser anthologischen Sammlung von Textfragmenten zurechtzufinden. Einen solchen Einfall, welcher zugleich offenbar die Möglichkeit einer monographischen wissenschaftlichen Darstellung überhaupt verneinen soll, empfindet der Rezensent überhaupt nicht als geglückt und eher als eine Zumutung für den Leser. Damit kann der Verfasser übrigens Wiederholungen, Ungereimheiten, zum Teil auch Widersprüche, nicht voll vermeiden. Das Ganze passt allerdings durchaus in die provokatorischen Absichten, die dem ganzen Werk offenbar zugrunde liegen. Als ebenso wenig geglückten Einfall empfindet der Rezensent die Umbenennung von Fußnoten in „Accessoires“, wobei es sich nicht um bibliographische Nachweise handelt, sondern um kurze Literaturberichte, in denen der Verfasser bibliographische Nachweise, versehen mit Kommentierungen und sonstigen kritischen Urteilen, zusammensetzt. Gelegentlich gewinnt der Leser den Eindruck, dass hier eher ein unvollendeter Zettelkasten ausgebreitet wird. Die bibliographischen Hinweise scheinen dem Rezensenten übrigens weder vollständig noch in den Bewertungen angemessen zu sein. Gelegentlich gewinnt der Leser den Eindruck, dass vor allem Frankfurter Autoren bevorzugt zitiert werden. Dasselbe gilt für manche vernichtenden Bemerkungen zu zeitgenössischen Kollegen und deren Werken. So etwa zu den Forschungen über die gemeinrechtliche Wissenschaft (S. 150): „Hier verschwanden die großen Bibliotheken des Rechts durch einen Federstrich des Gesetzgebers und wurden zu Makulatur. Oder weit nach Savigny und Kirchmann wieder retrogewandt die Juscommunalen, die von einem auf dem alten augusteischen Europa basierenden neuvereinten Rechtseuropa träumen und entsprechend die nunmehr zweihundert Jahre dauernde Balkanisierung des Rechts, also die nationalstaatlichen Gesetzgebungen, bekämpfen“. Oder zur selben Thematik (S. 59): „Zum Mythos eines neuzeitlichen paneuropäischen Rechtssystems in Form eines Ius commune und zu den historiographischen Phantasien einer darauf beruhenden europäischen Rechtsgeschichte siehe Douglas J. Ostler, A Myth of European Legal History, in: Rechtshistorisches Journal 1997, S. 393ff.; siehe ebenso die Belustigungen zu den heutigen Rechtshistorikern (S. 284-285). Die einzelnen Textabschnitte haben eine unterschiedliche Länge. Zum Teil handelt es sich um geschlossene Darstellungen von etwa 30 Seiten (etwa das Stichwort „Enzyklopädie“, S. 76-105). Zum Teil handelt es sich um Textfragmente von nicht mehr als eineinhalb Seiten (siehe etwa „XY [sic!], S. 279-280). Nicht immer ist der Verfasser gut informiert. Zu den französischen Rechtsprechungssammlungen und zu den Arretisten des 19. Jahrhunderts gibt es eine immense und einschlägige, nicht nur französische, Literatur, die er offenbar gar nicht berücksichtigt hat (siehe „Dalloz“, S. 62-75). Am Ende der Lektüre bleibt der Leser, und so auch der Rezensent, ratlos. Eine Erklärung für die Form des uns so vorliegenden Bandes ist möglicherweise weit prosaischer als vermutet: Das ursprüngliche Habilitationsprojekt des Verfassers, eine rechtshistorische und rechtstheoretische Monographie über die Rechtsenzyklopädien der Neuzeit zu schreiben, ließ sich offenkundig so nicht verwirklichen; was aus diesem ursprünglichen Anliegen übrig geblieben war, war eine Sammlung von längeren und kürzeren Textfragmenten und ungeordneten bibliographischen Hinweisen. Der Einfall des Verfassers war, dies alles in einer Art alphabetischen Registers zu präsentieren. Insoweit stimmt der Titel des Werkes mit dem Inhalt voll überein. Recht ist als wissenschaftliches Objekt nicht kommunizierbar. Durch die Verkündung dieser Wahrheit wollte sich der Verfasser offenbar auch nicht an der üblichen, seinen wissenschaftstheoretischen Ansprüchen nicht genügenden Erwartungen, welche die von ihm offenkundig verachtete community der Kollegen an eine Monographie stellt, beteiligen. Ob er und seine Mentoren sich damit einen Gefallen getan haben, möge der Leser beurteilen.

 

Saarbrücken                                                                                                  Filippo Ranieri