Kahn, Daniela, Die Steuerung der Wirtschaft durch Recht im Nationalsozialismus. Das Beispiel der Reichsgruppe Industrie (= Studien zur europäischen Rechtsgeschichte 212 = Das Europa der Diktatur 12). Klostermann, Frankfurt am Main 2006. XV, 556 S. Besprochen von Werner Schubert.

 

In der Organisation der gewerblichen Wirtschaft in der NS-Zeit war die Reichsgruppe Industrie (RI) die wichtigste und größte Reichsgruppe im „wirtschaftlichen Zwangsverbändesystem“ (S. 1). Vorläufer der RI war der 1919 gegründete Reichsverband der Deutschen Industrie, der sich Mitte 1933 mit der „Vereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände“ zum Reichsverband der Deutschen Industrie unter Übernahme des Führerprinzips vereinigt hatte (S. 163ff.). Die RI entstand offiziell durch Anordnung des Reichswirtschaftsministers vom 12. 1. 1935 gleichzeitig mit den Hauptgruppen I bis VII (bis 1938) und 31 Wirtschaftsgruppen, die als einzige Vertreter ihres Fachs anerkannt waren. Kahn untersucht am Beispiel der Organisation der RI, wie die Steuerung der Organisation der RI und der Wirtschaft durch das Recht im nationalsozialistischen Deutschland funktioniert hat. Hierbei beschränkt sich Kahn auf die Tätigkeit der dominanten Industriezweige (Schwer- und Rüstungsindustrie) auf der Grundlage der überregionalen und fachübergreifenden Regelungen für die Gesamtwirtschaft. Tonangebend in der RI waren die für die Rüstungswirtschaft besonders wichtigen Branchen der Chemie-, Elektro-, Stahl- und Eisenbranche. Das zweite Kapitel behandelt die Problematik der Wirtschaftsverbände und deren Einfluss auf die Politik und das Wirtschaftsrecht insbesondere in der Weimarer Zeit. Wie Kahn S. 33 feststellt, ist kaum eine Geschichtsepoche so gründlich wie die Zeit der Weimarer Republik von der Industrie beeinflusst worden, deren teilweise Affinitäten zur NSDAP auch schon vor deren Machtübernahme S. 53ff. näher beschrieben werden. In den Kapiteln 3 und 4 geht es um die theoretischen Grundlagen des NS-Wirtschaftssystems und die allgemeinen wirtschaftspolitischen Maßnahmen der NS-Führung in der Anfangsphase des „Dritten Reichs“. Erst jetzt (S. 149ff.) kommt Kahn zum industriellen Verbandswesen in den Jahren 1933-1936, die sie in vier Phasen einteilt: 1. Phase (Januar bis Juli 1933): „Ständischer Neuaufbau, personelle Gleichschaltung“, 2. Phase (Juli 1933 bis Februar 1934): „Reorganisation des Verbandswesens; Führerprinzip und Rationalisierung“, 3. Phase (Ende Februar 1934 bis Ende November 1934): „Aufbaugesetz bis zur Durchführungsverordnung“ und 4. Phase (Ende November 1934 bis 1936): „Endgültige Neuordnung“; Gründung der RI mit fachlichen Untergliederungen und Zwangsmitgliedschaft; Verhältnis zu den Kammern (S. 227ff.). Die in die vier Phasen fallenden wichtigsten Gesetze und Verordnungen werden im Hinblick auf die Lenkungsmaßnahmen des Nationalsozialismus im Einzelnen beschrieben, so das Gesetz über die Treuhänder der Arbeit, die Kartelländerungsverordnung und das Kartellgesetz vom 15. 7. 1933, das Arbeitsordnungsgesetz, an dessen Ausarbeitung der RDI beteiligt war (S. 196ff.), das Gesetz über den vorläufigen Aufbau der Wirtschaft, die Maßnahmen zur Devisen- und Außenhandelszwangswirtschaft sowie die wirtschaftslenkende Gesetzgebung von Ende 1934/35. Der Kartellerlass und der Reformerlass von 1936 übertrugen mit einem ausführlichen Maßnahmenkatalog den Gruppen die Aufsicht über die Kartelle, die de facto weiterhin die Verbände beherrschten (vgl. S. 293ff., 483f.). Die rechtliche Stellung der RI und ihrer Wirtschaftsgruppen war in der NS-Zeit umstritten; jedoch konnte über ihre öffentlichrechtliche Natur kein Zweifel bestehen (S. 237). Sehr aufschlussreich für die Instrumentalisierung der Verbände durch den nationalsozialistischen Staat ist der Abschnitt über die Verfälschung des Begriffs der „Selbstverwaltung“ in der nationalsozialistischen Theorie und in der verbandlichen Praxis (S. 250ff.). Die Frage, ob das Recht als Steuerungsinstrument zur Beeinflussung der Wirtschaft gedient habe, beantwortet Kahn für die Zeit bis 1936 mit einem „klaren Ja“ (S. 267). Es könne sogar behauptet werden, „dass es in den ersten Jahren der NS-Diktatur durch den Einsatz des Rechts zu umwälzenden Veränderungen im industriellen Verbandswesen und in der gesamten Wirtschaft gekommen ist“. Dabei müsse jedoch beachtet werden, dass das Recht maßgebend von den Wirtschaftsführern des Verbandswesens selbst gestaltet wurde, woran diese sich dann allerdings auch gebunden zu fühlen hatten (S. 267).

 

Im Kapitel 7 behandelt Kahn die Phase der expandierenden Kriegsvorbereitung, beginnend mit den Maßnahmen zur Durchführung des Vierjahresplans (VO vom 18. 10. 1936, Gesetz vom 29. 10. 1936; S. 299), der zu einer Radikalisierung der Wirtschaftslenkung führte. In diesem Zusammenhang behandelt Kahn die in einem Erlass des Reichswirtschaftsministeriums enthaltene „Ehrenordnung“ vom 20. 1. 1937, die in die Satzungen der Wirtschaftsverbände zu übernehmen war, und das Aktiengesetz vom 30. 1. 1937, dessen Entstehung nur knapp angesprochen wird (vgl. S. 340f.). Der dritte Hauptteil umfasst die zwei Etappen der Kriegswirtschaft von 1939 bis 1942 unter der Regie von Todt und von 1942 bis 1945 unter Speer. Die Regelungen der Kriegswirtschaft betrafen wie schon vor Kriegsbeginn die Preisgestaltung und die Produktionslenkung: „Das bedeutete für die deutsche Wirtschaft eine staatliche Preispolitik, Produktionsanweisungen, Rohstoffbewirtschaftung mittels Dringlichkeitsregelungen, Investitionslenkung, Arbeitskräftelenkung, Rationalisierungsmaßnahmen“ (S. 387). Allerdings zeigten sich in verschärfter Form auch die Normierungs-, Kompetenz- und Leitungsmängel, die auf die Zeit vor Kriegsbeginn zurückgingen. Speer setzte 1942 zum Zwecke der Zentralisierung der Auftragslenkung sog. Ringe und Ausschüsse der Organisation der industriellen Selbstverwaltung im Rüstungssektor ein (S. 433ff.). Dies führte bis 1944 zu einer Verdreifachung des durchschnittlichen Volumens der Rüstungsproduktion gegenüber 1940/41 (S. 437). Seine Vorstellungen über die Arbeit eines zentralen Planungsamtes konnte Speer jedoch nicht mehr verwirklichen. – In zwei Abschnitten befasst sich Kahn mit dem Stil und der Methode der Wirtschaftsgesetzgebung sowie mit der Wahl der Rechtsformen (S. 355ff., 454ff.). Für den Stil arbeitet sie folgende Charakterisierung heraus: Knappe Formulierung der Normen, überwiegender Verzicht auf Präambeln, zahlreiche neue Definitionen, Arbeiten mit Einzelgesetzen sowie „Verführung der Totalregelungen zur kasuistischen Anwendung“. Für die Methodik der NS-Gesetzgebung waren nach Kahn maßgebend die Normsetzung in der Hand der NS-Regierung, der Verzicht auf die Bewusstmachung strukturändernder Normen, die ideologische und repressive (autoritäre) Handhabung von Generalklauseln, die Staffelung der Gesetzgebung im Wege der Ermächtigung, die ungenügende Ressortabgrenzung der Ministerialämter, die Ermächtigung zu Willkürakten auf der Grundlage von Gesetzen, die ministeriale Strafsanktion und die Unbestimmtheit des Strafmaßes, der Verzicht auf die Veröffentlichung von Rechtsnormen sowie die Sondergesetzgebung. In den Anfängen war die NS-Führung noch darauf bedacht, die Form zu wahren, indem die wichtigsten Regelungen als Gesetz oder Verordnung ergingen. Nach Abschluss der Neuordnung trat zunehmend der Erlass an die Stelle des Gesetzes; weitere Rechtsformen neben der Verordnung waren die Runderlasse, die Richtlinien, die Anordnungen, die Anweisungen und die Verfügungen (S. 369ff.). Die gesetzlichen Grundlagen der Kriegswirtschaft beruhten auf Erlassen (oft verbunden mit Dringlichkeitsregelungen; S. 426ff.). Die übrigen genannten Rechtsformen wurden wahllos verwendet und waren beliebig austauschbar, so dass sich ein „expliziter Formverlust“ in der wirtschaftsrechtlichen Gesetzgebung und deren Enddifferenzierung feststellen lässt (vgl. S. 381). Hinzu kamen der Mangel an Rechtsgarantien, der zu einer Einbruchstelle für die Wirtschaft in das Recht darstellte (S. 470).

 

In der Zusammenfassung (S. 467ff.) ging es Kahn darum, „die spezifisch nationalsozialistischen bzw. totalitären Elemente der Normsetzung und des Wechselspiels zwischen den legitimierten und den nicht legitimierten Normen und der Wirtschaft“ (S. 471) in einer chronologischen Darstellung der Ergebnisse in den behandelten Regelungen herauszustellen, die in Gesetzen, Erlassen, Verordnungen, Richtlinien usw. ergingen. Mit Recht legt Kahn für die Spätzeit des NS-Regimes dar, dass die „Verschwommenheit der Erlasse“ begründete Zweifel daran aufkommen lasse, ob sie noch in die Kategorie Recht einzuordnen seien (S. 460; vgl. auch S. 502, wo Kahn von „einer eklatanten Missachtung allgemeiner Rechts- und Wirtschaftsgrundsätze“ spricht). Die Arbeit wird abgeschlossen mit 38 Kurzbiographien der wichtigsten im Text genannten Persönlichkeiten, jedoch ohne Literaturnachweise. Zu bedauern ist ferner, dass das sehr inhaltsreiche Werk kein Sach- und Personenregister aufweist; auch fehlt ein Quellenverzeichnis der benutzten Archivalien. Insgesamt kam es Kahn weniger auf eine detaillierte Entstehungsgeschichte der jeweiligen Gesetze und Erlasse als vielmehr darauf an, in welcher Weise diese (auch) auf die Interessen insbesondere der Rüstungsindustrie zugeschnitten waren. Das Werk ist also weder eine in sich geschlossene Geschichte der Reichsgruppe Industrie noch eine Gesamtanalyse des NS-Wirtschaftsrechts. Bei der Vielzahl der behandelten Regelungsbereiche kommt allerdings die detailliertere Beschreibung der gegenseitigen Einflussnahme von Wirtschaft und Staat anhand einzelner Beispiele etwas zu kurz. Das Verdienst des Werkes von Kahn ist darin zu sehen, dass sie für die NS-Zeit eine Gesetzgebungs- und Rechtswirkungsgeschichte im Hinblick auf die Organisation der RI und die für sie in Betracht kommenden Regelungsmaterien bringt. Insoweit ist das Werk auch ein wichtiger Beitrag zum Verhältnis der Industrie bzw. des RI als wichtigstem Zwangswirtschaftsverband zum NS-Regime.

 

Kiel

Werner Schubert