Höltl, Johanna, Die Lückenfüllung der klassisch-europäischen Kodifikationen. Zur Analogie im ALR, Code civil und ABGB (= Recht und Kultur 3). LIT, Wien 2005. 245 S. Besprochen von Christian Baldus.

 

1. Gute Bücher zur juristischen Methodengeschichte sind rar, Bücher, die nicht unverständliche Metatheorien darbieten, sondern solide Analysen zu den Kontexten, in denen die Dogmatik früherer Zeiten entstanden ist; über neuere Schriften zur Anwendung und Auswirkung des Code civil freut man sich immer; und das Spannungsfeld von Analogie und Auslegung im 19. Jahrhundert harrt interdisziplinärer und international angelegter Untersuchung. Hier stellen sich Fragen von unmittelbarem Interesse auch für die entstehende europäische Methodenlehre (vgl. jetzt Karl Riesenhuber, Hrsg., Handbuch Europäische Methodenlehre, Berlin 2006): Die mitgliedstaatlichen Methodentraditionen müssen erst noch zusammenwachsen, und das verspricht ein langer Weg zu werden. Das hier anzuzeigende Werk, eine Innsbrucker Dissertation, teilt überdies mit, daß die Autorin außer Jura auch französische Philologie studiert hat. So nimmt der Leser die „Lückenfüllung“ frohgemut zur Hand; doch stellt er alsbald fest, daß dieses Werk auch bei wohlwollender Betrachtung leider keine Lücke schließt.

 

Teil 1 (Rezeption, Naturrecht und Kodifikationsbewegung) trägt einführenden Charakter, kommt aber über einen teils oberflächlichen, teils veralteten Überblick nicht hinaus. Was dort steht, ist dem rechtshistorischen Leser entweder schon bekannt, oder er weiß es besser. Auch diesseits aktueller Debatten zur Rezeption bereitet freilich die Aussage Schmerz, es heiße „in den Digesten Ulpians“ (die Verfasserin meint Ulp. 1. Inst., D. 1,1,1,3): „,Naturrecht ist jenes Recht, das die Natur alle Lebewesen gelehrt hat.’“ Auf diesen nur in Übersetzung beigebrachten, sekundär zitierten Satz folgen in genialischem Zeitsprung eine Aussage zur Hoch- und Spätscholastik und eine zur „jüngeren Naturrechtslehre“ (S. 29). Wenn also Rom einer „älteren Naturrechtslehre“ zuzurechnen sein sollte und der Satz ad fontes keine Geltung mehr hat, dann braucht man natürlich auch die gesamte neuere Sekundärliteratur zum ius naturale nicht zu lesen.

 

Teil 2 behandelt dann „Auslegung und Lückenfüllung“. Hier erwartet man nun eine Einordnung der Methodenlehre in den rechtspolitischen, verfassungsrechtlichen, kulturellen Kontext der Zeit. Diese erfolgt immerhin ansatzweise. Die Verfasserin stellt Auslegung und Analogie für Preußen, Österreich und Frankreich im Überblick dar und referiert einige (zumeist neuere) Rechtsprechung. Was aber die Rahmenbedingungen waren, die zu den unterschiedlichen Entwicklungen führten, erfährt man nicht.

 

Für den ausländischen Leser ist die Darstellung des österreichischen Diskussionsstandes von Interesse; von der Pandektisierung des Allgemeinen Bürgerlichen Gesetzbuchs im 19. Jahrhundert und ihren denkbaren Einflüssen auf die Methodenlehre ist freilich nicht die Rede. Interessant sind auch die „natürlichen Rechtsgrundsätze“ (§ 7 S. 2 ABGB). Erstaunlich ist freilich, wie leicht man zu der Einsicht kommen kann, daß über diese Grundsätze im Kern europaweit Einigkeit bestehe (S. 139f.). Dem scheint freilich nicht fortwirkender aufklärerischer Fortschrittsglaube zugrundezuliegen, ebensowenig eine kritische Historisierung solchen Glaubens. Vielmehr zeigt sich ein eher statisches Bild, eine Vision dem Grundsatz nach bereits vollendeter (Vernunftrechts-) Geschichte: tu felix Austria? Die Verfasserin kompiliert nicht etwa desinteressiert Lehrbuchwissen, sondern will eine These unters Volk bringen; sie gelangt in sozusagen universalhistorischer Absicht zu folgender Kernthese, die einen zentralen Mangel der Dissertation offenbart:

 

„Ein Vergleich mit anderen Rechtsordnungen lässt erkennen, dass sich va in den Mitgliedstaaten der Europäischen Union die allgemeinen Wertprinzipien kaum mehr voneinander unterscheiden. Dies lässt sich dadurch erklären, dass sie alle in der Epoche des Vernunftrechts für die Rechtsprechung an Bedeutung erlangten und somit von dieser Bewegung mehr oder weniger in demselben Ausmaß geprägt wurden. Den Ursprung finden die Prinzipien schon in viel früheren Zeiten: Sie wurden teils aus dem griechischen, teils aus dem römischen Recht überliefert, andere existierten durch ständigen Gebrauch in den einzelnen Landesrechten. All diese Prinzipien wurden jedoch in ein und derselben Epoche zu dem Begriff „allgemeine Grundsätze der Gerechtigkeit“ zusammengefasst. Wenn man heute von Wertprinzipien spricht, meint man nichts anderes als „Grundsätze der Gerechtigkeit“, die jedem Menschen schon durch seine Vernunft einleuchten. Auch wenn sie in verschiedensten Rechtsordnungen fungieren, sind sie trotz geringfügiger Unterschiede dieselben.“ (S. 139)

 

Hierin findet die Verfasserin im weiteren die geistige Grundlage der – ihrer Ansicht nach vorbildlichen – Normen zur Analogiebildung im ABGB. Diese Grundlage freilich ist im Befund ebenso zweifelhaft wie in der Herleitung. Von rechtsgeschichtlichen Detailfragen ganz abgesehen (statt aller: welche der erwähnten Prinzipien stammen aus dem griechischen Recht, was meint die Verfasserin hier mit griechischem Recht, wie kamen die Prinzipien wann warum wohin, und wo kann man das alles nachlesen?): Wenn man einen schwedischen oder niederländischen Großstadtbewohner nach seiner Meinung beispielsweise zu den Grenzen der religiösen Toleranz, zur sog. Euthanasie oder zur sog. Homosexuellenehe fragt, wird er im Zweifel ganz Anderes antworten als die Vertreter mancher im mediterranen Raum traditioneller Auffassungen, und zwar unabhängig vom Bildungsstand; aber auch die gerade genannten Beispiele bezeichnen keine homogenen Personengruppen. Europa ist unübersichtlich und muß das Gemeinsame immer wieder neu suchen; daß es diese Spannung seit drei Jahrtausenden aushält und dabei neue Erkenntnis gewinnt, macht einen Teil seiner Identität aus. Vernunftrecht und Aufklärung sind zweifellos zentrale Grundlagen Europas; aber niemand, der sie kennt und sich zu ihnen bekennt, wird ernstlich behaupten, sie hätten bis hin zu Streitfragen der Gegenwart Einheitlichkeit der Ansichten herbeigeführt. Selbst soweit im 18. und 19. Jahrhundert die Gebildeten Europas viele Ansichten teilten, ist doch der Kontinent heute über aktuelle Wertkonflikte, aber auch über ganz rechtstechnische Fragen tief gespalten, und dies zu erkennen, hätte ein Vergleich der Städte Paris und Innsbruck genügt. Es fällt schwer genug, gegen integralistische, populistische und simplifizierende Modelle welcher Provenienz auch immer die „methodologischen“ Tugenden europäischen Diskurses hochzuhalten (für welche die Aufklärung übrigens einiges in der antiken und mittelalterlichen Tradition fand): Offenheit für differenzierte und langfristig belastbare Lösungen, Ausgleich von Tradition und Innovation, Pflege des Diskurses, kluges Zusammenspiel von Rechts- und Sozialordnung, Verantwortung des einzelnen; aufklärerisch gesprochen: Selbstdenken und Mündigkeit. Hier liegen die realen Probleme.

 

Wer sich hingegen im Jahre 2005 noch daran berauscht, ein zweihundert Jahre altes Naturrechtsgesetzbuch zu besitzen (ohne sich beispielsweise zu fragen, warum dieses Buch anschließend in der Auslegung und Anwendung pandektisiert wurde – oder was zur „Dialektik der Aufklärung“ führte), der wird solche Probleme natürlich nicht sehen. Er tut der Aufklärung wie dem Vernunftrecht damit einen Bärendienst; und, was noch schlimmer ist, einem zeitgemäßen Naturrechtsdiskurs, den Europa dringend braucht, auch. Kein Vernunftrechtler des 18. Jahrhunderts hätte vom Gesetzgeber und vom Ausleger des 21. Jahrhunderts verlangt, beispielsweise Thomasius zu kopieren, anstatt eben selbst zu denken – so wie Rechtsgeschichte generell nicht dazu dient, die – typischerweise selektiv gelesene – Vergangenheit zu glorifizieren, sondern dazu, die Defizite der Gegenwart intelligent anzugehen. Dazu aber muß man den historischen Befund erst einmal sauber erheben.

 

Bisweilen finden sich auch Theoreme, anscheinend vom akademischen Lehrer (H. Barta) übernommen. Dieser scheint eine Theorie des „Analogiefilters“ entwickelt zu haben, dessen letzte Stufe die natürlichen Rechtsgrundsätze im „Natur- oder Kulturrecht aller zivilisierten Staaten“ sind (vgl. Höltl 146). Das freut den Konservativen, hat man doch beispielsweise im Völkerrecht schon länger die „zivilisierten“ durch die „friedliebenden Nationen“ ersetzt. Nicht so in der hermeneutischen Provinz, die wir gerade durchstreifen; und das Beispiel für gemeinsame Auffassungen aller zivilisierten Nationen ist das Bestattungsrecht (S. 141-146). Rezensent kennt sich in der Welt des Makabren wenig aus; ob aber naturrechtlich gesicherter Konsens beispielsweise am reizvollen Problem der nachträglichen Feuerbestattung bei geschiedenen Totensorgeberechtigten (S. 143f.) in unmittelbar einleuchtender Weise thematisiert werden kann, scheint dem Laien doch zweifelhaft. Andererseits: Wer in einer derart kultur- oder auch unkulturabhängigen Materie wie dem Bestattungsrecht naturrechtliche Einigkeit findet, der mag sie auch bei den oben skizzierten rechtsethisch konnotierten Problemen der Lebenden finden. Es fragt sich nur, mit welchem Realitätsanspruch.

 

Um in den Alltag zurückzukommen: Methodologische Standardfragen werden entweder übergangen oder in wenigen Sätzen abgehandelt. Die Zusammenfassung zur Wortlautauslegung S. 118f. genügt nicht (noch stärker verkürzt zum französischen Recht S. 174f.). Daß es eine Wortlautgrenze gebe und daß „Klares“ keiner Auslegung bedürfe, ist keineswegs selbstverständlich, weder rechtstheoretisch noch praktisch (eigentlich eine Binsenweisheit; vgl. demnächst methodengeschichtlich Baldus, § 3: Historische Grundlagen, in: Riesenhuber, wie vor); Höltl jedoch liefert nur einen gut versteckten Verweis auf Zweifel Dritter (S. 169 Fn. 631 a. E.). Daß die Planwidrigkeit der Lücke objektiv-telelologisch zu bestimmen sei (so läßt sich S. 123 lesen), ist im Ergebnis überzeugend, bedürfte aber gerade angesichts der in Österreich vertretenen abweichenden Ansichten einer Begründung (einige Hinweise zum Problem bei Börsch JA 2000, 117ff.).

 

Nach alldem ist es unvermeidlich, daß das Grundproblem immer nur gestreift wird: Ob man Auslegung und Analogie überhaupt unterscheidet und, wenn ja, nach welchem Kriterium, ist zunächst eine methodengeschichtliche, dann eine verfassungsgeschichtliche Frage. Es geht im Kern immer um die Haltung der Rechtsordnung zum Richter, um ihr Bild vom Richter und um das Selbstverständnis des Gesetzgebers. Dazu aber trägt die Verfasserin nur Bruchstücke zusammen. Daß die Geschichtlichkeit eines Gesetzes sich gerade im Procedere von Auslegung und Analogie realisiert, daß hier vorrechtliche und politische Fragen die normativen Vorgaben umformen und überformen, dazu hätte man gern mehr und Besseres gelesen.

 

Zu den bis hierher skizzierten inhaltlichen Mißgriffen (die Liste ließe sich verlängern) gesellen sich handwerkliche Fehler. Die Tendenz zum Sekundärzitat wurde bereits erwähnt. Konjunktiv und Komma werden flexibel gebraucht, der Genitiv reichlich, namentlich dort, wo er sowohl subiectivus wie obiectivus sein könnte („Die Bestrebungen einer Rechtskodifikation“, S. 42, 68: daß die R. ihrerseits etwas angestrebt hätte, lassen die folgenden Passagen nicht erkennen). Die Literaturauswahl ist unvollständig, es fehlen vor allem neuere Standardwerke zur école de l'exégèse, zum „Richterkönigtum“ und zur Kodifikationstheorie (jeweils mit entsprechenden Folgen für den Inhalt). Unter den Fußnoten gebührt die Krone – jedenfalls bei flüchtiger Durchsicht – der Nr. 585 (S. 159): Was "Siehe phpBB Group, La légitime défense" bedeuten mag, hat dem Rezensenten weder das Abkürzungs- noch das Literaturverzeichnis verraten. Nicht verwundern kann nach dem Gesagten, daß die Verfasserin anscheinend Latein nicht einmal abschreiben kann oder es dort abschreibt, wo es schon falsch steht ("in civile est nisi tota lege perspecta judicare", sic, ohne Hinweis auf die Digesta – Celsi oder Iustiniani –, S. 172). Es muß auch niemand Latein können oder römisches Recht erkennen; nur sollte er dann die Finger von der europäischen Rechtsgeschichte lassen.

 

Insgesamt: Ein Führer zu Teilen der österreichischen und französischen Literatur, aber keine Quelle neuer Erkenntnis. Das Thema verdient weitere Aufmerksamkeit.

 

Heidelberg                                                                                                     Christian Baldus