Heiss, Sonja, Die Institutionalisierung der deutschen Lebensversicherung (= Schriften zur Rechtsgeschichte 130). Duncker & Humblot, Berlin 2006. 383 S. Besprochen von Werner Schubert.

 

Obwohl zur Geschichte der deutschen Lebensversicherung bereits einige Untersuchungen vorliegen, fehlte es bislang an einer Darstellung der rechtlichen Institutionalisierung dieses Versicherungszweiges. Mit Recht stellt Heiss fest, dass die moderne deutsche Lebensversicherung im Wesentlichen auf ähnlichen Einrichtungen beruhe, die erstmals in England bereits im 18. Jahrhundert entstanden waren. Die Lebensversicherung sollte die teilweise durch den Untergang des Ancien régime entstandenen Lücken im System der Alters- und Hinterbliebenenvorsorge ausfüllen (S. 37ff.). Diese Vorsorge wurde erstmalig von privatwirtschaftlichen Unternehmen angeboten, die überregional agierten und grundsätzlich allgemein zugänglich waren: „Das Verhältnis von Risiko und Prämie war wissenschaftlich kalkuliert. Durch die Wiederanlage der Prämien war das Unternehmen in das gesamtwirtschaftliche System eingebettet. Der Versicherte erwarb einen durchsetzbaren Leistungsanspruch“ (S. 30). Die erforderlichen strukturellen Voraussetzungen für das neue Institut waren in Deutschland erst am Ende der 20er Jahre des 19. Jahrhunderts gegeben. Heiss behandelt nach einer kurz gefassten Vorgeschichte der deutschen Lebensversicherung (S. 29-41) zunächst zwei vor der eigentlichen Gründungsphase in Hamburg und Elberfeld gescheiterte Unternehmen (S. 42ff.) und kommt dann im ersten Hauptteil (S. 57-99) auf die ersten acht Unternehmen während der eigentlichen Gründungsphase, die nach der Verfasserin bis etwa 1845 reicht. In einem Ausblick werden weitere Gründungen bis 1871 und die anschließende Entwicklung der untersuchten Unternehmen untersucht. Die erste dauerhafte Gründung war die am 1. 1. 1829 eröffnete Lebensversicherungsbank für Deutschland in Gotha. Es folgten weiter Unternehmen in Lübeck, Leipzig, Hannover, Berlin, München, Braunschweig und Frankfurt am Main (hier 1845). In diesem Zusammenhang stellt Heiss mit Recht auch die Gründer biographisch heraus. Einige Versicherungsgründer hatten z. T. während ihres Aufenthaltes in London Erfahrungen mit der englischen Lebensversicherung gemacht. Mitbestimmend für die Gründer war das „Emanzipationsverlangen gegen England“, das den deutschen Versicherungsmarkt nur unbefriedigend bediente (S. 95).

 

In Kapitel 4 über die „versicherungsrechtliche Ausgangsposition“ geht die Verfasserin auf die vertragsrechtliche Regelung im Allgemeinen Landrecht ein (S. 104ff.), die sich wohl in erster Linie auf die englischen Unternehmen in Deutschland bezog (S. 101), was Heiss jedoch nicht näher ausführt, und kommt dann zur Genehmigungspraxis der untersuchten Unternehmen (S. 115ff.) und zur systematischen Erschließung der rechtlichen Grundlagen der Versicherungen in ihren im Anhang wiedergegebenen Plänen oder Statuten (S. 212-362). Erörtert werden in diesem Zusammenhang die Organisationsformen, die Organe, die Kapitalausstattung und Kapitalanlage, die Rechnungslegung, die Versicherungsformen, Rechtsänderungen, die territoriale Ausweitung des Geschäftsgebiets, Liquidation und Insolvenz sowie obrigkeitliche Beschwerdestellen. Anhand dieser Regelungsbereiche geht Heiss der Frage nach, welche Interessen durch die unternehmerischen Normen wahrgenommen wurden und wie die Lebensversicherung institutionalisiert wurde. Die Normen betrafen das Versicherungsaufsichts-, das Versicherungsvertrags- und das Versicherungsunternehmensrecht. Die Versicherungen waren entweder Personenvereinigungen auf dem Grundsatz der Gegenseitigkeit, Aktiengesellschaften oder gemischte Gesellschaften wie die Berlinische Lebens-Versicherungs-Gesellschaft zu Berlin, die das preußische Staatsministerium am 2. 2. 1836 genehmigte (vgl. Christina Rathgeber, Die Protokolle des preußischen Staatsministeriums 1817-1934/38, Bd. 2 [1830-1840], Hildesheim 2004, S. 194; zur Frage, ob sich im Berliner Geheimen Staatsarchiv weitere Archivalien finden, enthält die Arbeit keinen Hinweis) mit dem Privileg, dass während 15 Jahren kein weiteres Versicherungsunternehmen in Preußen gegründet werden durfte (S. 80). Fast alle Unternehmen unterlagen einer staatlichen Aufsicht, deren erklärtes Ziel nicht primär der Schutz der Versicherten war. Wichtig sind ferner die Abschnitte über die Versicherungsformen – so war bei der Berliner Lebensversicherung eine Lebensfremdversicherung nicht zulässig –, über die obrigkeitlichen Beschwerdestellen, die meist endgültig entschieden (S. 193ff.). Das Werk wird abgeschlossen mit einem knappen Kapitel über die Bestrebungen, vornehmlich das Privatversicherungsrecht zu regeln (württemb. HGB-Entwurf von 1839; preuß. HGB-Entwurf von 1857; bayer. BGB-Entwurf von 1861/64 und Dresdener Entwurf von 1866). Die Untersuchung zeigt insgesamt, dass der „vermeintliche Gegensatz von Versichertenschutz und Schutz der Wirtschaftsfunktion Lebensversicherung für die Anfangsphase nicht kennzeichnend ist“. Ziel der Unternehmer und des Staates sei es vielmehr gewesen, die Lebensversicherung in eine „feste und anerkannte Form zu bringen“ (S. 22). Die beiden Schutzbereiche haben entgegen anders lautenden Stimmen in der Literatur das Werden und Wachsen der deutschen Lebensversicherung nicht bestimmt, so konnte sich das Versicherungsrecht, so Heiss abschließend mit einem Zitat von K. Malß aus dem Jahre 1862, „rein aus den Bedürfnissen des lebendigen Verkehrs“ entwickeln, „unbeirrt von juristischer Dogmatik und Systematik, unbeengt von polizeilichen und bureaukratischen Einflüssen“ (S. 211).

 

Mit ihrem Werk hat Heiss erstmals die rechtlichen Grundlagen der deutschen Lebensversicherung für die erste Hälfte des 19. Jahrhunderts erschlossen. Allerdings geht sie nicht näher auf die Vertragspraxis und nur selten auf eventuelle Vorläufer der wohl erst in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts entstandenen Allgemeinen Versicherungsbedingungen (vgl. die von Heiss zitierten Leipziger Erläuternden Bemerkungen, S. 182, die Berliner Instruktion, S. 184, und den Frankfurter Prospectus, S. 187) ein. Auch auf die versicherungsrechtliche Entscheidungspraxis der Beschwerdestellen finden sich keine Hinweise, wohl weil hierzu kein Material auffindbar war und diese Thematik auch außerhalb der Zielsetzung des Werkes lag. Die grundsätzlich eigenständige Entwicklung der deutschen Lebensversicherung hätte gegenüber der englischen Statutarpraxis, die den Gründern der ersten deutschen Lebensversicherungen bekannt gewesen sein dürfte, noch näher exemplifiziert werden können. So bleibt letztlich ungeklärt, ob und wie weit die englischen Regelungen das deutsche Versicherungsrecht beeinflusst haben. Auch ein Blick auf Frankreich und Belgien wäre vielleicht nützlich gewesen. Mit Recht hat Heiss nicht den Versuch unternommen, den Begriff des Verbraucherschutzes auf die historischen Verhältnisse zu projizieren. Von einem solchen Schutz lässt sich, wenn überhaupt, frühestens mit dem Aufkommen des Postulats der sozialen Aufgabe der Zivilgesetzgebung in den 80er und 90er Jahren des 19. Jahrhunderts sprechen. Insgesamt hat Heiss eine anregende Untersuchung zu einem noch immer vernachlässigten Teilgebiet der neueren Rechtsgeschichte vorgelegt, die Ausgangspunkt für Arbeiten über weitere Versicherungssparten und insbesondere auch über die Versicherungspraxis des 19. Jahrhunderts sein könnte.

 

Kiel

Werner Schubert