Ethik, Recht und Politik bei Spinoza. Vorträge des 6. internationalen Kongresses der Spinoza Gesellschaft, hg. v. Senn, Marcel/Walther, Manfred. Schulthess, Zürich 2001. 260 S. Besprochen von Robert Schnepf.

 

Seit einigen Jahrzehnten gerät Spinoza wieder verstärkt in den Blick nicht nur der philosophischen bzw. philosophiegeschichtlichen, sondern auch der rechts- und politiktheoretischen Forschung. Was in anderen Ländern selbstverständlich ist, bleibt in Deutschland noch über 60 Jahre nach dem Nationalsozialismus Ergebnis einer Anstrengung. Die Lücken, die durch die Vertreibung oder Ermordung insbesondere jüdischer Gelehrter – auch unter Rechtstheoretikern und Rechtsphilosophen – gerissen wurden, denen der Bezug und die Auseinandersetzung mit Spinoza lebendiges Bedürfnis war, sind nach wie vor nicht verwunden. Sein naturalistischer und im Bereich des Rechts weitgehend positivistischer Ansatz bleibt mit seinem Anregungspotential weitgehend ungenutzt. Schon alleine deshalb ist es verdienstvoll, der Trias von Ethik, Recht und Politik eine eigene Tagung mit international renommierten Spinoza-Spezialisten zu widmen und deren Resultate zu publizieren.

 

Der Band ist systematisch aufgebaut: Der erste Teil bietet Beiträge zum Ansatz der Ethik Spinozas, der zweite fasst seine Theorie der Politik ins Auge, der dritte ist der Rechtstheorie gewidmet und der abschließende vierte behandelt die Frage nach der Modernität dieser Philosophie des 17. Jahrhunderts. In einer kurzen Einleitung skizziert Marcel Senn einzelne Stationen der Wirkungsgeschichte insbesondere auch in der Jurisprudenz sowie einige Kernthesen, in denen er das Anregungspotential Spinozas für eine Theorie des Rechts und der Politik auch im 21. Jahrhundert erblickt. Dabei konzentriert er sich auf Spinozas Freiheitsbegriff; seine Theorie des Staates, die um diesen Freiheitsbegriff zentriert ist; seine Affektenlehre, in der die Möglichkeiten des menschlichen Zusammenlebens ausgelotet werden; und seine Theorie der „konkreten Existenz“ des Menschen. Diese Eröffnung gibt einige Leitfragen vor, unter denen die verschiedenen, zum Teil sehr speziellen Beiträge des Bandes gelesen werden können, die unterschiedliche Ansätze der Spinozainterpretation dokumentieren.

 

Von der Vielzahl der Themen sei indessen nur eines im Weiteren genauer betrachtet: Das Problem, wie in einem naturalistischen und deterministischen Ansatz originäre Fragen moralischer und rechtlicher Verpflichtung erörtert werden können – und ob so eine aussichtsreiche Perspektive eröffnet wird. Vor der Hand sprechen mindestens zwei Argumente dagegen: Unser übliches Verständnis von Moral und Recht scheint menschliche Freiheit vorauszusetzen, und unser übliches Verständnis moralischer oder rechtlicher Verpflichtung scheint eine deontologische Interpretation zu fordern, die im Rahmen eines strikten Naturalismus nicht durchführbar ist („naturalistischer Fehlschluss“). An drei unterschiedlichen Interpretationen will ich kurz veranschaulichen, wie dieser Band verschiedene Ansätze dokumentiert, diese Probleme im Rahmen des spinozistischen Paradigmas anzugehen.

 

Vor dem skizzierten Hintergrund mutet es geradezu wie eine Provokation an, wenn Wolfgang Bartuschat, sicherlich einer der profiliertesten Spinozaforscher Deutschlands und zugleich ein ausgewiesener Kant-Kenner, unter dem Titel „Moralität bei Spinoza“ die These verteidigt, der Ausdruck „pietas“ lasse sich an den meisten Stellen der Ethica (E), des Theologisch-Politischen Traktats (TTP) und des Politischen Traktats (TP) problemlos als „Moralität“ übersetzen (S. 23). Er argumentiert für diese These durch eine ausführliche Analyse sowohl der Beweisziele des TTP wie zentraler Lehrstücke der E. Kern ist dabei der Gedanke, dass gerade die Bibelkritik und die neuartige Verhältnisbestimmung von Offenbarungsglauben und Vernunft im TTP von der Überzeugung getragen sind, dass es nicht darum gehen könne, den Geboten der Moral aus blindem Autoritätsglauben oder gar aus Furcht zu folgen, sondern nur aus eigener Einsicht. Darin stimmt der Ansatz Spinozas mit einer der üblichen Grundüberzeugungen hinsichtlich der Moralität eines Menschen überein, dass nämlich nicht derjenige „gut“ genannt zu werden verdiene, der unwillig oder gezwungenermaßen das Gute tut, sondern nur der, der dabei aus eigenem Antrieb handelt. Daraus ergibt sich sogar das noch weitere Ziel des TTP, nämlich die Freiheit des Philosophierens zu verteidigen, ist doch diese Freiheit gerade eine Voraussetzung derjenigen Kultivierung des Denkens, die Moralität aus eigenem Antrieb erst ermöglicht. Bartuschat vertieft seine Analysen durch einen Blick auf die Freiheitslehre der E. Denn scheinbar fordert die Rede von einem Handeln aus eigenem Antrieb eine Lehre von der Willensfreiheit, wie sie Spinoza bekannter Maßen leugnet. Bartuschat zeichnet nun sehr feinfühlig nach, wie es dem Menschen eigentümlich ist, zu seinem je konkreten Begehren eine distanzierende Haltung einzunehmen, durch die er „aufgrund seines Wissens um die Grundlagen allen Begehrens das eigene Begehren besser zu steuern“ vermag (S. 34). Es zeichnet sich damit ab, dass Spinoza in seinem Ansatz eine Theorie konkreter Freiheit und praktikabler Strategien der Freiheitssicherung entwickeln kann, die zumindest in den Augen Bartuschats dazu hinreichen, der Rede von Moralität in einer Theorie innerer Haltungen einen Grund zu bieten. Es ist eine durchaus spannende Frage, ob Kants Diktum, nur ein guter Wille könne uneingeschränkt gut genannt werden, tatsächlich eine Kantische Freiheitstheorie erfordert – Bartuschat macht plausibel, dass hier eine gangbare Alternative offen steht.

 

Auch Lee C. Rice setzt sich in seinem Beitrag „Spinoza´s Notion of „Tenere“ in His Moral and Political Thinking“ mit einem Kernbegriff moralisch-rechtlichen Denkens auseinander. Auf den ersten Blick ist nämlich nicht zu sehen, wie die deontologische verstandene Verpflichtung in einem naturalistischen Kontext rekonstruiert werden könnte. Im Focus seiner Analysen stehen der TTP und der TP, weniger die E. In einem ersten Schritt sichtet Rice verschiedene Alternativen (Verpflichtung durch Gebot Gottes, Vertragstheorie, Naturrechtslehre, physischer Zwang, Eigeninteresse). Dabei fällt es ihm leicht zu zeigen, dass die ersten vier Optionen in Spinozas Naturalismus nicht offen stehen. Sehr eindringlich skizziert er knapp die Unzulänglichkeiten verschiedener Vertragstheorien, etwa die Zirkularität, die darin liegt, ein Versprechen vorauszusetzen, um Verpflichtung zu begründen. Sicher mag man hier raffiniertere Argumentationen konstruieren können, doch widmet sich Rice stärker der Aufgabe, Verpflichtung auf der Basis von Eigeninteresse in den Texten Spinozas nachzuweisen und der Sache nach plausibel zu machen. Rice gehört zu den Autoren, die Spinozas politische Philosophie ausgehend von einem strikten methodischen Individualismus und mit utilitaristischen Theoriemitteln als Vorbereiter eines modernen, freiheitlichen Liberalismus deuten. Gerade vor dem Hintergrund der Überlegungen Bartuschats gewinnt die Frage an Bedeutung, ob er damit den unterschiedlichen Aspekten, die menschliches Leben in Gemeinschaft ausmachen können, – so wie sie von Spinoza reflektiert werden – gerecht wird.

 

In gewisser Weise nimmt der Beitrag Etienne Balibars diese Probleme an einem anderen Ende wieder auf und führt sie weiter fort. Im Kontext der Staatstheorie Spinozas spielt nämlich eine Formulierung eine geradezu entscheidende Rolle, über deren genaue Auslegung in der Spinozaforschung kontrovers diskutiert wird. Es geht um die Macht der Menge (potentia multitudinis), die – und mit der Übersetzung fangen die Probleme schon an – „gleichsam wie von einem Geist geleitet wird“ („quae una veluti mente ducitur“, TP III, §2). Der Kontext macht den direkten Zusammenhang mit den Problemen der Staatsbegründung, der Souveränität und der Freiheit der Individuen deutlich. Denn das Recht des Staates bzw. die Souveränität sind in den Augen Spinozas letztlich gar nichts anderes als diese Macht „der wie von einem Geist geleiteten Menge“ (wie Bartuschat übersetzt). Liest man diese Formel stark, verschwindet der von Rice gepriesene politische Liberalismus und ein eher organizistisches Staatsmodell zeichnet sich ab; liest man sie aber (mit Rice) als schwache Metapher, öffnet sich zwar der Raum für das Individuum und seine originären Interessen, doch verdünnt sich das Band, das Zusammenhalt oder auch nur Zusammenhalt im Staat stiftet. Balibar analysiert in seinem schlicht herausragenden Beitrag sehr genau die Mehrdeutigkeiten der Passage und die damit aufgeworfenen Interpretationsprobleme. Er referiert und diskutiert ausführlich die Interpretationen von Matheron, Rice, Negri und Moreau, bevor er vorsichtig seine eigene Lösung im Anschluss an Moreau skizziert. Balibar plädiert dabei genauer für eine Lesart, die „mens“ in einem so umfassenden Sinn versteht, dass damit die ganze Fülle der Beziehungen gemeint sein kann, in der Individuen in den verschiedensten Staatsformen zueinander stehen und welche gleichsam die reale Basis der jeweiligen Institutionen bilden. Es zeichnet sich gerade hier ab, in wie vielfältiger Weise die Bindungen in einer Gesellschaft und einem Staat in einem naturalistischen Kontext rekonstruiert werden können – ohne beispielsweise alleine auf Formen des Nutzenkalküls angewiesen zu sein.

 

Alleine dass der Band die sorgfältigen Analysen und Argumentationen so unterschiedlicher Autoren wie Bartuschat, Rice und Balibar dokumentiert, macht ihn für Laien wie Fachleute zu einem Gewinn. Doch versammelt er entlang der skizzierten Themen auch ausgewiesene Autoren wie Herman De Dijn, Jean-Claude Wolf, Manfred Walther, Wolfgang Röd und Helmut Holzhey, um nur sie zu nennen. Auch eher unkonventionelle Themen werden berücksichtigt, etwa wenn Francis Cheneval nach „Spinozas Philosophie der internationalen Beziehung“ fragt oder Willi Goetschel vor dem Hintergrund von Heinrich Heine und Herman Levin Goldschmitt „Spinozas Modernität: Kritische Aspekte seiner politischen Theorie“ untersucht. Damit wird der Band sicherlich den durch ihren Herausgeber geweckten Erwartungen gerecht: Er zeigt, in wie mannigfaltiger und wie fruchtbarer Weise in der Auseinandersetzung mit Spinoza, diesem vielleicht modernsten Autor des 17. Jahrhunderts, Fragen der Ethik, der Rechts- und der Staatsphilosophie erörtert werden können, die noch heute kontrovers diskutiert werden. Spinoza in die zeitgenössischen Diskussionen einzubringen, ist nur dann ein sinnvolles Unterfangen, wenn er auch unter veränderten Bedingungen etwas zu sagen hat. Der Band dokumentiert genau dies – nicht zuletzt deshalb ist er zu empfehlen.

 

Halle                                                                                                  Robert Schnepf