Einhundertfünfundzwanzig [125] Jahre Reichsgericht, hg. v. Kern, Bernd-Rüdiger/Schmidt-Recla, Adrian (= Schriften zur Rechtsgeschichte 126). Duncker & Humblot, Berlin 2006. 267 S., 4 Bildtaf. Besprochen von Gerhard Köbler.

 

Am 1. Oktober 1879 wurde das Reichsgericht des zweiten deutschen Reiches in Leipzig eröffnet. 2004 jährte sich dieses Ereignis zum 125. Male. Dies haben Bernd-Rüdiger Kern und Adrian Schmidt-Recla zum Anlass eines Festkolloquiums genommen, dessen Grußworte und Vorträge, erweitert um einen Aufsatz, in dem mit einem Bild des ehrwürdigen Gebäudes unter blauem Himmel geschmückten Band veröffentlicht sind.

 

Im einleitenden Vorwort weisen die beiden Herausgeber allgemein auf die zeitbedingten Fragen hin, die mit dem Reichsgericht verbunden sind. Es sei leicht, die Geschichte des Reichsgerichts als Geschichte des Erfolgs oder als Geschichte des Scheiterns zu verstehen. Mittlerweile sei aber der historische Abstand groß genug geworden, um Einseitigkeit zu vermeiden.

 

Allerdings könne eine von noch so vielen Seiten unterstützte Festveranstaltung nicht mehr sein als der Entwurf einer methodischen Landkarte zur künftigen Auseinandersetzung mit der Geschichte des Reichsgerichts und seiner Rechtsprechung und in keinem Fall Anspruch auf Vollständigkeit erheben. Sie könne aber die Hoffnung stärken, dass von einer Bündelung von Forschungsbereichen Anstöße zur Vertiefung ausgingen. Ansätze hierfür biete das Reichsgericht, das ein weiteres Bild im Band selbst auch im zerstörten Zustand zeigt, zuhauf.

 

Der Begrüßung durch den ersten Herausgeber folgen Grußworte des Präsidenten des Bundesverwaltungsgerichts, des Vizepräsidenten des Bundesgerichtshofs, des sächsischen Staatsministers der Justiz, des Oberbürgermeisters der Stadt Leipzig und des Rektors der Universität Leipzig. Sie alle gedenken des Reichsgerichts vor allem aus ihrer jeweiligen Verbindung. Die ihm wenig verständliche Haltung der Stadt Leipzig bringt der Herausgeber distanziert durch Grußadresse zum Ausdruck.

 

An der Spitze der insgesamt elf wissenschaftlichen Beiträge steht Arno Buschmanns tiefschürfende Untersuchung über das Reichsgericht – ein Höchstgericht im Wandel der Zeiten. Er sieht zu Recht das Gericht eingebettet in die Geschichte der politischen, wirtschaftlichen, sozialen und geistigen Verhältnisse der jeweiligen Zeit und ihrer Wandlungen. Es stehe nicht außerhalb oder über der Geschichte und wirke über den Bundesgerichtshof auch über sein Ende hinaus.

 

Elmar Wadle bietet ein eindrucksvolles Bild Eduard von Simsons, des ersten Präsidenten des Reichsgerichts, das leicht und schwer zugleich gefallen sei. Ihm ist er vor allem der erfolgreiche Volksmann, der voll im deutschen Bürgertum assimilierte Spross einer jüdischen Familie, der Politiker und Präsident, den Kaiser Friedrich III. adelte, dem deutschen Volk ein leuchtendes Vorbild für alle Zeiten. Eine Photographie veranschaulicht diese ehrende Einordnung in bester Weise.

 

Das Portrait dieses Präsidenten ließ freilich der letzte Präsident, der von Klaus-Peter Schroeder andernorts wie hier dargestellte Erwin Bumke (1874-1945), im Keller des Reichsgerichts verschwinden. Klaus-Peter Schroeder sieht in Bumke die tragische Symbolfigur der deutschen Richterschaft, die – vom Reichspräsidenten von Hindenburg am 25. 2. 1929 zum Präsidenten des Reichsgerichts ernannt – zu einem Instrument justizförmig verbrämten Terrors korrumpiert worden sei. Wie manche andere Juristen an herausgehobener Position habe er sich in der Hoffnung auf einen völkisch-autoritären Rechtsstaat in den Dienst des Hitler-Regimes gestellt und zunächst aus Überzeugung mitgemacht, dann aber auf seinem Posten bis zum absehbaren, bitteren Ende in der Meinung ausgeharrt, dadurch vielleicht Schlimmeres zu verhüten, und sich am 20. 4. 1945 der drohenden Verhaftung durch Selbsttötung entzogen.

 

Bernd-Rüdiger Kern beschreibt im Rahmen eines umfangreicheren Forschungsvorhabens das Verhältnis Universität – Juristenfakultät – Reichsgericht, das nicht bloß durch ein geordnetes Nebeneinander von Gericht und Fakultät, sondern durch ein vielfältiges, aktives Miteinander gekennzeichnet sei. Cosima Möller zeigt an einzelnen Beispielen, wie das Reichsgericht auf der Grundlage des römischen Rechts eine eigenständige Rechtsprechungstradition entwickelt habe, in der dem römischen Recht die Rolle einer ratio scripta zugewachsen sei. Werner Schubert gelangt nach Durchsicht der umfangreichen Judikatur für das Verhältnis von Code civil in Deutschland und Reichsgericht zu dem wichtigen Ergebnis, dass das Reichsgericht sich zwar trotz allmählicher Lockerung im Großen und Ganzen nach der französischen Judikatur und Rechtslehre gerichtet, aber in nicht unwichtigen Teilbereichen eine eigene Linie verfolgt habe.

 

Hans Hermann Seiler überprüft in einer zusätzlich aufgenommenen Studie das Verhältnis von Reichsgericht und österreichischem Allgemeinen Bürgerlichen Gesetzbuch. Im Ergebnis findet er keinen einheitlichen Nenner. Gleichwohl handle es sich um eine Rechtsprechung auf beachtlichem Niveau, die Respekt verdiene.

 

Eva Schumann untersucht sehr eindringlich die Reichsgerichtsrechtsprechung in Familiensachen von 1933-1945. Nach ihrem überzeugenden Ergebnis hat der vierte Zivilsenat sich in dieser Zeit nicht nur angepasst und loyal verhalten. Er hat vielmehr das nationalsozialistische Familienrecht bewusst und aktiv mitgestaltet.

 

Adrian Schmidt-Recla thematisiert unter der Gegenüberstellung von Privatautonomie und Bestandsschutz die stillschweigende Erwerbung bzw. Bestellung von Grunddienstbarkeiten vor dem Reichsgericht. Danach setzten sich Willensdogma und Privatautonomie erfolgreich gegen den zeitweise favorisierten Bestandsschutz durch. Während sich das Reichsgericht im 19. Jahrhundert der Vertragsergänzungslösung angeschlossen habe, sei diese Lösung bis 1912 verworfen worden, wobei allerdings bis 1909 für das französische Recht dessen Sonderlösung gewahrt worden sei.

 

Danach behandelt Ulrike Rau das Reichsgericht als Reichsarbeitsgericht. Kai Müller untersucht die Leipziger Kriegsverbrecherprozesse nach dem ersten Weltkrieg, die zeigten, dass die Ahndung von Kriegsverbrechen einer im Krieg unterlegenen Nation durch ihre eigene Gerichtsbarkeit kein taugliches Mittel zu sachgerechter Bewältigung von Unrecht ist. Insgesamt erweist sich so der mit einem Autorenverzeichnis abgeschlossene, sonstige Register aber leider entbehrende Band als eine Sammlung vieler wichtiger und interessanter Einzelergebnisse, die zugleich aber auch deutlich machen, dass eine Gesamtgeschichte des Reichsgerichts erst am Anfang steht.

 

Innsbruck                                                                                                       Gerhard Köbler