Böhr, Christoph, Friedrich Spee und Christian Thomasius über Vernunft und Vorurteil. Zur Geschichte eines Stabwechsels im Übergang vom 17. zum 18. Jahrhundert. Paulinus, Trier 2005. 84 S. Besprochen von Georg Steinberg.

 

Christian Thomasius (1655-1728), streitbarer Protestant im aufstrebenden Preußen, der an der Universität Halle als Philosoph und Jurist wirkt, gilt als der bedeutendste Vertreter der deutschen Frühaufklärung. Der zwei Generationen ältere Friedrich Spee (1591-1635), auch bekannt als Dichter geistlicher Lieder, lehrt Philosophie und Moraltheologie an den Universitäten Paderborn und Köln und eckt als origineller Denker bei seinen jesuitischen Mitbrüdern vielfach an, insbesondere was die Auseinandersetzung mit der zeitgenössischen Praxis des Hexenprozesses betrifft. Dies ist die zunächst ins Auge fallende Verbindungslinie zwischen den Genannten, denn Spees anonym veröffentlichte Cautio criminalis seu de processibus contra sagas liber, 1631, deutsch zuerst 1649, beeindruckt Thomasius und ist zumindest mitursächlich dafür, dass er seine zunächst unkritische Sicht auf den Hexenprozess aufgibt, die Folterpraxis dieses Prozesses anprangert und in der Dissertation De Crimine Magiae – Von dem Verbrechen der Zauber- und Hexerey, 1701, die Strafwürdigkeit der Hexerei (nicht ihre Existenz) grundsätzlich in Frage stellt.

 

Christoph Böhr arbeitet jedoch interessanterweise eine erst in zweiter Linie sichtbare und dabei vielleicht bedeutsamere gedankliche Verbindung zwischen Spee und Thomasius heraus: den „Kampf“ gegen die Vorurteile, der, wie der Autor skizziert, eines der wesentlichen Charakteristika der deutschen (Früh-)Aufklärung überhaupt ist.

 

Thomasius’ Vorurteilslehre, wie er sie insbesondere in der Einleitung zu der Vernunfft-Lehre, 1691, dort im dreizehnten Hauptstück von denen Irrthümern, ausführt, und wonach die Ursachen für Irrtümer in falschem (vor allem scholastischem) Autoritätsglauben sowie in gedanklicher Übereilung liegen, ist in der Forschung umfassend gewürdigt. Böhr zeigt, und insoweit ist sein Buch von besonderer Originalität, dass bereits die Cautio Criminalis, wenn auch nicht als methodische Reflexion angelegt, Autoritätshörigkeit und Übereilung als Ursache von Irrtümern herausstellt, konkret als Ursache des Irrtums über die Adäquanz des praktizierten Hexenprozesses. Gegenmittel ist: der Zweifel, und so legt Spee die Cautio Criminalis als eine Folge von dubia an, von vernunftgeleiteten Zweifeln. Die Vernunft gilt Spee als Mittel der Befreiung von verderblichen Leidenschaften, die den Blick verdunkeln (auch hier folgt ihm Thomasius), als Fähigkeit der Erkenntnis natürlichen Rechts, an dem das positive (Prozess-)Recht sich messen lassen muss; die Vernunft stellt sich gegebenfalls gegen falsche Tradition, wenn auch, wie Böhr hier eher bekenntnishaft formuliert, Spee durch seine „innige Frömmigkeit“ „gefeit [ist] vor einer Überschätzung der Vernunft“ (S. 62).

 

Gelingt es dem Autor also, bisher nicht in dieser Deutlichkeit aufgezeigte aufklärerisch bedeutsame Verbindungslinien von Spee hin zu Thomasius aufzuzeigen, so unterliegt er selbst doch einem landläufigen Vorurteil über Thomasius, nämlich der Annahme, dieser habe sich gegen die Folter als solche als Mittel der prozessualen Beweiserhebung eingesetzt. Zwar erklärt Thomasius, dass unter der Folter jedwedes (auch falsches) Geständnis erzwingbar sei, dass demzufolge „die Hexen-Prozesse gar nichts taugen“ (Christian Thomasens Erinnerung Wegen seiner künfftigen Winter-Lectionen [...], in: Außerlesene und in Deutsch noch nie gedruckte Schrifften, 1705, Anhang S. 18), er bezieht sich hier aber allein auf den spezifischen Einsatz der Folter bei Ahndung der Hexerei als eines crimen exceptum (das heißt eines außerhalb des allgemeinen Prozessrechts stehenden staatsgefährdenden Sonderdelikts). Die Folter als integrativen beweistechnischen Bestandteil des Inquisitionsprozesses stellt Thomasius zu keiner Zeit prinzipiell in Frage (grundlegend Wolfgang Ebner, Christian Thomasius und die Abschaffung der Folter, in: Ius Commune 4, 1972, S. 73ff.).

 

Abschließend sei aber nochmals betont, dass die Lektüre dieses geschmeidig formulierten Buches höchst ertragreich ist: Thomasius, selbst bekennender Eklektiker, steht nicht als erratischer Block am Beginn der Aufklärung, sondern bringt Angelegtes zur Entfaltung. Böhrs Verdienst ist es, dieses Faktum in einer neuen, wichtigen Facette, der Vorurteilslehre als zentralem aufklärerischem Anliegen, auszuleuchten.

 

Hannover                                                                                           Georg Steinberg