Blanke, Sandro, Soziales Recht oder kollektive Privatautonomie? Hugo Sinzheimer im Kontext nach 1900 (= Beiträge zur Rechtsgeschichte des 20. Jahrhunderts 46). Mohr (Siebeck), Tübingen 2005. XII, 238 S. Besprochen von Werner Schubert.

 

Obwohl Sinzheimer neben Philipp Lotmar einen festen Platz als Mitbegründer des deutschen Arbeitsrechts hat und zu seinem Leben und Werk nicht wenige Arbeiten vorliegen (vgl. kürzlich noch Jürg Brühwiler, Philipp Lotmar und Hugo Sinzheimer: Versuch eines Vergleichs, in: Pio Caroni [hg.], Forschungsband Philipp Lotmar, Frankfurt a. M. 2003, S. 117ff.) fehlte es bisher an einer Darstellung und Auseinandersetzung mit den Grundanschauungen Sinzheimers zum Arbeitsrecht und besonders zum Tarifvertragsrecht. Blanke geht aus von der Konstruktion des Tarifvertrags, in dem Sinzheimer einen kooperativen öffentlichrechtlich – privatrechtlichen Arbeitsnormenvertrag sah, während Lotmar, der sich noch vor Sinzheimer mit dem Tarifvertrag befasst hatte, diesen primär privatrechtlich interpretierte. Für Sinzheimer war der Arbeitsnormenvertrag (Tarifvertrag) lediglich ein „Übergangsprodukt“ (S. 18), das die „Keime der Fortentwicklung zu neuen sozialrechtlichen Einheitsgebilden, in denen Arbeitgeber und Arbeiter vereint sind“, bereits in sich trage (zitiert nach Blanke, S. 18). Grundlage seiner Sicht, die noch deutlicher in seinem Werk: „Ein Arbeitstarifgesetz. Die Idee der sozialen Selbstbestimmung im Recht“ (1916) zum Ausdruck kam, war der von ihm angenommene Zusammenhang von Recht und „Wirklichkeit“, den er als „idealen Realismus“ umschrieb (S. 25ff.): „Danach war das Recht einerseits ganz im Sinne des materialistischen Verständnisses ein Phänomen, das die materiellen gesellschaftlichen Umstände reflektierte. Andererseits war Sinzheimer überzeugt, dass im Wirklichen auch geistige Elemente zu finden seien, dazu bestimmt, das Recht und damit die Regeln des menschlichen Miteinanders zu prägen“ (S. 203). Das geistige Element der Wirklichkeit war nach Sinzheimer entsprechend einer positiven Evolutionslogik auf eine ideale Gestaltung des menschlichen Zusammenlebens gerichtet, die in der Hand des einzelnen Menschen lag. Die geschichtsmetaphysische Evolutionslogik Sinzheimers ließ mithin Raum für die relative Freiheit des einzelnen. Das Tarifvertragsrecht war in der Weimarer Zeit für ihn nur ein Zwischenschritt auf dem Weg zu einer Wirtschaftsdemokratie und einer Vergesellschaftung der Produktionsmittel, die allerdings nicht deren Verstaatlichung, sondern deren Übertragung auf gesellschaftliche Kollektivakteure, gebildet aus Arbeitnehmern und Arbeitgebern, bedeuten sollte. Beeinflusst war Sinzheimer insoweit von der Phänomenologie Husserls und Max Schelers sowie von der phänomenologisch orientierten Soziologie Simon Franks (S. 75ff.). Mit seiner Abkehr vom individualistischen Privatrecht und der Soziologisierung des Rechts („Recht als soziale Funktion“) war für Sinzheimer das letzte Ziel der Rechtswissenschaft die Rechtspolitik („legislative Rechtswissenschaft“).

 

Wenn auch angesichts seiner „idealistischen Grundstimmung“ nach Blanke für Sinzheimer die „klassische Konzeption des Privatrechts als Freiheitsraum in gesellschaftlicher Lebensgestaltung des einzelnen gegenüber dem staatlichen Recht mitsamt der individuellen Selbstbestimmung als Wert an sich“ (S. 213) verloren ging, so war seine Grundkonzeption gleichwohl rechtsstaatlich abgesichert und frei von antiverfassungsstaatlicher und antiparlamentarischer Tendenz. Die zunehmende Verstaatlichung des Tarifrechts am Ende der Weimarer Zeit setzte sich unabhängig von Sinzheimer durch. Nach der Herausarbeitung der Grundannahmen Sinzheimers befasst sich Blanke mit den „Bausteinen“ des Tarifrechts entsprechend dem grundlegenden Werk zum Tarifvertrag von 1916 (Einheitlichkeit des Tarifvertrags, Tariffähigkeit, Einbeziehung von Tariffremden, Unabdingbarkeit als Sicherung des „kulturellen Minimums“, Tarifverletzungen und Tarifbehörden). Im zweiten Kapitel geht es um die Interpretation der Tarifvertragsordnung von 1918 durch Sinzheimer und die Weiterentwicklung des Tarifvertragsrechts mit dem Zielpunkt: „Wirtschaftsdemokratie“ (S. 80ff.). Im letzten Hauptteil unternimmt Blanke den Versuch, die rechtsdogmatischen Stellungnahmen der arbeitsrechtlichen Autoren der Weimarer Zeit (u. a. Kahn–Freud, Neumann, Fränkel, Potthoff, Nipperdey, Jacobi und Kaskel) „auf die sich aus der Anerkennung des Tarifrechts ergebenden Fragen und auf Sinzheimers Programatik zu beziehen“ (S. 5; S. 101-202). Hierbei geht es um die Rechtsnatur des Tarifvertrags (Privatrecht, öffentliches Recht oder „soziales Recht“), den Tarifvertrag zwischen Vertrag und Norm (Umfang der normativen Wirkung), die Grenzen der Unabdingbarkeit, die Parteien des Tarifvertrags, den Organisationszwang (negative Koalitionsfreiheit), die gewollte Tarifunfähigkeit (Problem des Schlichtungsrechts) und den Zwangstarif. Im Gegensatz zu Sinzheimer orientierten sich seine Schüler vornehmlich an der Autonomie der Berufsverbände. Nipperdey, der wohl bedeutendste arbeitsrechtliche Autor der Weimarer Zeit, versuchte ein effektives Tarifvertragssystem mit dem individuellen Freiheitsbegriff in Einklang zu bringen (vgl. S. 205 ff.).

 

Sinzheimers Lehre vom „sozialen Recht“ als Mischung der Synthese von Privatrecht und öffentlichem Recht stellt eine konsequente Fortführung der in den achtziger Jahren des 19. Jahrhunderts herausgearbeiteten sozialen Aufgabe des Privatrechts dar (hierzu T. Repgen, Die soziale Aufgabe des Privatrechts. Eine Grundfrage in Wissenschaft und Kodifikation am Ende des 19. Jahrhunderts, Tübingen 2001), ein Postulat, welches insbesondere das deutsche Rechtsleben bis heute bestimmt. Unter diesem Gesichtspunkt, nicht nur als Beitrag zur Geschichte des Weimarer Arbeitsrechts, stellt vor allem der umfangreiche rechtsdogmatische Teil des Werkes  Blankes einen wichtigen Beitrag zur Rechtsgeschichte der Weimarer Zeit dar. Es fehlt allerdings ein Vergleich mit dem zeitgenössischen, insbesondere dem französischen Tarifvertragsrecht, das Sinzheimer nicht unbekannt gewesen sein dürfte. Mit seinen Untersuchungen hat Blanke die Rechtslehre Sinzheimers und der wichtigsten arbeitsrechtlichen Autoren der zwanziger Jahre für die zentrale arbeitsrechtliche Rechtsinstitution des Tarifvertrags auf ein breites Fundament gestellt. Die „Relativierung“ der Lehren Sinzheimers, die keine Antwort mehr auf die zukünftige Gestaltung des Arbeitsrechts bieten können, tut der Würdigung Sinzheimers als herausragenden Pioniers der deutschen Arbeitsrechtswissenschaft keinen Abbruch. Nach wie vor prägen seine juristisch-dogmatischen Grundbegriffe weiterhin das kollektive deutsche Arbeitsrecht. Sie verdeutlichen, dass die Weimarer Zeit für die deutsche Rechtsgeschichte des 20. Jahrhunderts von grundlegender Bedeutung ist. Dies gilt nicht nur für das Arbeitsrecht, sondern in gleicher Weise auch für das Strafrecht, das Wirtschaftsrecht (Aktienrecht und Kartellrecht), das Familienrecht und das Zivilprozessrecht und Insolvenzrecht.

 

Kiel

Werner Schubert