Bellomo, Manlio, Europäische Rechtseinheit. Grundlagen und System des Ius Commune. Beck, München 2005. XXIX, 246 S. Besprochen von Gerhard Köbler.

 

Im Vorwort für die deutschen Leser legt der bekannte Ordinarius für mittelalterliche und moderne Rechtsgeschichte der Universität Catania dar, dass er zu einer Generation gehöre, die in frühester Jugend die Schrecken eines eine Blutspur durch Europa ziehenden Krieges der Deutschen und Italiener gegen Franzosen und Engländer erlebt habe und ihm selbst 1943 Blut, Schmerz, Hunger und Verzweiflung unmittelbar nahe gekommen seien. Deswegen falle es ihm schwer zu glauben, dass Heldentaten der Feldherren die Triebkraft der Kultur seien, der die Prinzipien und Ziele von Humanität und Zivilisation der Völker folgen. Deswegen habe er sich verpflichtet gefühlt, nach dem Vorbild Francesco Calassos das Werk L’Europa del diritto comune zu schreiben und der daraus seit 1988 erwachsende große Erfolg (8. Auflage 1998) habe ihn bestätigt.

 

Erst mit einigem zeitlichem Abstand habe er aber erkannt, wie sehr die Schrift der Spiegel seines Denkens sei. Nun sehe er, dass die juristische Einheit Europas vor allem das Werk ganzer Generationen großer Persönlichkeiten sei, die das Recht weniger als Wissenschaft der Gesetze und mehr als Wissenschaft der Gerechtigkeit behandelt hätten. Mindestens ebenso wichtig wie Karl der Große, Friedrich I., Friedrich II, Gregor IX., Bonifaz VIII., Clemens V. oder Napoleon seien für das Recht Irnerius, Rogerius, Placentinus, Oldrado da Ponte, Andreas Alciat, Johannes Teutonicus, Johannes Gallensis, Alanus Anglicus, Paulus Ungarus, Johannes Hispanus, Garsia oder Raimundus de Peñaforte.

 

Vor allem im Laufe des 12. bis 15. Jahrhunderts seien viele junge Leute auf der Suche nach Wissen in fremde Länder Europas gezogen. Dort habe sich durch die Verbindung zu den Fremden eine neue offene Sicht auf Europa ergeben. In dieser Welt sei die juristische Einheit Europas jenseits von Kriegen und gegen die Kriege entstanden.

 

Den Glauben an die Nützlichkeit oder Notwendigkeit der Übertragung seiner italienischen Überlegungen in die deutsche Sprache habe ihm Hans Schlosser vermittelt. Ellen Dilcher habe die Schwierigkeiten der Übersetzung hervorragend gemeistert. Gerhard Dilcher habe die Übersetzung fachlich kompetent und freundschaftlich verbunden überarbeitet.

 

Nach einer kurzen beschreibenden Bibliographie beginnt der Verfasser mit Triumph und Krise der nationalen Kodifikationen, wobei er besondere Aufmerksamkeit dem Code civil Frankreichs von 1804, dem Bürgerlichen Gesetzbuch Deutschlands von 1896/1900 und den italienischen Gesetzbüchern als Zeichen der Krise widmet. Von hier aus greift er weit zurück auf das Zeitalter ohne Juristen vom Untergang der antiken römischen Jurisprudenz bis zu den ersten Zeichen einer neuen Rechtswissenschaft in römischer Tradition um 1100. Bald danach sieht er durch Irnerius, Gratian und ihre Schüler das Ius commune in Europa entstehen.

 

Ihm stellt er im vierten Kapitel das ius proprium in Europa gegenüber, das er für Italien, Europa außerhalb Italiens, die iberische Halbinsel, Frankreich und Deutschland (Stadtrechte, Grafen, Herzöge, Fürsten, Gesetze des Kaisers, Sachsenspiegel) näher beschreibt. Danach wendet er sich der Universität in Europa, der juristischen Wissenschaft und dem System des ius commune zu und hebt dabei Irnerius, Gratian, Accursius, Odofredus, Cinus und Bartolus besonders hervor. Im achten, Raum und Zeit betitelten Kapitel schlägt er die Brücke vom spätmittelalterlichen Italien zum usus modernus pandectarum und zum Naturrecht des Hugo Grotius und gelangt damit zum Ausgangspunkt wieder zurück.

 

Im Kern tritt er vor allem für die Berücksichtigung des aus dem römischen und kanonischen Recht hervorgegangenen ius commune als europäisches Gemeinrecht ein. Dementsprechend sieht er bei den Gesetzbüchern hauptsächlich deren Schwächen. Ob dieser Sicht die Zukunft gehört, wird sich trotz des großen literarischen Erfolges des schlanken, durch ein knappes Personenverzeichnis und Sachverzeichnis abgerundeten Buches noch erweisen müssen.

 

Dessenungeachtet ist in der Zeit europäischer Einigung jeder gesamteuropäische, der Vielfalt der Entwicklungen entsprechend schwierige Überblick von besonderer Wichtigkeit. Dabei kann die jeweilige nationale Betrachtungsweise durch andere nationale Betrachtungsweisen nur gewinnen. Deswegen ist die Übersetzung eines italienischen Bucherfolges in die eigene Sprache auch für den deutschen Buchmarkt ein wichtiger Beitrag zur europäischen Kulturgeschichte.

 

Innsbruck                                                                                                                  Gerhard Köbler