Bauer, Andreas, Libri Pandectarum. Das römische Recht im Bild des 17. Jahrhunderts, Band 1 (= Osnabrücker Schriften zur Rechtsgeschichte 13, 1). Universitätsverlag Osnabrück bei V&R unipress, Göttingen 2005. 366 S., 110 Abb. Besprochen von Gunter Wesener.

 

Mit seinen grundlegenden Arbeiten zur germanischen Rechtssymbolik und zu den Bilderhandschriften des Sachsenspiegels hat Karl von Amira (1848-1930) den Anstoß zur Entwicklung einer neuen rechtsgeschichtlichen Forschungsrichtung, der historischen Rechtsikonographie, gegeben. Ein beachtliches Produkt dieser Richtung war die Monographie „Das Recht im Bilde“ (1923) des Schweizer Rechtshistorikers Hans Fehr (1874-1961). Ausgehend von der Sachsenspiegelforschung nahm die Rechtsikonographie seit den siebziger Jahren des 20. Jahrhunderts nach einer gewissen Stagnation einen gewaltigen Aufschwung, vor allem durch Arbeiten von Walter Koschorreck, Gernot Kocher, Ruth Schmidt-Wiegand, Gerhard Köbler, Friedrich Ebel und Heiner Lück (vgl. Verfasser S. 13ff.).

 

Andreas Bauer macht nunmehr eine weitere Rechtsquelle zugänglich, die friesischen Pandektenfliesen („Pandectentegels“). Es handelt sich hierbei um ein zusammenhängendes Corpus von Entwurfzeichnungen und Schablonen für die Produktion bemalter Fliesen, das sich in einem niederländischen Firmenarchiv erhalten hat (S. 16)[1]. Diese Zeichnungen und Schablonen stellen einen Bildzyklus zum römischen Recht des 17. Jahrhunderts dar, zu den fünfzig Büchern der justinianischen Digesten. In der Zeit der wachsenden Fliesenproduktion in den Niederlanden fasste Sybrand Feytema (1640-1692), Eigentümer einer Fliesen- und Steingutmanufaktur in Harlingen in Westfriesland, den Plan, eine Fliesenserie mit sämtlichen Titeln der Digesten (Pandekten) herzustellen. Jeder Digestentitel sollte durch eine Abbildung vertreten sein (S. 24f.).

 

Nach einem Überblick über „das römische Recht und Europa“ (S. 35ff.), insbesondere das römische Recht in den Niederlanden der frühen Neuzeit (S. 42ff.), geht der Verfasser näher auf Feytemas Fliesenserie und ihren geistesgeschichtlichen Hintergrund ein (S. 49ff.). Der Bildzyklus sollte primär didaktischen, mnemotechnischen Zwecken dienen, wie Feytema selbst hervorhebt (S. 49). Die Bilderserie stand in der Tradition der ars memorativa; sie sollte gewissermaßen ein Lehrbuch des römischen Rechts sein (S. 53). Als graphische Vorlagen der Entwurfzeichnungen dienten zwei Werke, ein bebildertes Lehrbuch der Digesten (Memoriale Juris Civilis Romani ... Hamburg 1673) des Lüneburger Theologen und Pädagogen Johannes Buno (1617-1697)[2] und die erstmals 1695 in Leiden anonym erschienene Ars Magna, ein Werk, welches das Lehrbuch Bunos zum Vorbild hatte, aber eine deutliche Weiterentwicklung aufweist (S. 58; 75ff.).

 

Der folgende Abschnitt (S. 61ff.) ist der „Kunst des Erinnerns“ als schulbarer Gedächtnisleistung gewidmet. Eingehend wird die ars memorativa in der Jurisprudenz des Humanismus behandelt, so Thomas Murners didaktisches Kartenspiel (S. 66ff.), Johannes Bunos emblematische Methode (S. 69ff.) und die Leidener Ars Magna (S. 75ff.). Diese enthält für jeden der 432 Digestentitel einen kleinen Kupferstich von hoher künstlerischer Qualität. Sie stammen von Romeyn de Hooghe (1645-1708), einem der bedeutendsten niederländischen Kupferstecher des 17. Jahrhunderts (S. 75f.).

 

Im letzten Abschnitt des ersten Teiles (S. 79ff.) werden die „Pandectentegels“ und ihre mnemotechnischen Vorbilder behandelt. Umstritten ist die Frage, wer Feytemas Künstlern die mnemotechnische Vorlage geliefert habe. In Betracht gezogen wurde ein Professor an der Universität Franeker, vor allem Ulrik Huber (1636-1694)[3], aber auch Romeyn de Hooghe selbst, der Kupferstecher der Ars magna, der das juristische Doktorat erworben hatte. Feytema bezeichnet den Schöpfer der Entwürfe der Pandektenfliesen als „vermaert Practisijn in de Rechten“ (S. 79). A. Bauer (S. 80f.) geht davon aus, dass die Bilder der Ars magna und die Entwürfe der Fliesenbilder einen gemeinsamen Zeichner hatten. Er sucht diese Person im Umfeld de Hooghes und stellt die These auf, dass es sich hierbei um den lutherischen Theologen Johannes Möller (1641-1710) aus Leiden gehandelt habe. In dessen Auftrag hatte de Hooghe schon 1681 Tafeln für eine biblische Ars memorativa mit Merkbildern gestochen (S. 84). Gegen diese Annahme spricht aber, dass die Bezeichnung „vermaert Practisijn in de Rechten“ (berühmter Rechtspraktiker) für Möller noch weniger zutrifft als für de Hooghe.

 

Bei der ikonographischen Typologie der Bildmotive folgt der Verfasser (S. 86ff.) grundsätzlich G. Kochers[4] Gliederung; er unterscheidet drei Gruppen: 1) Bilder, die über ein bestimmtes Rechtsinstitut oder eine rechtserhebliche Handlung bloß belehren, ohne ein prozessuales Element; 2) Bilder, die über rein prozessuale, nichtstreitige Vorgänge berichten; hier wird nur das Verfahren vor dem Prätor oder dem Richter vorgestellt; 3) Bilder, die streitige Verfahren vor dem Prätor (oder Richter?) darstellen. Hierbei ist die Bildfläche oft zweigeteilt, um neben dem gerichtlichen Verfahren den zugrunde liegenden Rechtsfall vorzustellen.

 

Der Zeichner der Entwürfe der Pandektenfliesen hat die zeitgenössische Umgebung als Kulisse gewählt und die handelnden Personen in den Kleidern und unter Berücksichtigung der Sitten und Vermögensverhältnisse des 17. Jahrhunderts der Niederlande dargestellt; damit soll die Geltung der römischrechtlichen Bestimmungen als rezipiertes gemeines Recht zum Ausdruck gebracht werden (S. 88). Allgemein hingewiesen wird auf die Bedeutung der verwendeten Attribute und Symbole (S. 88f.). So wird bei einem gültigen Testament regelmäßig die Testamentsurkunde mit sieben Siegeln versehen gezeigt (z. B. D. 10,2; 28,2; 28,5 u. a.). Die sieben Siegel waren nicht nur nach prätorischem Recht, sondern auch beim justinianischen Siebenzeugentestament sowie nach gemeinem Recht aufgrund der Reichsnotariatsordnung von 1512 (I §7) erforderlich. Vermögen als Ganzes werden durch eine Geldtruhe oder einen Geldsack dargestellt. Schwierigkeiten bestehen naturgemäß bei der bildlichen Umsetzung abstrakter Rechtsbegriffe. Versagt hier die Symbolik, greift der Zeichner auf bildinterne Beschriftung zurück.

 

Der zweite Teil (S. 95‑328) des Opus enthält die Entwurfzeichnungen zu den Büchern X-XXX der Digesten. Ein zweiter Band mit den Entwürfen zu den Büchern XXXI-L soll in nächster Zeit folgen. 110 Zeichnungen werden im vorliegenden Band ediert und kommentiert. Ein Beispiel (S. 96f.): D.10,1 Finium regundorum (Über die Grenzregelungsklage). Nach allgemeinen Ausführungen zur actio finium regundorum beschreibt der Verfasser die Zeichnung: „In der Entwurfzeichnung erfolgt die Neuvermessung des Grenzverlaufs durch verschiedene Messinstrumente, von denen das Gerät, das der agrimensor gerade in seinen Händen hält, der Jakobsstab[5] ist. Im Hintergrund dehnt sich eine karge Hügellandschaft ohne Bebauung aus als Zeichen dafür, dass die Grenzberichtigungsklage nur auf ländliche Grundstücke Anwendung findet. Vor dem agrimensor und seinem Gehilfen, die mit der Vermessung der Grenze beschäftigt sind, streiten sich (fast handgreiflich) die Prozessparteien mit ihrem Anhang, offenbar, weil der eine von ihnen mit dem neuen Grenzverlauf nicht einverstanden ist und auf Ausgleich dringt.“ Eine solche Grenzberichtigung lässt sich bildlich freilich gut darstellen.

 

Als Anhang (S. 329‑348) findet sich ein Gesamtverzeichnis der Entwurfzeichnungen, Schablonen und Fliesen in der Ordnung der Digesten. Ein eingehendes Quellen- und Literaturverzeichnis beschließt die Arbeit.

 

Die Darstellungen der friesischen „Pandectentegels“ geben Aufschluss über die Vorstellungen der niederländischen Juristen und Gelehrten des 17. Jahrhunderts über das römische Recht und die römische Rechtskultur und sind somit eine Quelle der Rechtgeschichte, im Besonderen der Privatrechtsgeschichte[6]. Wir sind dem Verfasser für diese gelungene Edition zu Dank verpflichtet.

 

Graz                                                                                                   Gunter Wesener



[1] Die Fliesenserie befindet sich im Fries Museum in Leeuwarden.

[2] Zu diesem Verfasser 58 u. 69ff.

[3] Zu diesem G. Kleinheyer/J. Schröder (Hrsg.), Deutsche und Europäische Juristen aus neun Jahrhunderten, 4. Aufl. (1996) 203ff.; G. C. J. J. van den Bergh, Die holländische elegante Schule (Frankfurt am Main 2002) 184ff.

[4] Sachsenspiegel, Institutionen, Digesten, Codex – Zum Aussagewert mittelalterlicher Rechtsillustrationen, in: Forschungen zur Rechtsarchäologie und Rechtlichen Volkskunde, hrsg. von L. Carlen, 3 (Zürich 1981) 5ff., insbes. 15f.

[5] Altes Visiergerät zum Messen von Winkelabständen.

[6] Zur Bedeutung der Rechtsikonographie für die Privatrechtsgeschichte G. Kocher, Bild und Recht. Überlegungen zur Rolle des Bildes in der privatrechtsgeschichtlichen Lehre und Forschung, in: Arbeiten zur Rechtsgeschichte. FS für G. K. Schmelzeisen (Stuttgart 1980) 142ff.