Auer, Marietta, Materialisierung, Flexibilisierung, Richterfreiheit. Generalklauseln im Spiegel der Antinomien des Privatrechtsdenkens. Mohr (Siebeck), Tübingen 2005. XXIII, 262 S. Besprochen von Johannes Braun.Auer, Marietta, Materialisierung, Flexibilisierung, Richterfreiheit. Mohr Siebeck, Tübingen 2005. XXIII, 262 S.

 

 

Laut Vorwort versucht die Verfasserin, auf „Grundfragen der ,Generalklauselproblematik’ jenseits der hergebrachten Methodenlehre eine neue Antwort zu geben“. Die privatrechtlichen Generalklauseln bilden dabei indessen nur den Aufhänger, um eine Thematik abzuhandeln, die im Bereich der Grundlagen des Privatrechts überhaupt angesiedelt ist. Nach herkömmlicher Auffassung beruht dieses auf einheitlichen und in sich widerspruchsfreien Entscheidungen (Eigentum, Privatautonomie, Schadensausgleich u. a. m.), durch die es sich von anderen Rechtsgebieten abhebt. Gelegentlich auftretende gegenläufige Wertungen werden vor diesem Hintergrund lediglich als störende Ausnahmen wahrgenommen. Dem setzt die Verfasserin eine grundsätzlich andere und, wie sie meint, angemessenere Vorstellung entgegen. Danach ist das Privatrecht nur auf das „unauflösbare Spannungsverhältnis zwischen drei fundamentalen Antinomien“ zurückzuführen, nämlich einen materiellen, einen formalen und einen institutionellen Grundwiderspruch. In den späteren Kapiteln des Buches wird dieses Spannungsverhältnis anhand der privatrechtlichen Generalklauseln lediglich veranschaulicht. Es wird, wie die Verfasserin betont, durch die Generalklauseln also nicht erzeugt, sondern ist ihnen vorgegeben und würde sich gegebenenfalls auf andere Weise Ausdruck verschaffen.

 

Der materielle Grundwiderspruch des Privatrechts wird zunächst durch das Begriffspaar „Individualismus und Kollektivismus“ umrissen. An sich verlangt der Individualismus, wie er unser Privatrechtsdenken prägt, nach Selbstbestimmung und Selbstverantwortung. Da er jedoch, absolut gesetzt, auf das Recht des Stärkeren sowie darauf hinausliefe, jeden seinem Schicksal zu überlassen, bedarf er einer gemeinwohlbezogenen Korrektur, wodurch dann freilich Fremdbestimmung und Fremdverantwortung mit ins Spiel kommen. Zwischen diesen beiden Polen muß jede Privatrechtsordnung einen Kompromiß finden. Dabei wirken die Generalklauseln als Ventil, durch das sich das gelegentlich als drückend empfundene Bedürfnis, als ungerecht angesehene Ergebnisse formalen Rechtsdenkens durch materielle Wertungen zu korrigieren, entladen kann.

 

Die von der Verfasserin als formaler Grundwiderspruch bezeichnete Antinomie äußert sich demgegenüber in dem Gegensatz von Rechtssicherheit und Einzelfallgerechtigkeit. Rechtssicherheit verlangt generalisierende Gleichbehandlung, was richterliche Willkür ausschließt, aber die Gefahr heraufbeschwört, den eigentlichen Regelungszweck im Einzelfall zu verfehlen. Einzelfallgerechtigkeit fordert die individualisierende Berücksichtigung der konkreten Umstände und konfrontiert den Rechtsverkehr daher mit einer schwer zu kalkulierenden Offenheit. Auch dieser Gegensatz ist nicht zu beheben und kommt in den Generalklauseln lediglich zufällig zum Vorschein.

 

Der institutionelle Widerspruch schließlich betrifft den Gegensatz von Richterbindung und richterlicher Freiheit. Wo Regeln herrschen sollen, darf der Richter nicht nach Belieben entscheiden. Aber Regeln vermögen die Entscheidung nicht in jedem Fall auf befriedigende Weise zu determinieren. Deshalb muß der  Richter auch unabhängig von Regeln und gelegentlich sogar gegen sie entscheiden dürfen. Anders als in den beiden anderen Fällen begnügt sich die Verfasserin hier indessen nicht mit der Feststellung einer unaufhebbaren Autonomie, sondern verknüpft damit einen Angriff auf die „One Right Answer“-These Ronald Dworkins. Damit begibt sie sich ohne Not auf methodisches Glatteis. Denn würde man die Kritik, die sie an Dworkins Rechtsfindungsmodell übt, auf das Wahrheitsfindungsmodell übertragen, dem sie als Wissenschaftlerin notwendig verpflichtet ist, würde von ihrem interessanten Buch kaum mehr übrigbleiben als eine Meinungsäußerung ohne Richtigkeitsanspruch. Das wäre vermutlich nicht in ihrem Sinn.

 

Die drei Grundwidersprüche dienen der Verfasserin im weiteren Verlauf dazu, den Begriff der Generalklausel näher zu bestimmen. Ob eine Norm eine Generalklausel ist, hängt danach nicht (nur) von ihrer begrifflichen Extension oder Vagheit, sondern vor allem davon ab, ob sie gegenwärtig dem Rechtsdenken als zentraler Anknüpfungspunkt des Interessenausgleichs zwischen den drei Grundwidersprüchen des Privatrechts dient. Wie die Verfasserin sehr wohl weiß, zielt diese Betrachtung freilich mehr auf Deskription aus der Sicht eines externen Beobachters als auf eine normative Präzisierung für den internen Teilnehmer einer dogmatischen Diskussion. Solange und soweit eine Norm als Generalklausel fungiert, hält die Verfasserin eine tatbestandliche Präzisierung jedoch für gar nicht möglich. Die Norm würde damit nämlich ihre Funktion, ein Ort der Vermittlung der genannten Grundwidersprüche zu sein, verlieren. Letztlich ist die Arbeit daher kein Beitrag zur Dogmatik des Privatrechts, sondern zu seiner Metadogmatik, in dem über das Koordinatensystem reflektiert wird, in dem sich die Dogmatik bewegt.

 

Aufschlußreicher als der im 3. Kapitel unternommene Exkurs in das amerikanische Privatrechtsdenken wäre es aus rechtstheoretischer Sicht gewesen, wenn sich die Verfasserin nicht auf die Untersuchung des Privatrechts beschränkt, sondern den Blick darüber hinaus auf das ganze Recht gelenkt hätte. Dabei wäre schnell deutlich geworden, daß das Prinzip des Widerspruchs nicht nur im Mittelpunkt des Privatrechts steht, sondern die treibende Kraft des Rechts überhaupt darstellt, an dem bisher noch jeder Versuch, das geltende Recht definitiv in einem widerspruchsfreien System einzufangen, früher oder später gescheitert ist. Der Grund dafür kann letztlich darin gesehen werden, daß auch der höchste Rechtswert, nämlich die Gerechtigkeit, einander widersprechende Ideale umfaßt, wovon die Geschichte der Rechtsphilosophie ein beredtes Zeugnis ablegt. Vor diesem Hintergrund ist leicht zu sehen, daß die Verfasserin die innere Widersprüchlichkeit des Rechtsgedankens nur an einem speziellen Anwendungsfall durchexerziert. Aber sowohl im großen wie im kleinen geht es darum, hinter den vorübergehenden Festschreibungen der jeweils ausgehandelten Kompromisse die durchgehende Bewegung und den inneren Widerspruch als deren treibende Kraft zu erkennen.

 

Hegel hätte seine Freude gehabt, obwohl er in dem Buch gar nicht genannt wird.

 

Passau                                                                                                                  Prof. Dr. Johann Braun, Passau.