Albrecht, Matthias, Die Methode der preußischen Richter in der Anwendung des preußischen Allgemeinen Landrechts von 1794. Eine Studie zum Gesetzesbegriff und zur Rechtsanwendung im späten Naturrecht (= Schriften zur preußischen Rechtsgeschichte 2). Lang, Frankfurt am Main 2005. 243 S. Besprochen von Siegbert Lammel.

 

Die Änderung von Gesetzen führt immer zu zumindest vorübergehenden Unsicherheiten hinsichtlich deren Anwendung. Das gilt umso mehr, wenn (auch) das gesamte Zivilrecht auf eine neue gesetzliche Grundlage gestellt wird, wie es mit der Einführung des Allgemeinen Landrechts in Preußen erfolgte. Nicht nur die Rechtsunterworfenen mussten sich an neue Normen gewöhnen, auch der sog. Rechtsstab, also insbesondere die Richter, waren verpflichtet, neues Recht anzuwenden. Prägend für die zukünftige Auslegung des neuen Rechts waren insbesondere die Obergerichte, deren Entscheidungen dann Leitliniencharakter zukommen sollte.

 

Diese Umbruchsituation legt Albrecht seiner Dissertation zugrunde. Da die Richter bei der Auslegung von Gesetzen – zumindest implizit, selten explizit – bestimmte Methoden  verwenden, befasst sich die Arbeit zunächst mit den zeitgenössischen Auslegungskriterien, wobei sie die von Thomasius eingeführten fünf neuen Interpretationsregeln hervorhebt. Daran anschließend werden Grundlagen und Entwicklung des ALR dargestellt, wobei dessen absolutistischer Wesenszug besonders betont wird, was sich auch auf das Richterbild des ALR auswirkt. Knapp zusammengefasst heißt das im Anschluss an Montesquieu: der Richter ist der Mund des Gesetzes, nicht aber sein Ausleger. Bekanntermaßen sollten deshalb Auslegungsfragen nicht vom Richter entschieden werden, sondern an die Gesetzgebungskommission verwiesen werden.

 

Auf dieser Basis werden dann ausgewählte Entscheidungen des Oberappellationssenats beim Kammergericht aus dem Zeitraum 1794 bis 1810 dargestellt und überprüft. Dabei stellt der Verfasser abschließend folgende Ergebnisse fest: die Richter haben sich weder an das Auslegungsverbot noch an die Pflicht zur Vorlage an die Gesetzeskommission gehalten, sondern die vorliegenden Sachverhalte entweder nach dem ALR oder nach gemeinem Recht entschieden; Methodenfragen, die die Rechtswissenschaft erheblich beschäftigt hatten, finden keinen Niederschlag in den Entscheidungen; allerdings sind auch keine Billigkeitsentscheidungen – im Vergleich zum österreichischen Allgeme3inen Bürgerlichen Gesetzbuch – festzustellen; dem Verdikt Wieackers, die Richter seien zum bloßen Subsumtionsautomaten degradiert worden, kann auch nicht zugestimmt werden; insgesamt werden die Normen des ALR wenig zitiert.

 

Diese Ergebnisse erstaunen weniger, wenn man die übliche Tätigkeit eines Richters betrachtet. Er bekommt mit den Akten einen Sachverhalt auf den Tisch, zwei Personen streiten sich - meist um Geld - und dieser Streit ist zu beenden. Angefangen wird im Regelfall mit der Klarstellung des Sachverhalts. Hier findet zunächst die Auslegungsarbeit statt; Zitate des Gesetzes sind hierbei nicht erforderlich. Welche Methode bei der Auslegung (zunächst des Sachverhalts) angewendet wird, erschließt sich nur im Rückblick; methodische Überlegungen sind im Urteil eigentlich überflüssig. Das heißt natürlich nicht, dass keine Methode zugrunde gelegt wird, nur muss das aus dem Ergebnis herausgelesen werden. Methodisches Arbeiten ist allein schon deshalb erforderlich, um bei disparaten Fällen überhaupt (auch innerhalb einer angemessenen Zeit und mit einem angemessenen Arbeitsaufwand) zu einem Ergebnis zu kommen. Bereits bei dieser Sachverhaltsaufbereitung wirkt – vielleicht sollte man sagen im Unterbewusstsein – die rechtliche Einordnung mit, so dass sich nach der Aufbereitung bereits – nahezu von selbst – ein begründbares Ergebnis herauskristallisiert. Dabei spielt es eigentlich keine große Rolle, ob ein Wechsel im Rechtssystem stattgefunden hat. Wie auch der Verfasser herausgearbeitet hat, beruht die gedankliche Arbeit des Richters mehr auf grundlegenden Rechtsprinzipien als auf Einzelnormen. Denn diese müssten – seien sie alt oder neu – eigentlich mit den Rechtsprinzipien übereinstimmen. Erst wenn diese Prinzipien wegen besonderer Einzelheiten des vorliegenden Falles in ihrer Allgemeinheit nicht weiterhelfen, muss auf eine konkrete Norm zurückgegriffen werden und dann setzt deren Auslegung ein und die Norm muss notwendigerweise auch zitiert werden. Und genau so haben auch die preußischen Richter gearbeitet. Dabei ist es nicht weiter verwunderlich, dass zunächst die allgemeinen Prinzipien im Vordergrund gestanden haben; denn mit den Normen des ALR mussten sie sich erst vertraut machen. Andererseits verdrängten diese Normen auch später nicht die allgemeinen Grundsätze. Der Verfasser kommt zwar zu dem Ergebnis, dass der Rückgriff auf das gemeine Recht im Laufe der Zeit nachgelassen hat. Nimmt man jedoch eine – willkürlich gegriffene – Entscheidung des Obertribunals aus späterer Zeit (OT 1, 151 aus dem Jahre 1836), so zeigt sich, dass an den Beginn der Entscheidung zwar die Normen des ALR gestellt werden. Deren Auslegung (hier Vermieterpfandrecht an den eingebrachten Sachen des Mieters nur, wenn der Mieter Eigentümer ist) wird jedoch anhand des gemeinen Rechts überprüft. Daraus ergibt sich zweierlei: das neue Recht verdrängte entgegen den ursprünglichen Absichten seiner Verfasser nicht das (alte) gemeine Recht; und: das Auslegungsverbot wurde schlicht nicht eingehalten und zwar schon in den Jahren kurz nach Erlass des Allgemeinen Landrechts. Ein Auslegungsverbot mag staatstheoretisch gerechtfertigt gewesen sein, im richterlichen Rechtsalltag war es schlicht kontraproduktiv. Die andere große Umstellung im Zivilrecht nahezu 100 Jahre später zeigt in der Rechtsprechung die selben Erscheinungen: zunächst reine Tatsachenbehandlung mit kurzem Rückgriff auf die neuen Normen (z. B. RGZ 58, 173/174 aus dem Jahre1904; selbst eine hochstreitige Frage wird auf diese Art beantwortet, RGZ 58, 181); erst später dann die doktrinäre Durcharbeitung des neuen Rechts (z. B. RGZ 76, 195 aus dem Jahre 1911). Abschließend mag noch auf die zeitgenössische deutsche Schuldrechtsmodernisierung verwiesen werden: auch hier gab es keine Probleme in der Anwendung des neuen Rechts, wobei zunächst die Wortlautinterpretation im Vordergrund stand (z. B. BGH NJW 2005, 739).

 

Die vom Verfasser konstatierte Problemlosigkeit bei der Anwendung des neuen Rechts kann daher verallgemeinernd auf die (zumeist verdeckt) methodische Arbeitsweise des Richters zurückgeführt werden. Insoweit wird durch die vorliegende Arbeit diese Methodik auch rechtsgeschichtlich durchleuchtet und bestätigt.

 

Frankfurt am Main                                                                  Siegbert Lammel