Württemberg 1797-1816/19. Quellen und Studien zur Entstehung des modernen württembergischen Staates, bearb. v. Paul, Ina Ulrike (= Quellen zu den Reformen in den Rheinbundstaaten 7). Oldenbourg, München 2005. in zwei Teilbänden XIV, 1-644, 645-1424 S.

 

Während neuere Arbeiten und Editionen die Reformpolitik in den Rheinbundstaaten Bayern, Berg, Westphalen, Nassau, Hessen-Darmstadt und Frankfurt (Großherzogtum) zuverlässig erschließen, fehlte bisher eine zuverlässige, quellenorientierte Darstellung der Reformära in Württemberg für die Jahre 1787-1816 unter dem Herzog Friedrich II. (König Friedrich I.) – die vom Titel her einschlägige Monographie von Erwin Hölzle: „Württemberg im Zeitalter Napoleons und der Deutschen Erhebung. Eine deutsche Geschichte der Wendezeit im einzelstaatlichen Raum“ (Stuttgart, Berlin 1937) ist nicht frei von nationalsozialistischem Gedankengut (vgl. S. 8f.). Diesem Mangel hilft die Berliner Habilitationsschrift, die sich als eine Synthese von Monographie und Edition versteht und die den Umfang der bisherigen Bände der Reihe um das Zwei- bis Dreifache übersteigt, in umfassender Weise ab. Der große Umfang des Werks beruht darauf, dass in Württemberg die Reformen nicht in großen zusammenhängenden Gesetzen kodifiziert wurden, sondern auf zahlreichen Verordnungen, Dekreten und Reskripten beruhten und vielfach nur Einzelverfügungen und Schreiben des Monarchen zu entnehmen sind. Die Verfasserin verfolgte eine doppelte Zielsetzung: Auf der einen Seite sollte auf der Basis eingehender Quellenstudien der Gesamtzusammenhang der zentralisierenden, gesellschaftlichen und politischen Reformen in Württemberg und damit die Entstehung des modernen württembergischen Staates aus staatlicher Perspektive dargestellt werden. Ferner zielt die Darstellung sowohl auf das unmittelbare „Ergebnis“ der staatlich initiierten Reform als auch auf den Reformprozess selbst ab. Letzterer wird dadurch veranschaulicht, dass die Entstehung zentraler Reformgesetze in sieben Schlüsselbereichen von Staat und Gesellschaft „von der ersten Konzeption – die ein Motiv oder einen Anlass voraussetzt – über den regierungsinternen Entscheidungsprozess bis hin zu seinem Erlass analysiert und dokumentiert wird“ (S. 11). In diesem Zusammenhang finden „Motive, Vorbilder und Entscheidungsgrundlagen“ vor allem Berücksichtigung. An der breiten Quellenedition wird deutlich, dass der „mit überlegenem Intellekt begabte und über eine schier unerschöpfliche Willens- und Arbeitskraft verfügende württembergische Landesherr“ (S. 57) im Gegensatz zu fast allen Fürsten der Rheinbundzeit die entscheidenden Impulse zur Reformpolitik gab und die meisten Verordnungsentwürfe eigenhändig korrigierte und damit die letzte Entscheidung traf.

 

Der erste Quellenabschnitt umfasst die „Grundlagen und Grundgesetze der Reformpolitik“. Die einführende Darstellung (S. 51-77) bringt eine Darstellung der Neuorganisation und der Innenpolitik Württembergs zwischen 1797 und 1816/19. Nach den mehrfachen Gebietserweiterungen umfasste Württemberg 1810 19.511 qkm (1803: 9.800) mit 1,1 Mio. Einwohnern (1803: 650.000). Alt-Württemberg war bis 1806 ein altständisch-oligarchisch, dualistisch regierter Ständestaat, zu dem Friedrich II. mit der „Entschädigung“ (reichsstädtische und kirchliche Territorien) ein bald als „Neu-Württemberg“ bezeichnetes Gebiet erwarb, über das er ohne Beteiligung der Stände verfügen konnte. Während des dreijährigen Bestehens dieses Landesteils wurden die „Prototypen aller Reformen“ eingeleitet, mit deren Hilfe ab 1806 die Zentralisierung, Bürokratisierung und politisch-kulturelle Homogenisierung Württembergs durchgesetzt wurden (S. 66). Mit der Begründung Württembergs als Königreich bereitete Friedrich 1806 der altwürttembergischen Ständeverfassung ein Ende (Wegfall der Landstände und der ständischen Steuerverwaltung sowie des Geheimrats; Einziehung des Kirchenguts) und erließ mit dem Beitritt zum Rheinbund am 18. 3. 1806 ein „Organisations-Manifest“ (S. 106ff.), durch das die politisch und religiös, ökonomisch und kulturell höchst verschiedenartigen Territorien Alt- und Neu-Württembergs vereinigt wurden (S. 52). Innerhalb der folgenden acht Jahre baute Friedrich, auf den Organisationserfahrungen in Neu-Württemberg aufbauend, seinen Staat zu einem Einheitsstaat aus, für den Gleichheit, religiöse Toleranz und weitgehende Einheit in den rechtlichen Regelungen bzw. ein einheitlicher Untertanenverband mit gleichen Rechten und Pflichten maßgebend waren. Die Gleichheit wurde radikaler als in den anderen Rheinbundstaaten durchgeführt. – Der erste spezielle Quellenabschnitt befasst sich mit der Entmachtung und Integration des Adels (S. 127ff.). Zunächst entrechtete Friedrich entgegen den schonenden Bestimmungen der Rheinbundakte den mediadisierten hohen Adel (insgesamt 45 Familien) und erzwang deren Integration in den württembergischen Staat. Während zunächst der Wirkungskreis der Justizkanzleien und Patrimonialgerichte nur eingeschränkt wurde, wurden letztere 1809 völlig beseitigt (Wiederherstellung der standesherrlichen Jurisdiktion unter dem Deutschen Bund durch Einzelverträge). Die Primogenitur und die Familienfideikommisse wurden 1808 abgeschafft zugunsten des egalitären Erbrechts des württembergischen Landrechts, ferner entfiel die Steuerfreiheit des Adels. 1806 führte der König – nach vergleichbaren Zwischenlösungen für Neuwürttemberg – nach Bayern als zweiter Rheinbundstaat durch das Organisations-Manifest die Ministerialorganisation (Fachministerien) und eine Behördenverfassung im Sinne der französischen Verwaltungsprinzipien ein (S. 225-256). Die Justiz war von der Verwaltung in der 2. und 3. Instanz getrennt; die Finanzverwaltung erhielt einen eigenen Behördenzug. – Für die Beamtenschaft kam es zwar nicht zu einer einheitlichen Staatsdienerpragmatik wie in Bayern. Jedoch arbeitete Friedrich, nach der Entmachtung der Stände durch Disziplinierung und Privilegierung der Beamtenschaft (u. a. durch Einführung des Dienstadels) in zahlreichen Einzelverordnungen einer modernen Beamtenpragmatik vor (S. 307-333), die erst am 28. 6. 1821 erging. – Mit dem Wegfall der Ständeverfassung verloren die Ämter als Landeswahlkörperschaften ihre verfassungsmäßige Bedeutung, behielten jedoch ihre Funktion als über den Gemeinden stehende Verwaltungseinheit. Nach der endgültigen Gebietseinteilung von 1810 gab es 65 Ämter mit jeweils rund 20.000 Einwohnern. Die Selbstverwaltung der Gemeinden wurde erheblich eingeschränkt und führte zu einer Entmachtung der alten Eliten (Ernennung der Schultheißen und der Magistratsmitglieder durch den Staat; Aufhebung der Dorf- und Stadtgerichte, an deren Stelle allgemein die Oberamtsgerichte traten; Kontrolle der Verwaltung und der Schuldenaufnahme). Nicht vollständig lösen konnte man die mit den Amts- und Stadtschreibern verbundenen Missstände.

 

Für die Rechtspflege führte Friedrich I. zwischen 1806 und 1811 eine einheitliche Gerichtsverfassung ein (S. 427ff.). Erste Instanz waren die noch nicht von der Verwaltung getrennten Oberamtsgerichte (mit laienrichterlicher Beteiligung) und die Provinzialjustizkollegien, die zweite Instanz bildeten für Zivilsachen das Oberjustizkollegium in Stuttgart, für Strafsachen dasjenige in Esslingen; die 3. Instanz – das Hofgericht – befand sich in Tübingen. Insgesamt stand Württemberg in der Modernisierung seiner Justizverfassung im oberen Bereich der Rheinbundstaaten. Auf der einen Seite hob es die auch nach 1814 nur teilweise wiederhergestellte Patrimonialgerichtsbarkeit auf, auf der anderen Seite fehlten wie in den anderen Rheinbundstaaten (abgesehen von Berg und Westphalen) eine Trennung von Justiz und Verwaltung in der unteren Instanz und die Beseitigung des privilegierten Gerichtsstandes. Im Abschnitt über die Modernisierung des Zivilrechts (S. 500-512) stellt Paul fest, dass Napoleon an Württemberg niemals das Verlangen gestellt habe, den Code Napoléon einzuführen, und dass man dort niemals an eine Einführung der französischen Kodifikation gedacht habe. Paul konnte in den annähernd vollständig überlieferten Aktenbeständen nicht den geringsten Hinweis „auf eine regierungsinterne Debatte über den Code civil finden“ (S. 509). Über eine eventuell negative Beurteilung des Code Napoléon durch die Stuttgarter Ministerialbürokratie und den Monarchen ließen sich keine Unterlagen auffinden. Die Gleichheit des Zivilrechts für alle Württemberger erreichte der König mit der Einführung des Landrechts von 1545/1610 in den neuen Landesteilen mit Aufhebung des bisherigen Rechts, soweit es dem Landrecht widersprach. Dies bedeutete, dass der Adel dem allgemeinen Erbrecht unterfiel. Das Volljährigkeitsalter wurde auf 25 Jahre festgesetzt. Demgegenüber sollte das Strafrecht in einer neuen Kodifikation zusammengefasst werden. Die 1808 begonnenen Arbeiten führten bis 1815 zwar zu mehreren Entwürfen (zuletzt vorbereitende Arbeiten durch Pfizer), die jedoch zunächst liegen blieben (zur weiteren Entwicklung bis zum Strafgesetzbuch von 1839 Rainer Schröder, Entwurf des StGB für das Königreich Württemberg Stuttgart 1823 und 1832, Frankfurt am Main 1989, S. 5ff.). Lediglich für die Staats- und Majestätsverbrechen kam es nach bayerischem Muster 1810 zu einer Neukodifikation (S. 604ff.). Hinsichtlich des Strafverfahrens wurde der Akkusationsprozess durch den Inquisitionsprozess abgelöst; die Folter war seit 1810 außer Übung und wurde 1809 offiziell abgeschafft. Das landesherrliche Strafschärfungsrecht blieb bis 1819 bestehen (Reform des Strafverfahrens durch die Strafprozessordnung vom 23. 6. 1843; Revision 1868). Eine Reorganisation der Gefängnisse und Zuchthäuser erfolgte 1810/11. Im Übrigen erhielt Württemberg während der Reformzeit weder eine neue Zivil- noch eine neue Strafprozessordnung (erstere erst mit den Teilreformen von 1818-1822 und durch die Zivilprozessordnung von 1868).

 

Die weiteren Abschnitte der Quellensammlung befassen sich mit der Polizei und der Gendarmerie (S. 645ff.; Polizeidekret von 1811 nach französisch-westphälischem Muster), der (scharfen) Zensurgesetzgebung (S. 693ff.), den Militärreformen (S. 752; Abschaffung der Standesbevorzugung 1798; demgegenüber in Preußen erst 1808), der Reorganisation der Post (S. 833ff.), mit der Kirchenpolitik, die zur vollen Religionsfreiheit führte (Toleranz, Parität; Beginn eines Staatskirchenrechts), mit der Rechtsstellung der Juden (S. 953ff.), dem Bildungswesen (S. 1074ff.), dem Medizinalwesen (S. 1159ff.), mit der Wohltätigkeit und der Armenpflege (S. 1219ff.) sowie mit der Modernisierung der Wirtschaft, des Handels und des Gewerbes (Handel, Zünfte, Zölle sowie Münzen, Maße und Gewichte; S. 1273ff.). Aus der Fülle der Reformmaßnahmen sei Folgendes hervorgehoben: 1808 lag der Entwurf einer „Ordnung für die Juden“ vor (S. 1011ff.), der an den regierungsinternen Gegnern eines umfassenden Emanzipationsgesetzes scheiterte. Jedoch traten die wichtigsten Regelungen des Entwurfs als Einzelvorschläge in Kraft, die allerdings hinter der Gesetzgebung von Baden und Bayern zurückblieben. Die Jahrhunderte lange Autonomie und finanzielle Selbstständigkeit der Universität Tübingen wurden durch die „Organisation der Gesetze“ für die Universität von 1811 von der „unabhängigsten zur unfreiesten Hochschule Deutschlands demontiert“ (S. 1105; Wiedereinsetzung in die meisten alten Rechte 1817). – Während der Reformzeit blieb die alte Gewerbeverfassung mit „liberalisierenden Modifikationen“ weiter bestehen (S. 1273). Die Zunftverfassung blieb zwar erhalten, jedoch wurde sie durch den Abbau der „Missbräuche“ erheblich gelockert (u. a. Säkularisierung der Zünfte) und der Umbau Württembergs von einem Agrar- zu einem Gewerbe- und Industriestaat in Gang gebracht (Einrichtung von Fabrikschulen; Musterausstellung 1812; Zolleinheit; Vereinheitlichung der Maße und Gewichte).

 

Mit ihrem Werk hat Paul die Reform des drittgrößten Rheinbundstaates erschlossen und sie mit den gleichzeitig in den anderen deutschen Staaten ablaufenden Reformprozessen vergleichbar gemacht. Allerdings hätte man sich hierzu mitunter noch detailliertere Informationen gewünscht. Das Gleiche gilt für die Reformen, die im Zusammenhang mit der Verfassung von 1817/19 stehen oder kurz danach ergingen. Zum Beispiel fehlt im Abschnitt über die Justizreformen ein näheres Eingehen auf das Zivilprozessrecht nach den Gesetzen von 1818-1822 (hierzu W. Schubert, Die Civilprozessordnung für das Königreich Württemberg von 1868, Goldbach 1997, Bd. 1, S. VIII ff.). Leider fehlt auch eine Zusammenfassung bzw. Gesamtwürdigung der Ergebnisse der Einzelreformen (Ansätze hierzu allerdings S. 1-12, 51ff.). Insgesamt liegt für den mit den Einzelheiten der württembergischen Landes- und Rechtsgeschichte nicht vertrauten Rechtshistoriker mit den Bänden von Paul erstmals ein umfassender Überblick über die Reformzeit in Württemberg vor, der eine Einbeziehung der württembergischen Rechtsgeschichte in die deutsche Rechtsgeschichte des 19. Jahrhunderts ermöglicht.

 

Kiel

Werner Schubert