Suppé, Rüdiger, Die Grund- und Menschenrechte in der deutschen Staatslehre des 19. Jahrhunderts (= Schriften zur Verfassungsgeschichte Bd. 71). Duncker & Humblot, Berlin 2004. 322 S.

 

Nach terminologischen Vorklärungen setzt anzuzeigende Studie im klassischen Naturrecht in der Ausprägung Samuel Pufendorfs und Christian Wolffs an, das die weitgefasste vorstaatliche libertas naturalis kontraktualistisch nur unter erheblichen Freiheitseinbußen in eine libertas civilis überführte, die sich ins absolutistische System fügte. Die salus publica bestimmte die Grenzlinie individueller Freiheit (S. 27f.), jedoch keine innerhalb des Staatszwecks wirksame Schranke (S. 31). Erst im Zuge der französischen Revolution sieht der Verfasser eine einschneidende Veränderung des deutschen Diskurses, wurde der Staat nicht länger als „bevormundender Glückseligkeitsstaat“ verstanden, sondern als rechtssichernde Einrichtung, in der Individualrechte einen zentralen Platz einnahmen (S. 35), wobei Kants Rechtsstaatsmodell der deutschen Freiheitsrechtslehre den Weg geebnet habe (S. 39). Neben der staatsgerichteten Dimension eignete den Freiheitsrechten eine Stoßrichtung gegen partikulare Gewalten und ständische Schranken in der Form objektiver Leitlinien eines staatlichen Reform- und Gesetzgebungsprogramms (S. 13f. u. 37f.). Geschildert werden die literarischen Schattierungen ebenso wie die vergleichsweise Reserviertheit der Kodifikationen in Österreich und Preußen. Auch die ersten verfassungsrechtlichen Grundrechtsnormierungen in den Rheinbundstaaten ließen nur sehr eingeschränkt von wirklichen Rechten sprechen (S. 70), was auch für das „Grundrechtssystem“ der deutschen Bundesakte gelte (S. 78f.). Das breite Feld der Freiheitspublizistik im deutschen Vormärz präsentiert der Verfasser aufgefächert nach Strömungen und Gruppierungen, die vom kritischen Naturrecht über sittlich-organische, konstitutionelle und restaurative Konzeptionen bis hin zu sozialistischen Menschenrechtslehren reichten. In die Diskussion der Ur-, Volks- oder Grundrechte waren nach zeitgenössischem Verständnis durchaus auch die Themen Volkssouveränität und Rechtsstaatlichkeit mit einbegriffen. Durch gründliche Aufarbeitung der „Inkubationsphase“ der Paulskirche tritt der Grundrechtskatalog der Frankfurter Reichsverfassung als Synthese des Vormärzes plastisch hervor. Die liberale Programmatik schlug sich umfassend in den Grundrechtsregelungen nieder, nicht aber die Forderungen der sozialistischen Bewegung (S. 203f.).

 

Während der Nachmärz etwa in der sittlich-organischen Staatsrechtslehre eines Hermann Schulze oder Johann Caspar Bluntschli den Grundrechten noch einen gewissen Selbststand bewahrt hätte (S. 209), habe der aufziehende staatsrechtliche Positivismus die Grundrechte ihres individualrechtlichen Charakters beraubt. Degradiert zu lediglich objektiven Kompetenzschranken seien sie zu einem Synonym für den Vorbehalt des Gesetzes verkümmert (S. 249ff.). Ausgiebig erörtert wird Carl Friedrich von Gerbers Programmschrift „Ueber öffentliche Rechte“ von 1852, in der die Grundrechte trotz ihrer „Reduzierung auf objektive Rechtssätze zur Begrenzung der Staatsgewalt“ die Basis für subjektive Untertanenrechte bildeten, wenn der Staat die grundrechtlich fixierten Grenzen überschreite (S. 237). In der Tat sind die Grundrechte bei Gerber aus dem Staatswillensrecht abgeleitet, das zum Bürger ein prinzipielles Unterwerfungsverhältnis begründet, ihm aber „negative Rechte, Rechte auf Anerkennung der freien, d. h. nichtstaatlichen Seite der Persönlichkeit“ einräumen kann (Gerber, Ueber öffentliche Rechte, 1852, S. 78), die „unter Voraussetzung eines bestimmten Thatbestandes eine Berechtigung (ein Recht im subjektiven Sinne) erzeugen“ (ebd., S. 79). Obgleich auch Paul Laband den subjektiv-rechtlichen Charakter der Grundrechte leugnete, weil sie als Negationen von Staatsgewalt „kein Objekt“ hätten, sicherten sie ihmzufolge dennoch „dem Einzelnen seine natürliche Handlungsfreiheit in bestimmtem Umfange“ (Laband, Das Staatsrecht des Deutschen Reiches, Bd. 1, 5. Aufl., 1911, S. 151). Zustimmend zitierte Laband den Satz von Gerhard Anschütz, es gebe statt der vielen Grundrechte „nur ein Grundrecht, das Recht auf Unterlassung gesetzwidrigen Zwanges“ (ebd., S. 151f., Anm. 2 a. E.), weshalb der Verfasser ihn als „gleichsam Art. 2 Abs. 1 GG vorwegnehmend“ einordnet (S. 262), wie dann übrigens auch noch Otto von Gierke, der zu den Autoren zählte, für die der Staat „im Recht“ stand und die Grundrechte subjektive Rechte enthielten (S. 289ff.). Selbst heute lassen sich Grundrechte als staatsrechtliche Kompetenzbegrenzungen verstehen, selbstredend mit einer erheblich ausdifferenzierten und institutionell abgesicherten Schrankenziehungsdogmatik, die auch den Gesetzgeber bindet. Auskunft über Labands Humanitätsanliegen gibt sein unlängst ediertes Vorlesungsmanuskript „Der Staat“, in dem er die „Geltendmachung der Menschenwürde“ zur „Wahrheit“ der naturrechtlichen Schule rechnete: „der Mensch ist nicht bloßes Object der staatlichen Gewalt, nicht bloßes Mittel für den Staat, sondern er ist selbst Kraft seiner persönlichen Würde Zweck. Seine Freiheit und sein Wohlbefinden sollen erreicht werden“ (Laband, Staatsrechtliche Vorlesungen, 2004, S. 89). Das „(deprimierend) schmale Ergebnis Labands zu den Grundrechten“ (S. 262) kann mithin durchaus aufgebessert werden.

 

Jena                                                                                                                           Walter Pauly