Strodthoff, Bert-Hagen, Die richterliche Frage- und Erörterungspflicht im deutschen Zivilprozess in historischer Perspektive (= Rechtshistorische Reihe 295). Lang, Frankfurt am Main 2004. 332 S. Besprochen von Wolfgang Sellert.

 

Das Thema dieser Kieler Dissertation ist vielversprechend. Aus den Tiefen der Geschichte des Zivilprozesses erwartet der Leser neue Einsichten und Erkenntnisse über die bis heute umstrittene richterliche Frage- und Erörterungspflicht, wie sie in § 139 ZPO geregelt ist. Dies gilt um so mehr, als der Verfasser in seiner Disposition konstatiert, eine historische Untersuchung seines Themas sei „aufschlußreich“, um „den heutigen Inhalt der richterlichen Frage- und Erörterungspflicht sowie eventuelle weitergehende Befugnisse im einzelnen zu bestimmen, aber auch um Ansatzpunkte für eine sachgerechte Reformierung“ des § 139 ZPO zu finden.

 

Der Verfasser geht chronologisch vor und befaßt sich zunächst mit der Entwicklung vom „klassischen römischen bis zum rezipierten gemeinrechtlichen Prozeß“. Diese nur knapp 18 Seiten umfassende Untersuchung, die zusätzlich einen für das Thema wenig ergiebigen Diskurs zum germanischen und altdeutschen Prozeß enthält und unvermittelt einschlägige Fragen im neueren italienischen Prozeß erörtert, ist nicht mehr oder weniger als eine pauschale, weitgehend auf  Sekundärliteratur gestützte Einleitungshistorie. Davon abgesehen ist das einschlägige und neuere Schrifttum nur unvollständig berücksichtigt worden. Das gilt beispielsweise für das Verfahren des Reichskammergerichts (vgl. u. a. B. Dick, Die Entwicklung des Kameralprozesses nach den Ordnungen von 1495 bis 1555, 1981). Der kurze Hinweis auf § 41 des Jüngsten Reichsabschieds, der ein im Ermessen des Richters stehendes Fragerecht enthalten soll, entbehrt daher der prozeßrechtsgeschichtlichen Verankerung. Insgesamt fehlt dem gefundenen Ergebnis, wonach sich der italienisch-kanonische Prozeß „aufgrund von Wechselwirkungen zwischen dem germanischen und römischen Recht zur Zeit der Völkerwanderungen“ sowie durch eine „wissenschaftliche Bearbeitung der römischen und germanischen Quellen durch geistliche und weltliche Juristen im Hochmittelalter“ entwickelt haben soll, die auf das Thema zentrierte quellenorientierte Tiefendimension.

 

Demgegenüber wird das Thema in der anschließenden Untersuchung über die „wichtigsten deutschen partikularen Gerichtsordnungen des 18. und 19. Jahrhunderts“ die normativer Zivilprozeßrechtsentwicklung in Preußen, Bayern, Hannover, Baden, Württemberg und Sachsen gründlicher geschildert. Allerdings hätte man mehr Konzentration auf die „Frage- und Erörterungspflicht“ erwartet, die nur in einem Verfahren eine selbständige Bedeutung haben kann, in dem die Parteien grundsätzlich die Verantwortung für die Beibringung der tatsächlichen Entscheidungsgrundlagen und Beweise tragen, mit aanderen Worten dort, wo die Verhandlungs- und Parteimaxime herrschen. Deswegen ist beispielsweise der vom Verfasser beschriebene preußische Zivilprozeß, soweit dort zeitweise die Inquisitionsmaxime eingeführt worden war, zwar ein Beispiel für die Stärkung der Prozeßleitungsmacht des Richters, für den Untersuchungsgegenstand aber weniger tauglich. Denn in diesem Verfahren sollte der Richter, wie der Verfasser zutreffend bemerkt, die Fürsorgepflicht haben, den Parteien „zu ihrem wahren Recht“ zu verhelfen. Gleichwohl erhält der Leser nicht nur hinreichende Informationen darüber, wie in den partikularen deutschen Prozeßordnungen die richterliche Frage- und Erörterungspflicht im Spannungsfeld von Untersuchungs- und Verhandlungsmaxime geregelt waren, sondern es wird für ihn auch sichtbar, welche staats- und rechtspolitischen Kräfte für die jeweils unterschiedlichen Gestaltungen maßgebend gewesen sind.

 

So gerüstet läßt man sich gern durch das nun folgende Kapitel „Die gesamtdeutschen Entwürfe [einer Zivilprozeßordnung] 1866-1877“ führen. Hier bekommt der Leser endgültig festen Boden unter die Füße. Der Verfasser wertet mit großer Sorgfalt die fast 7000 Seiten umfassenden Protokolle der Hannoverschen Kommission „zur Berathung einer allgemeinen Civilprozeßordnung für die deutschen Bundesstaaten“ gezielt für sein Thema aus. Besonders hier wird jetzt deutlich, daß die richterliche Frage- und Erörterungspflicht auf das engste mit der Ausgestaltung der Verhandlungsmaxime verbunden war, wobei der Einfluß des französischen Zivilprozeßrechts eine nicht unbedeutende Rolle spielte. Der Verfasser zeigt, wie sich mit der Abschaffung des sächsischen Beweisinterlokuts unter grundsätzlicher Beibehaltung der Verhandlungsmaxime die richterliche Aufklärungs- und Fragetätigkeit nicht nur auf die entscheidungsrelevanten Tatsachen, sondern auch auf die Bezeichnung der Beweismittel zu erstrecken begann. Er schildert ferner, wie 1871 die Justizkommission des Reichstags das Fragerecht zu einer Fragepflicht umwandelte, sei es, zur Ermittlung eines möglichst der Wahrheit entsprechenden Sachverhalts, oder sei es, um zu verhindern, daß ein Richter durch Nichtgebrauchmachen seines Fragerecht eine Klage vorschnell als unsubstantiiert abweisen könne.

 

Im letzten Hauptkapitel wird die richterliche Frage- und Erörterungspflicht von den Reichsjustizgesetzen bis in die Gegenwart dargestellt. Hier beschränkt sich der Verfasser auf die Frage- und Erörterungspflicht, wie sie in den §§ 139 Absatz 1 und  2 sowie in § 279 Abs. 3 ZPO i. d. F. v. 2002 geregelt ist. Schwerpunkte bilden dabei die Reformen des Zivilprozeßrechts von 1924, 1976 und 2002 sowie die „bislang nur wenig beachteten Reformüberlegungen“ zwischen 1933 und 1945.

 

Über eine Schilderung der normativen Entwicklung hinaus werden nun die einschlägige Literatur und Rechtsprechung berücksichtigt. In den sehr detaillierten und häufiger mit langen Textzitaten angereicherten Ausführungen scheinen die  kontrovers diskutierten Grundsatzfragen immer wieder durch. Insgesamt geht es um das Zentralproblem, wie weit man die Frage- und Erörterungspflicht ausdehnen kann, ohne der Verhandlungsmaxime inquisitorische Elemente unterzuschieben. Es ging folglich um ein ausgewogenes Verhältnis zwischen der Verhandlungsmaxime sowie der richterlichen Frage- und Erörterungspflicht. In diesem Zusammenhang spielte wiederholt die Frage eine Rolle, ob die Frage- und Erörterungspflicht lediglich eine „instruktionelle Dienstvorschrift“ oder eine zwingende Rechtsnorm sei, bei deren Verletzung ein Rechtsmittel erfolgreich hätte sein müssen.

 

Nachdem sich herausgestellt hatte, daß die Verhandlungsmaxime zu unangemessenen Verfahrensverlängerungen ausgenutzt wurde, entfernte man sich mit der 1924 verabschiedeten Prozeßrechtsreform von den „Grundsätzen des Individualismus“ und stärkte aus prozeßökonomischen Gründen die Prozeßleitungsbefugnisse des Richters. Diese Tendenzen paßten aus naheliegenden Gründen in das Konzept der Nationalsozialisten und sollten „braun angestrichen“ nun in einer Erforschung der „materiellen Wahrheit“ im Zivilprozeß ihre Vollendung finden. Obwohl Martin Jonas die Einführung des Amtsermittlungsgrundsatzes nach preußischem Muster vorgeschlagen hatte, konnte sich die Verhandlungsmaxime trotz einiger Neuerungen, wie beispielsweise der Pflicht der Parteien zu wahrheitsgemäßen und vollständigen Erklärungen (§ 138 I ZPO), halten. Die Belastung der Gerichte mit der Verantwortlichkeit für die Vollständigkeit des Prozeßstoffs, so wurde mehrheitlich argumentiert, widerspreche geradezu dem Gemeinwohlinteresse. Für Friedrich Lent war sie offenbar weiterhin ein wertvolles Gut einer freiheitlich-individualistischen Weltanschauung und das prozessuale Spiegelbild der Privatautonomie.

 

Die weiteren Ausführungen für den „Zeitraum von 1950 bis zur Gegenwart“ verlassen den rechtshistorischen Rahmen und sind den aktuellen Diskussionen gewidmet, wie sie nach dem 2. Weltkrieg, angefangen von dem „Gesetz zur Wiederherstellung der Rechtseinheit“ über die sog. „Vereinfachungsnovelle von 1976 bis zur ZPO-Reform von 2002 geführt worden sind. Zuverlässig und genau werden die dem Zivilprozeßrechtler im allgemeinen bekannten und in der einschlägigen Literatur schon oft erörterten Reformpläne und Reformergebnisse beschrieben. Zurecht widmet sich der Verfasser insbesondere dem mit der „Vereinfachungsnovelle“ eingeführten § 278 Abs. 3 ZPO, der ein die richterliche Frage- und Erörterungspflicht ergänzendes Verbot von Überraschungsentscheidungen enthält und aus systematischen Gründen durch die ZPO-Reform von 2002 in die Vorschrift des § 139 BGB als Abs. 2 integriert worden ist.

 

Im einzelnen wird anschaulich gezeigt, wie sich die Diskussionen in den altbekannten Bahnen bewegen. Dementsprechend geht es nach wie vor um eine im Rahmen der Verhandlungsmaxime vernünftige Ausgestaltung der richterlichen Frage- und Erörterungspflicht. Diese soll zwar einerseits ohne Gefährdung der richterlichen Unparteilichkeit für eine materiell richtige Entscheidung sorgen und vor Überraschungsentscheidungen schützen sowie andererseits vor dem Hintergrund überlasteter Gerichte die Konzentration und Beschleunigung eines Prozesses nicht behindern. Je nachdem welcher Maxime man den Vorrang gibt, scheint sich das Gewicht schnell zu Lasten oder zu Gunsten der richterlichen Frage- und Erörterungspflicht zu verschieben. Doch so einfach verhält es sich nicht, weil die richterliche Aufklärungspflicht nicht nur prozeßhemmend, sondern auch prozeßstraffend wirken kann, indem beispielsweise mit ihr durch eine erschöpfende Behandlung des Streitstoffes und seiner rechtlichen Implikationen weitere Prozesse vermieden werden können. Das gilt nicht zuletzt dann, wenn der Richter die Parteien auf noch nicht geltend gemachte materielle Einreden oder auf eine sachdienliche Klageänderung (vgl. § 263 ZPO) hinweist. Ausgehend von der Überlegung, daß es „Grenzbereiche der richterlichen Prozeßleitung“ gibt, in denen zwar eine Aufklärungspflicht abzulehnen, aus prozeßökonomischen Gründen aber ein im Ermessen des Richters stehendes Hinweisrecht wünschenswert wäre, schlägt der Verfasser de lege ferenda eine Ergänzung des § 139 Abs. 1 um folgenden Satz 2 vor: „Darüber hinaus kann das Gericht die Möglichkeit einer sachdienlichen Klageänderung (§ 263) erörtern sowie auf materiellrechtliche Einreden hinweisen“.

 

Ob mit dieser vom Verfasser an sich schlüssig begründeten Ergänzung die erhoffte „bessere verfahrensstraffende Wirkung der richterlichen Verhandlungsleitung erreicht werden kann“, ist eher skeptisch zu beurteilen. Denn angesichts der Ambivalenz und Komplexität des Problems lassen sich die Grenzen der richterlichen Aufklärungspflicht dogmatisch nicht streng ziehen. Deswegen wird es auch weiterhin der Erfahrung und dem Geschick eines Gerichts überlassen bleiben, wie weit es mit seiner Frage- und Aufklärungstätigkeit ohne unzulässige Grenzüberschreitungen im Einzelfall gehen will.

 

Göttingen                                                                                                       Wolfgang Sellert