Spitta, Dietrich, Die Staatsidee Wilhelm von Humboldts (= Schriften zur Rechtsgeschichte 114). Duncker & Humblot, Berlin 2004. 330 S.

 

Mehr als vierzig Jahre nach seiner Münchener rechtswissenschaftlichen Dissertation über „Wilhelm von Humboldts Ideen von den Grenzen der Wirksamkeit des Staates“ hat der Verfasser nun eine umfassend ausgearbeitete Betrachtung zu dessen Staatsidee und Staatspraxis vorgelegt. Wie sehr das Thema ihn beschäftigt hat, belegen einige einschlägige Aufsätze sowie eine mit einem Nachwort des Verfassers 1962 erschienene Ausgabe von Humboldts (1767-1835) schon klassischen „Ideen zu einem Versuch, die Grenzen der Wirksamkeit des Staates zu bestimmen“, die nach dem Abdruck einzelner Abschnitte in der Berlinischen Monatsschrift und Schillers Neuer Thalia im Jahre 1792 erstmalig 1851 posthum erschienen sind (S. 47). Anliegen der erneuten Beschäftigung ist der Nachweis, dass diese Jugendschrift das „Kernstück“ einer einheitlichen, später weiter ausgebauten Staatsidee bilde, an der Humboldt sich auch in seinem vielfältigen politischen Wirken orientiert habe. An der Grundüberzeugung, dass sich der Staat „aller positiven Sorgfalt für das physische und geistig-moralische Wohl seiner Bürger“ zu enthalten habe und „darauf beschränken sollte, bloß negativ für die Erhaltung ihrer Sicherheit zu sorgen“ (S. 55), habe er im Grunde auch dort festgehalten, wo ihn seine politische „Stellung“ zu einem abweichenden Handeln gezwungen habe, worin der Verfasser eine gewisse „Tragik Humboldts“ erblickt (S. 57 und 61). Insgesamt sei Humboldt immer von der jeweils konkreten Situation ausgegangen und habe versucht, seine Vorstellungen an das „politisch Machbare“ anzupassen (S. 299 und 311). Auch dort, wo eine Verstärkung der Staatsmacht zunächst unvermeidlich schien, habe Humboldt eine allmähliche Befreiung vom Staate erstrebt, belegt etwa durch seinen Vorschlag, die Universitäten durch die „Übertragung staatlicher Domänen vom Staat wirklich unabhängig zu machen“ (S. 100). Seinen „Helden“ stärkt der Verfasser auch gegenüber zeitgenössischen Autoren und Ideengebern, insbesondere Kant, der Humboldt lediglich dazu verholfen habe, „dasjenige klar zu erkennen, was er vorher bereits undeutlich empfunden hatte“ (S. 18). Zwar gingen in der politischen Philosophie „beide von der Notwendigkeit äußerer gesetzlicher Freiheit aus“, aber Kant habe zur Sicherung auf die Staatsform gesetzt, während Humboldt auf eine inhaltliche Einschränkung der staatlichen Wirksamkeit zielte (S. 156) und deswegen auch der Gewaltenteilung kaum Aufmerksamkeit schenkte (S. 223). Für seine Theorie habe Humboldt allerdings einen entscheidenden Impuls von seinem Lehrer Christian Wilhelm von Dohm erhalten, diesen jedoch eigenständig verarbeitet (S. 35f. und 40). Gerade für die Genese der frühen Schriften hätte sich eine Heranziehung der im selben Verlagshaus erschienenen Studie Christina M. Sauters über „Wilhelm von Humboldt und die deutsche Aufklärung“ (1989) angeboten.

 

Die stärkere Berücksichtigung der Staatsformfrage zählt für den Verfasser zu den Weiterentwicklungen, die Humboldt seiner Staatsidee im Laufe seines praktischen Berufslebens angedeihen ließ. Zwar habe er diese Frage schon in seiner Frühschrift „Ideen über Staatsverfassung, durch die neue französische Konstitution veranlasst“ gestreift (S. 167), aber erst nach den Befreiungskriegen in Denkschriften und seinen Entwürfen zur Bundesverfassung vom November 1814 die Erkenntnis zum Ausdruck gebracht, „dass der Nation ein Mitwirkungsrecht bei der Entstehung der Gesetze eingeräumt werden muss“ (S. 51). Dabei geht es Humboldt um eine Verbindung von landständischer und Repräsentativverfassung, die Gentz in seiner berühmten Denkschrift von 1819 als Alternativen präsentierte, wobei eine Behandlung der Nation als ungegliederte „Masse“ verhindert werden sollte (S. 171f.). Zunächst verfocht Humboldt ein eher berufsständisch-korporatives Modell, später wollte er auf eine örtliche Gliederung der Bürger umstellen (S. 173 ff.). Jedes künstliche Aufpfropfen hielt Humboldt in der Verfassungsfrage für verfehlt (S. 69 u. 71), die Verfassung solle sich vielmehr aus dem Charakter einer Nation ergeben (S. 227), wobei auch ein Reifungsprozess einzustellen sei (307). Grundsätzlich dürfe der Mensch auch „nicht so gebildet werden, dass er in die bestehende Staatsverfassung hineinpasst, sondern umgekehrt sollen die frei gebildeten Menschen die Verfassung in ihrem Sinne gestalten“ (S. 95 und 306). Weil Humboldts Staatsauffassung vom „inneren Wesen“ des Menschen und den „Gesetzen seiner inneren Bildung und Entwicklung“ ausgehe, klassifiziert der Verfasser sie als eine „anthropologische“ (S. 75). Von hier aus entfaltet der Verfasser den Humboldtschen Gedanken der „Nationalanstalten“ in Anlehnung an Rudolf Steiners Assoziationsbegriff (S. 83 und 87) und bringt im Zusammenhang mit Humboldts Bildungspolitik sogar die „Waldorfschulen“ ins Spiel (S. 96).

 

Die zweite staatstheoretische Erweiterung gilt dem Verhältnis der Staaten zueinander, das vom Prinzip der Unabhängigkeit der einzelnen Staaten getragen sein sollte (S. 230). Für die europäische Lage favorisierte Humboldt ein „Neutralitätssystem“, um durch ein Bündnis von Österreich und Preußen Konflikte zwischen Frankreich und Rußland zu verhindern (S. 233). Für Deutschland erstrebte Humboldt im Vorfeld des Wiener Kongresses eine Einheit unter Einschluss Österreichs in Form eines „Staatenvereins“ mit „Verfassungscharakter“ (S. 252). Bemerkenswert sind seine Vorschläge für ein Bundesgericht mit Beschwerdemöglichkeiten sowohl der Stände als auch der Bürger (S. 256). Die Deutsche Bundesakte (1815) nannte er ein „erbärmliches Machwerk“ (S. 286), das deutlich hinter seinen Erwartungen und Bemühungen zurückgeblieben war. Den Deutschen Bund ordnete er als Bundesstaat ein und begrenzte ihn, den Ideen seiner Jugendschrift folgend, auf die Erhaltung innerer und äußerer Sicherheit (S. 289), womit sich der Kreis der Beweisführung schließt.

 

Jena                                                                                                                           Walter Pauly