Schliesky, Utz, Souveränität und Legitimität von Herrschaftsgewalt. Die Weiterentwicklung von Begriffen der Staatslehre und des Staatsrechts im europäischen Mehrebenensystem. (= Jus Publicum 112). Mohr (Siebeck), Tübingen 2004. XIX, 815 S.

 

Ausweislich ihres Untertitels erstrebt die anzuzeigende Kieler Habilitationsschrift eine Fortentwicklung der publizistischen Terminologie, um die neue Herrschaftslage in der Europäischen Union adäquat auffassen zu können. Der überwiegende Teil der Arbeit ist von daher Grundfragen des europäischen Verfassungsrechts gewidmet. Den „Neuorientierungen“ geht allerdings eine „Bestandsaufnahme“ voraus, die neben den „Auflösungserscheinungen“ auch die „Entwicklungsgeschichte“ der zentralen Kategorien „Staat“, „Souveränität“ sowie „Legitimität“ und „Legitimation“ beleuchtet. Die genannten Begriffe erweisen sich dabei als historisch relativ, gebunden an bestimmte geschichtliche Konstellationen und Kontexte. Ihre Fortschreibung zu einer scheinbar allgemeingültigen Terminologie im 19. Jahrhundert begreift der Verfasser als den „Beginn des Weges in die Sackgasse, in der sich die heutige deutsche Staatsrechtslehre befindet“, exemplarisch dargelegt am Beispiel sog. „Staatssouveränität“, die als Kompromissformel zwischen Fürsten- und Volkssouveränität zugleich die „Einzigkeit, Einheitlichkeit und Unteilbarkeit der Herrschaftsgewalt“ im konstitutionellen Zeitalter retten sollte (S. 100). Auch die „Fixierung des Staatsdenkens auf die ethnische Dimension des Staatsvolk-Begriffes“ gehört für den Verfasser zum Erbe des 19. Jahrhunderts (S. 33), das selbstredend kaum europarechtliche Anschlussfähigkeit besitzt (S. 327). Während das „ius soli-Prinzip“ aus der mittelalterlichen Grundherrschaft hervorgegangen sei, habe erst die Nationalisierung dem „ius sanguinis-Prinzip“ zum Durchbruch verholfen (S. 33).

 

Besondere Aufmerksamkeit findet der „herrschaftspluralistische ,Staat’ des Mittelalters“, da die gegenwärtige „Machtdiversifikation“ erhebliche juristische Erklärungsschwierigkeiten mit sich bringe (S. 37). Geschildert wird die personenrechtliche Struktur des Lehnsstaates samt seiner territorialen Komponenten, die langsame Ausbildung einer „transpersonalen Herrschaftsvorstellung“ schon im frühen Mittelalter (S. 14), die ansatzweise Entwicklung von „transpersonalen Staatsvorstellungen“ im Hochmittelalter sowie die Bedeutung von Säkularisierung und Konfessionalisierung für die „Erstarkung der Territorialgewalten“ (S. 18). Die dem modernen Staat geltende Drei-Elemente-Lehre Georg Jellineks kritisiert der Verfasser hinsichtlich des Staatsgebiets als „ahistorisch“, weil sie rein personenrechtlich konzipiert sei und damit das mit dem imperium untrennbar verbundene dominium verzeichne und vernachlässige (S. 28f.). Überhaupt hat der staatsrechtliche Positivismus in der Studie des Verfassers einen schweren Stand, ende mit ihm doch die Verbindung von Staatsrechtslehre und staatsphilosophischen wie historischen Erörterungen (S. 224). Folge der „positivistischen Verengung“ sei ein Mangel an Reflexion von Staatsideen und Staatszwecklehren (S. 46f.). Hier hätte insbesondere ein Blick in die unlängst edierten staatsrechtlichen Vorlesungen Paul Labands eines besseren belehren können. Aber nicht nur der bis in den Weimarer Methoden- und Richtungsstreit fortgeführte und bei Hans Kelsen zugespitzte Positivismus genügt dem Verfasser zufolge nicht den Herausforderungen der unionalen Supranationalität, sondern auch die Konzeptionen Carl Schmitts und Hermann Hellers werden als insuffizient eingestuft (S. 117).

 

Europarechtlich vergleichsweise ergiebig erweist sich die ältere Verfassungsgeschichte, vor allem angesichts der fehlenden Gleichsetzung von Herrschafts- und Staatsgewalt (S. 37f.) sowie der Relativität des Souveränitätsbegriffs, jedenfalls vor Bodin im Dualismus von gladius spiritualis und gladius materialis (S. 61f.). Souveränität wird bei Bodin als absolut und unteilbar präsentiert, jedoch nicht auf den Staat bezogen, sondern auf eine umfassend rechtssetzungsbefugte Herrschaftsgewalt, die eine „Einzigkeit des Trägers“ verlange (S. 79). Keineswegs war damit ein „körperschaftliches Modell“ ausgeschlossen, wie Bodins Auffassung des Reichs als Aristokratie zeige (S. 80). Das vom Verfasser für die Europäische Union verfochtene „Konzept einer gemeinsamen Souveränität“ (S. 507ff.) trifft damit selbst bei Bodin auf die anerkannte „Möglichkeit einer in der Ausübung gemeinsamen Souveränität“ (S. 122). Erst recht gilt dies für die in der reichsstaatsrechtlichen Rezeption von Limnaeus vorgenommene, durch Althusius vorbereitete Differenzierung zwischen maiestas realis und maiestas personalis, die eine Entpersonalisierung der Souveränitätslehre bewirkt und zudem in der Sache die spätere Unterscheidung von Staats- und Organsouveränität vorweggenommen habe (S. 84f.). Mit der Wendung „bereits im Mittelalter“ setzt der Verfasser auch ein Fragezeichen hinter die zu „holzschnittartige Reservierung des normativen Verfassungsbegriffs für den modernen Staat“ und verweist auf die leges fundamentales, die „Elemente einer Komplementärverfassung“ geliefert hätten (S. 42f.). Schließlich wird der Verfasser auch hinsichtlich seines Legitimitätskonzepts, das angesichts einer brüchigen „input-Legitimation“ der Europäischen Union ergänzend auf eine „output-Legitimation“ setzt (S. 656ff.), rechtshistorisch fündig. Der schon im römisch-rechtlichen Ursprung bipolare Legitimitätsbegriff habe immer schon input-Elemente, sei es durch Abstammung, Erbfolge, göttliche Amtseinsetzung oder päpstliche Übertragungsakte oder gar qua Volkssouveränität, gekannt, daneben aber eben auch eine output-Orientierung auf Gemeinwohlerreichung, Sicherheits- und Freiheitsgewähr (S. 181ff.). Rousseau habe allerdings „den output weitestgehend vernachlässigt“ (S. 213), während etwa Hobbes neben dem einmaligen input via Gesellschaftsvertrag zentral auf den output einer Sicherheitsgewährleistung abgestellt habe (S. 202). Bei Bodin zeige sich der innere Zusammenhang von Souveränität und Legitimität an der Legitimierung souveräner Gewalt anhand der „antizipierten output-Bewertung“ danach, welche Herrschaftsgewalt „am besten“ die Sicherheits- und Friedensgewähr übernehmen könne (S. 201). Tröstlich zu sehen, wie das europäische Demokratiedefizit auf diese Weise historisch relativiert werden kann.

 

Jena                                                                                                                           Walter Pauly