Schlegel-Voß, Lil-Christine, Alter in der „Volksgemeinschaft“. Zur Lebenslage der älteren Generation im Nationalsozialismus (= Schriften zur Wirtschafts- und Sozialgeschichte 80). Duncker & Humblot, Berlin 2005. 327 S., graph. Darst.

 

Nach Meinung von Schlegel-Voß hat sich die bisherige, zum Teil reichhaltige Forschung zur Geschichte des Sozialrechts im Wesentlichen auf die Gesetzgebung beschränkt. Erst die Berücksichtigung der Auswirkungen dieser Gesetzgebung „auf die Lebenslage alter Menschen“ erlaube, so die Verfasserin, „eine abschließende Beurteilung der Sozialpolitik für die ältere Generation und ihrer Funktion im nationalsozialistischen Herrschaftssystem“ (S. 19). Neben den sozialpolitischen Maßnahmen nimmt deshalb die Verfasserin auch die Lebenslage und den Sozialstatus der älteren Generation in den Blickpunkt ihrer Untersuchungen. Allerdings ist dies entgegen der Ankündigung und dem Buchtitel nur in geringem Ausmaß erfolgt. Außer einem knappen Abschnitt über die Bedeutung des Alters in der nationalsozialistischen Volksgemeinschaftsideologie (S. 22) geht die Verfasserin abschließend noch auf die stationäre Altenhilfe und die Einbeziehung alter Menschen in die „Euthanasie“ ein (S. 250ff.). Durchgehend wird – und darin liegt vor allem das Verdienst der Untersuchungen der Verfasserin – die Lebenslage alter Menschen anhand ihrer Einkommenssituation rekonstruiert. In den vier Hauptteilen: Öffentliche Rentenversicherung, Handwerkerversicherung, Pläne der Deutschen Arbeitsfront (DAF) zu einem Altersversorgungswerk und zusätzliche Alterssicherungssysteme geht die Verfasserin im Wesentlichen der Gesetzgebungsgeschichte unter Berücksichtigung der jeweiligen Höhe der Renten und sonstigen Unterstützungsleistungen nach.

 

Während der Weimarer Zeit waren in der Konsolidierungsphase die Renten weit über das Vorkriegsniveau hinaus gestiegen. Erhebliche Kürzungen erfolgten dann durch Notverordnungen von 1931 und 1932, ein Weg, den das NS-Regime durch das sog. Sicherungsgesetz vom 7. 12. 1933 noch fortsetzte. Obwohl das Parteiprogramm der NSDAP von 1920 einen großzügigen Ausbau der Altersversorgung verlangt hatte, verblieb es unter dem Nationalsozialismus bei der Sparpolitik der Präsidialkabinette; die Renten bewegten sich bis 1939 auf dem niedrigen Krisenniveau, so dass sich die relative Einkommensposition der Rentenempfänger angesichts der Lohn- und Gehaltszuwächse sowie gesteigerter Lebenshaltungskosten bis Kriegsbeginn zunehmend verschlechterte. Geringe Leistungsverbesserungen durch das Ausbaugesetz vom 21. 12. 1937 und das Abbaugesetz vom 19. 4. 1939, welche die Härten der Notverordnungen leicht abmilderten, wurden propagandistisch ausgeschlachtet. Das Leistungsverbesserungsgesetz vom 24. 7. 1941 brachte außer der Einbeziehung der Rentner in die gesetzliche Krankenversicherung Rentenerhöhungen, die kaum über einen Ausgleich der Anfang der 30er Jahre erfolgten Kürzungen hinaus gingen. Das NS-Regime durchbrach seine bis Kriegsende durchgehaltene restriktive Rentenpolitik lediglich mit der Einführung der Handwerkerversicherung (1938) und der Reform der Knappschaftsversicherung im Jahre 1942, die zu einer erheblichen Steigerung der Versorgungsbezüge der in der Krisenzeit besonders stark gekürzten Versorgungsbezüge der Bergleute führte. Gleichwohl galt weiterhin das Verdikt Reinhard Jakobs (Präsident der Reichsknappschaft), der 1942 in einer internen Stellungnahme schrieb: „Von den fünf großen, bekannt gegebenen sozialen Planungen des nationalsozialistischen Staates, der Altersversorgung ... ist für die breite Öffentlichkeit wohl nichts Greifbareres vorhanden, als die gelegentliche Ankündigung in Presseartikeln und die Wiedergabe in Reden“ (S. 120). Neben den „öffentlichen Versicherungen“ behandelt die Verfasserin auch die Lebensversicherung als „zusätzliche Säule der Alterssicherung“ und die öffentliche Fürsorge. Zur letzteren zählt sie auch die Sozialfürsorge und die Fürsorge für Kleinrentner, die in der Inflation ihr Vermögen verloren hatten. Während die Kleinrentner wegen der politischen Nähe ihres Interessenverbandes deutliche Verbesserungen schon 1934 erzielen konnten, kam für die übrigen Bezieher von Fürsorgeleistungen – darunter fielen wegen der niedrigen Renten ein großer Teil der Rentner und deren Angehörige – zu einer spürbaren Anhebung der Richtsätze erst 1941/42, die jedoch nicht das Leistungsniveau der Weimarer Zeit erreichten. Durchgehend berücksichtigt die Verfasserin die sukzessive Ausgrenzung der Juden aus der öffentlichrechtlichen Rentenversicherung, den Lebensversicherungen und den Fürsorgeleistungen. In einem eigenen Abschnitt behandelt sie das von der DAF für die Nachkriegszeit geplante „(Alters-)Versorgungswerk“ (S. 158ff.). Das als allgemeine Bürgerversicherung geplante Versorgungswerk sollte auf dem Umlageverfahren beruhen und damit die Versorgungsansprüche von den geleisteten Versicherungsbeiträgen entkoppeln (zu den Einzelheiten vgl. die Entwurfstexte bei W. Schubert, Protokolle der Ausschüsse der Akademie für Deutsches Recht, Ausschuss für die Reform der Sozialversicherung/für Sozialversicherung [1934-1944]. Versorgungswerk und Gesundheitswerk des Deutschen Volkes [1940-1942], Bd. X, Frankfurt a. M. 2000, S. 513ff.). Das angestrebte Versorgungsniveau war im Vergleich zu den bestehenden Alterssicherungssystemen angesichts auch der geplanten „Dynamisierung“ der Leistungen vergleichsweise hoch. Allerdings lässt sich der Grundgedanke einer umlagefinanzierten dynamischen Rente kaum als Vorläufer der Rentenreform von 1957 interpretieren: „Als Kompensation für Unterdrückung und Ausbeutung bot das ,Versorgungswerk’ der sozial angepassten ,erbgesunden’ deutschen Bevölkerung die Teilhabe an der künftigen Wohlstandsentwicklung und eine sozialpolitische Vorrangstellung vor dem besiegten und ,befreundeten’ Nachbarn. Durch die Verbindung von Disziplinierung und partieller Integration war das ,Versorgungswerk’ wesentlicher Bestandteil einer umfassenden Sozialstrategie zur langfristigen Herrschaftssicherung, die zugleich auch kurzfristig legitimitätsstiftend wirkte“ (S. 278). Die Pläne der DAF stießen bei den übrigen Ressorts auf scharfen und geschlossenen Widerstand, die sich schnell auf Leistungsverbesserungen innerhalb des überkommenen Sozialversicherungssystems einigten.

 

Nach Meinung der Verfasserin war die Rentenpolitik der Kriegszeit Teil einer „Bestechungspolitik“, die darauf gezielt habe, „durch die tatsächliche oder auch nur in Aussicht gestellte Befriedigung sozialer Bedürfnisse die ,innere Front’ zu befriedigen, den Durchhaltewillen der Bevölkerung zu stärken und Massenloyalität zu erzeugen“ (S. 109f.). Da eine deutliche Verbesserung der sozialen Lage der Rentenempfänger von sekundärer Bedeutung war, habe sich diese Politik in erster Linie an die mittlere Generation gerichtet: „Die tatsächlichen oder in Aussicht genommenen Leistungsverbesserungen stellen ein Versprechen an die erwerbstätige Generation dar, ihre Opfer und Entbehrungen nach dem Krieg großzügig zu entlohnen“ (S. 110). Ob sich diese allerdings hat täuschen lassen, ist weiterhin eine offene Frage, zumal die geringe Achtung der alten, invaliden oder pflegebedürftigen Menschen ein konstitutives Element der nationalsozialistischen Volksgemeinschaftsideologie war. Jedenfalls dürften die Rentner von den Raubzügen des Nationalsozialismus (hierzu Götz Aly, Hitlers Volksstaat. Raub, Rassenkrieg und nationaler Sozialismus, Frankfurt am Main 2005) nur geringfügig profitiert haben, da die Verbesserungen von 1941/42 nur geringe Summen erforderten und vom Reichsarbeitsministerium vorgeschlagene Rentenerhöhungen um 40-50% (vgl. S. 106) bis Kriegsende auf erheblichen Widerstand beim Reichsfinanzministerium stießen. Schlegel-Voß hat für die Gesetzgebungsvorhaben durchgehend die einschlägigen Archivalien des Bundesarchivs Berlin herangezogen, ohne diese allerdings im Literaturverzeichnis detailliert aufzuführen. Sehr knapp sind die Hinweise auf die umfangreichen Arbeiten des Ausschusses der Akademie für Deutsches Recht für Sozialversicherung (vgl. S. 66, 70, 135, 197; Quellen bei W. Schubert¸ a. a. O., S. 1-512). Bedauerlich ist, dass die Verfasserin die Altersversorgung der Beamten und in der Landwirtschaft nicht einmal ansatzweise berücksichtigt hat (vgl. S. 20), so dass die Darstellung insoweit unvollständig bleibt. Leider fehlen auch detaillierte Hinweise darauf, inwieweit die unter dem Nationalsozialismus erfolgten Änderungen des Sozialversicherungsrechts – selbstverständlich ohne die diskriminierenden Regelungen für Juden und andere Bevölkerungsgruppen – nach 1945 bis zur Rentenreform von 1957 in Kraft blieben. Ungeachtet dieser offen gebliebenen Wünsche gibt das Werk von Schlegel-Voß einen umfassenden Einblick in die Entwicklung des Rechts der Alterversorgung in der NS-Zeit, wie er bisher in dieser Breite als annähernd vollständige Gesamtdarstellung nicht vorlag.

 

Kiel

Werner Schubert