Offenloch, Werner, Erinnerung an das Recht. Der Streit um die Nachrüstung auf den Straßen und vor den Gerichten. Mohr (Siebeck), Tübingen 2005. 230 S.

 

I. Die Sitzblockaden gegen die Nachrüstung

 

Das Buch schildert ein bewegtes und bewegendes Geschehen um die Straßenblockaden vor dem Atomwaffenlager Mutlangen bei Schwäbisch Gmünd. Die Ereignisse haben den kleinen Ort Mutlangen, aber auch das Amtsgericht Schwäbisch Gmünd, nicht zuletzt seinen damaligen Richter und seit 1990 Direktor, den Autor des vorgestellten Buches, weit über die Bundesrepublik hinaus bekannt gemacht. Viele Leitmedien aller Art waren häufig zu Gast. Wissenschaftler aus dem Ausland studierten die Protestszene. Der Amtsrichter in Schwäbisch Gmünd erhielt Einladungen zu Vorträgen, Diskussionsrunden, wissenschaftlichen Beiträgen und Interviews von überall her. Bei vielen anderen öffentlichen Gelegenheiten hat er, etwa auch in der „Pressehütte“ der Protestierer zu Mutlangen, in Wort und Schrift seine juristischen Positionen zu Straßenblockaden vertreten.

 

Über dem ganzen Geschehen um Mutlangen und um die Verfahren dazu in Schwäbisch Gmünd könnte der Satz stehen, den Max Frisch dem 12. Bild seines Stückes „Andorra“ vorangestellt hat. Dort läßt er einen Zeitzeugen des grausamen Geschehens sagen: „Wir sind sozusagen einer gewissen Aktualität erlegen. Es war, vergessen wir nicht, eine aufgeregte Zeit.“

 

An „aufgeregten Zeiten“ herrschte in den letzten hundert Jahren der deutschen Geschichte kein Mangel. Dabei ist nicht nur an die vielen System- und Verfassungswechsel (1918/19, 1933, 1945/49 und 1989/90) zu denken. Auch die Kulturrevolution um 1968, der Kampf um die Notstandsgesetze und die blutige Spur der Terroristenmorde in den siebziger Jahren mit der klammheimlichen Freude in einer nicht eben kleinen Sympathisantenszene in westdeutschen bürgerlichen und intellektuellen Zirkeln gehören dazu.

 

II. Strategien der Erinnerungskultur

 

Der Titel des Buches weist darauf hin: Es geht zuerst um Rechtsgeschichte. Rechtsgeschichte ist immer ein dialektischer Prozeß gewesen. Neues Recht entsteht regelmäßig aus Unrechts- und Leiderfahrungen. Die Beispiele für diese These sind zahllos: Das Grundgesetz als Folge des NS-Systems, Das Arbeitsrecht als Folge der Verelendung der Arbeiter im Prozeß der Industrialisierung, Das Gesellschafts- und Wettbewerbsrecht als Folge von Mißbräuchen im Wirtschaftsleben.

 

Erinnerungen werden einerseits von Fakten, andererseits von Vorverständnissen geprägt. Sie sind regelmäßig nicht wertneutral, sondern meist selektiv, nicht selten standpunkt-bezogen und zielgerichtet. Wir erleben das in Deutschland bei der Beschäftigung mit zwei totalitären Systemen.

 

Die sog. Erinnerungskultur ist dabei oft ein Deckname für das Anstreben von Deutungsmonopolen. „Bewältigt“ wird dabei üblicher Weise nicht die eigene, sondern die Vergangenheit anderer. Den Zeitgenossen soll aufgedrängt oder auch vorgeschrieben werden, was sie über bestimmte historische Vorgänge und Epochen zu denken haben. Beispiele sind der erste und zweite Historikerstreit um Ernst Nolte und seine Richter (Habermas, Wehler, Kocka), der Literaturstreit um Christa Wolf, Hermann Kant, Reich-Ranicki, Reiner Kunze, Walter Kempowski und andere. Zu erinnern ist auch an die umstrittene Deutung der Vorgänge um und nach 1967/1968 als „Kulturrevolution“ einerseits oder als „Befreiung einer verkrusteten, reaktionären Gesellschaft“ andererseits.

 

Werner Offenlochs Werk ist ein Geschichtenbuch, das bestimmte Vorgänge aufklären und vor dem Vergessen bewahren will. Es beschreibt eine dramatische Epoche der deutschen Rechtsprechung, nämlich die sog. Blockade-Rechtsprechung zwischen 1984 und 1995, primär die des Amtsgerichts Schwäbisch Gmünd und des Landgerichts Ellwangen in ihrem Verhältnis zum Oberlandesgericht Stuttgart, zum Bundesgerichtshof in Strafsachen und zum Bundesverfassungsgericht.

 

Aber dem Autor geht es nicht primär um die Geschichte, sondern um die Gegenwart und um die Zukunft vor dem Hintergrund seiner Erlebnisse. Er folgt dem Erfahrungssatz: Wer sich nicht oder falsch erinnert, den bestraft die Zukunft! Schärfer formuliert: Zukunft braucht Herkunft! Die Kenntnis und Akzeptanz der Geschichte ist notwendig, um die Gegenwart meistern zu können.

 

III. Naturrechtlich begründeter Widerstand in der Demokratie?

 

In Mutlangen und vor dem AG Schwäbisch Gmünd ging es vielen Blockieren vor allem um ein „Recht zum Widerstand“, nämlich Widerstand gegen vermeintlich unmoralische rechts- und verfassungswidrige Entscheidungen des deutschen Bundestages unter zwei verschiedenen Bundesregierungen zum „Nato-Doppelbeschluß“ in Sachen Nachrüstung von atomaren Mittelstrecken-raketen; Widerstand in der Form von Straßenblockaden; Widerstand gegen deutsche Polizisten und amerikanische Militärangehörige, die in Mutlangen ihren Dienst verrichteten.

 

Das Widerstandsrecht ist eine archaische Rechtsfigur, ein unterschiedlich begründetes, äußerstes und in den Augen seiner Vertreter immer „höheres“ Recht gegen anders nicht zu bekämpfendes staatliches Unrecht. Es wurde schon in der Antike (Tyrannenmord), mehr noch im Mittelalter diskutiert. Die Begründungen sind religiös, philosophisch oder humanitär nach Epochen verschieden. In Deutschland haben die totalitären Systeme des NS-Staates und des SED-Staates diese Diskussion wach gehalten.

 

Im Widerstand wird das uralte Spannungsverhältnis lebendig, das zwischen der staatlichen Machthabe (den staatlichen Gesetzen) und dem Rechtsbewußtsein der Bürger entstehen kann. Es geht um den Gegensatz von „Legalität“ und „Legitimität“ (C. S.). Hinter dem Gedanken des höheren Rechts, das über dem des Staates rangiert und staatliche Gesetze zu durchbrechen erlaubt, steht seit Aristoteles (384-322) und der Philosophenschule der Stoa (ca. 300 v. Chr.) in wechselnden Formen der Gedanke eines dem Staate vorgegebenen Naturrechts. Nahezu alle Widerstandskämpfer der Menschheitsgeschichte, erst recht alle Revolutionäre haben sich darauf berufen. Schiller hat ihm ein Denkmal gesetzt, indem er in seinem Wilhelm Tell (2. Aufzug, 2. Szene) den Bauern Stauffacher sagen läßt:

„Nein, eine Grenze hat Tyrannenmacht: Wenn der Gedrückte nirgends Recht kann finden, Wenn unerträglich wird die Last – greift er Hinauf getrosten Mutes in den Himmel Und holt herunter seine ew’gen Rechte, Die droben hangen unveräußerlich Und unzerbrechlich wie die Sterne selbst…“

 

Auch die Baader-Meinhof-Bande beging ihre Morde und Verbrechen im Namen eines vermeintlich höheren Rechtes und einer „besseren“ Ordnung.

 

Der Naturrechtsgedanke ist in einem demokratischen und liberalen Rechtsstaat nicht leicht einzuordnen. Auch das haben die Blockierer-Prozesse gezeigt. Als bisher tragfähig hat sich am ehesten die Konstruktion erwiesen, die Grundrechte des Grundgesetzes seien als „positiviertes Naturrecht“ zu verstehen. Dieser Weg läßt die Gesetzesbindung der Gerichte und die Pflicht der Bürger zum Rechtsgehorsam gegenüber verfassungsmäßig erlassenen Gesetzen unangetastet. Denn Demokratie ist ja gerade die Staatsform, die, soweit wie möglich, die Herrschaft von Menschen und ihrer Neigung zu Willkür durch die Herrschaft demokratisch zustande gekommener Gesetze ersetzt.

 

Jedem Bürger steht nach Art. 19 IV GG der Rechtsweg bis zum Bundesverfassungsgericht offen, wenn er sich durch die öffentliche Gewalt, auch durch ein staatliches Gesetz, in seinen Rechten verletzt fühlt. Er ist dabei strikt auf den Rechtsweg, nicht aber auf die Selbsthilfe mit rechtswidrigen Mitteln verwiesen. Wer den verfassungsmäßigen Gesetzen eigenmächtig den Gehorsam verweigert, sprengt die Fundamente des demokratischen Rechtsstaates. Er fordert die Herrschaft der Minderheit über die Mehrheit auf dem Umweg über die Anarchie (Ähnlich Eschenburg, Topitsch, Isensee, Karpen, Wassermann, Starck u. v. a.). Die Gegnerschaft zum demokratischen Mehrheitsprinzip war und ist oft der Kern des Streites um das Widerstandsrecht.

 

Ob Straßenblockaden grundrechtlich gerechtfertigt werden können, das war einer der Hauptstreitpunkte der Blockadeverfahren. Ich persönlich meine, sie seien nur im Falle eines Angriffs auf die Ordnung des Grundgesetzes zu rechtfertigen, also zu dessen Verteidigung, nicht aber zu seiner Durchbrechung. So ist es in Art. 20 Abs. 4 GG (Widerstandsrecht) geregelt. Der Autor äußert sich dazu eingehend.

 

Die angeklagten Blockierer in Schwäbisch Gmünd sahen meistens in voller moralischer Überzeugung ein solches Naturrecht auf ihrer Seite. Ihr Recht war das höhere, das stärkere, das bessere, dem die staatlichen Gesetze zu weichen hatten.

 

Die entscheidende Frage des Buches ist folgerichtig für den Autor: Was ist Recht? Es ist eine der großen Menschheitsfragen wie die: Was ist Wahrheit? Was ist Gerechtigkeit? Nach Kant (Kritik der reinern Vernunft) suchen die Juristen bis heute (vergeblich?) ihre eindeutige Definition von Recht.

 

Wegen des Vorranges dieser Frage stellt Werner Offenloch seinen juristischen Erwägungen einen „§ 4 Rechtsprinzipien“ voran. Er zitiert Aussagen von bedeutenden römischen Juristen der Antike zum Rechtsbegriff (Ulpian, Modestinus, Celsus, Pomponius), verweist auf deren unveränderte Bedeutung und geht der Frage nach, wie eine Norm beschaffen sein muß, damit sie als Rechtsnorm anerkannt werden kann. Das Thema ist nach 1945 durch Beiträge von G. Radbruch zum Unrechtscharakter von NS-Gesetzen lebhaft diskutiert worden („Gesetzliches Unrecht und übergesetzliches Recht“, SJZ 1946, 107 – „Radbruch’sche Formel“).

 

Der Autor hat einen fest gefügten, man könnte sagen fast unwandelbaren Rechtsbegriff. Ich habe mir aus seinem Statement den Satz eingeprägt: „Das kann es aber nun doch nicht sein, daß in der juristischen Deutung Gesetze einen beliebigen Inhalt annehmen und heute dies und morgen jenes besagen können…“.Soll das heißen, einmal gesetztes Recht behält seinen ursprünglichen, für immer gewährleisteten Inhalt?

 

Eine solche These ist problematisch, wenn wir die Auslegungsgeschichte unserer großen Kodifikationen im zurückliegenden Jahrhundert realistisch zur Kenntnis nehmen. Die Vorstellung, die gesetzliche Regelung gewährleiste mit ihrem Inkrafttreten einen ein für allemal festgelegten verbindlichen Regelungsinhalt, hat sich als ein überholtes und widerlegtes Dogma idealistischer rechtstheoretischer Romantik erwiesen. Der von Rudolf von Jhering so eindrucksvoll dargestellte „Kampf ums Recht“ betrifft nicht nur den Erlaß, sondern ebenso die Auslegung der Gesetze. Das zeigen die erbitterten Schlachten der Parteien, wenn es um die Richterwahlen zu den obersten Bundesgerichten geht.

 

Der Verlauf der Blockierer-Prozesse, insbesondere die schwankenden Entscheidungen und Begründungen der Obergerichte (OLG Stuttgart, BGH und Bundesverfassungsgericht, jeweils in mehrfachen Variationen zum Thema) legen es nahe, auf ein ganz anderes, realistisches, dazu pragmatisches und Kosten sparendes, wenn auch zynisch klingendes Rechtsverständnis hinzuweisen.

 

Der alte und weise Richter am amerikanischen Supreme Court Oliver Wendell Holmes hat das so formuliert: „Recht ist nichts anderes als die richtige Vorhersage dessen, was die letzten Instanzen tatsachlich entscheiden. Das und nichts Feierlicheres ist meine, auf Erfahrung gegründete Vorstellung von Recht“.[1]

 

Das schließt die nüchterne Erkenntnis ein: Gesetze funktionieren wie Kleiderhaken, an denen die jeweils herrschenden politischen und ideologischen Zeitmoden aufgehängt werden können. Das ist nicht unbedingt das, was wir für richtig halten. Aber es ist das, was in der Realität oft geschehen ist und geschieht.

 

Dieser Rechtsbegriff hat letzten Endes auch die Geschichte der Blockade-Prozesse geprägt und entschieden. Das ist die ernüchternde Summe der Erfahrungen des Richters und des Autors Offenloch und seines Buches. Aber er verharrt nicht in melancholischer Resignation. Weil er an die Kraft des rationalen Arguments und an das Lernen aus Geschichte glaubt, darum hat er sein Buch geschrieben.

 

IV. Lokalgeschichte und Weltgeschichte

 

Das Buch beschreibt auch ein Stück noch lebendiger Lokalgeschichte. Es ist in mancher Hinsicht ein Lehrstück, geeignet für den Geschichtsunterricht. Deshalb erscheint auch der Saal der Pädagogischen Hochschule für den Anlaß angemessen. Das Amtsgericht Schwäbisch Gmünd und die mit den Blockaden befaßten Richter standen über Jahre hin im Zentrum nicht nur des öffentlichen Interesses, der nationalen und internationalen Medien sondern mehr noch der Pressionen der sog. Blockade- oder Friedensbewegung und zahlreicher Sympathisantengruppen. In Schwäbisch Gmünd wurde Lokalgeschichte geschrieben, aber auch Justizgeschichte und, wie der Zustrom der Leitmedien gezeigt hat, ein Stück Weltgeschichte und Weltpolitik verhandelt. Es ging im Kern um das „Gleichgewicht des Schreckens“ der atomaren Rüstung in den Einflußzonen der beiden Weltmächte. Gegen alle Pressionen des Zeitgeistes bemühten sich die Richter, den Rechtsstandpunkt zu definieren und nicht der Versuchung zu erliegen, „politisch“ zu entscheiden, wie das von den Angeklagten, aber auch von vielen anderen gefordert wurde.

 

Zur Erinnerung: Am 12. Dezember 1979 erfolgte der sog. Nato-Doppelbeschluß, angeregt vom damaligen Bundeskanzler Helmut Schmidt. Er sah die Stationierung von 108 Raketenrampen für Pershing II und 464 Marschflugkörper in verschiedenen Ländern Europas vor, in Deutschland eben auch in Mutlangen. Im November 1979 hatte der SPD-Parteitag in Berlin diese „Nachrüstung“ gebilligt – als Antwort der Nato auf die im ganzen Ostblock stationierten, auf Westeuropa gerichteten SS 20-Mittelstreckenraketen mit einer Reichweite von 5000 km und einer Sprengkraft vom Zehnfachen der Hiroshima-Bombe.

 

Die Bundesrepublik erlebte in den folgenden Jahren eine bewegte Zeit. Die außerparlamentarischen Proteste gegen die Stationierung von Atomwaffen in Deutschland nahmen rasant zu. Am 21./22. November 1983 bekräftigte der Bundestag unter der Regierung Kohl erneut sein Einverständnis mit der Stationierung von Atomraketen in der Bundesrepublik. Die Sitzung verlief äußerst spannungsgeladen. Die Mehrheit der SPD-Fraktion stimmte jetzt gegen die Stationierung, zusammen mit den Abgeordneten der Grünen, die im März 1983 erstmals ins Parlament eingezogen waren.

 

Im Herbst 1986 einigten sich Reagan und Gorbatschow grundsätzlich über die Abschaffung der Mittelstreckenraketen. 1987 vereinbarten sie in Washingtoner Vertrag den weltweiten Abbau aller Mittelstreckenraketen innerhalb von drei Jahren. 1989/90 brach die Sowjetunion zusammen. Der kalte Krieg war vorüber, Deutschland war wiedervereinigt. Im Frühjahr 1991 wurde die letzte Pershing II demontiert.

 

Werner Offenloch beschreibt in seinem Erinnerungsbuch nicht nur die Geschichte der Rechtsprechung zu Straßenblockaden in Deutschland mit dem Schwerpunkt der Rechtsprechung zu Mutlangen. Er registriert zunächst minutiös die Fakten und Rahmenbedingungen der Aktionen, ihren zeitlichen Verlauf, ihr Echo in der Gesellschaft, in den Parteien, in der Rechtswissenschaft und in der Rechtsprechung.

 

V. Die Blockierer vor Gericht und das mediale Echo

 

Aufschlußreich für das Gesamtverständnis der Vorgänge ist das Kapitel über die „Blockierer vor Gericht“ (§ 2). Es schildert ihre personelle Zusammensetzung, ihre Einlassungen im Prozeß, ihr Verhältnis zum Recht und ihr spezielles Verhältnis zur Wirklichkeit. Zu den Angeklagten gehörten bekannte, durch ihre Medienpräsenz prominente Persönlichkeiten wie H. von Hentig, W. Jens, H. Gollwitzer, auch Richter. Es ging immer um Gesetzesverstöße bis dahin fast ausnahmslos unbescholtener Bürger, die bewußt und gewollt, regelmäßig mit der strategisch kalkulierten Absicht maximaler Medienpräsenz das staatliche Recht verletzten. Im Gesamtplan der zentralen Organisatoren wie auch der jeweils konkret vor Ort eingesetzten Beteiligten spielte die mediale Verbreitung der Aktionen eine entscheidende Rolle. Das galt sowohl auf den blockierten Straßen wie vor den Gerichten. Prominente Rechtsbrecher ohne mediale Vermarktung, das wäre für alle Beteiligten ohne Sinn gewesen.

 

Der Autor analysiert die intensiv geplanten Strategien, mit denen, oft bereits im Vorfeld der Blockaden, gezielt Druck auf die befaßten Gerichte und Richter ausgeübt wurde. Er unterscheidet dabei die nicht medial ausgeübten Pressionen der Veranstalter und ihrer Sympathisanten, etwa kollektive Briefaktionen an die zuständigen Richter, auch solche von der DKP und den Grünen sowie von anwaltlicher Seite. Universitätsprofessoren der Universität Bremen schrieben ihm noch vor der Urteilsfindung, eine Verurteilung von Blockieren sei ein Verfassungsbruch. Daneben beteiligten sich zahlreiche und einflußstarke Medien, teils durch nachweisbar falsche Berichte, an der versuchten Diffamierung und Einschüchterung der zuständigen Gerichte und Richter.

 

Auch manche Politiker taten sich hervor: So bezeichnete der SPD-Abgeordnete Conradi die Verurteilung von Blockieren als „schändliche Kriminalisierung“ durch die Justiz. Die für ihre einfühlsame Wortwahl besonders bekannte Abgeordnete Däubler-Gmelin sprach im Hinblick auf eine BGH-Entscheidung von einer „furchtbaren Juristerei aus Karlsruhe“. Sie wurde später Bundesjustizministerin. Der ehemalige Bundestagsabgeordnete und Bundesverfassungsrichter Martin Hirsch (SPD) meinte, diese Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs sei „juristisch katastrophal“, „verfassungswidrig“, „ein glatter Kunstfehler“ und „ein Fall des Widerstandsrechts nach Art. 20 GG“ (vgl. taz 24. Juni 1988 : „Pflicht zum Widerstand gegen das Blockadeurteil“).

 

VI. Die Wandlungsfähigkeiten des Rechts

 

Mit seiner zweiten „Sitzblockadenentscheidung“ vom 10. Januar 1995 (BVerfGE 92,1) hat das Bundesverfassungsgericht auf einen Streich die seit mehr als achtzig Jahren bestehende gefestigte, mehrfach von ihm anerkannte Rechtsprechung zur Strafbarkeit von Straßenblockaden auf den Kopf gestellt und als verfassungswidrig beurteilt. Die Gerichte hätten in den Sitzblockaden zu Unrecht eine nötigende Gewalt erkannt. Bis zu diesem Zeitpunkt hatte das Bundesverfassungsgericht in seinen einschlägigen Entscheidungen auch die tradierte Rechtsprechung zum Gewaltbegriff in § 240 StGB gebilligt. Die Entscheidung erging mit 5 gegen 3 Stimmen. Das Minderheitsvotum (BVerfG 92, 20ff.) weist nach, daß das für die Blockaden angemessene Gewaltverständnis in der höchstrichterlichen Rechtsprechung seit 1885 (RGSt 13, 49) anerkannt und maßgebend war. Mit der Veränderung einer Richterstimme im Senat hat das Gericht das Grundgesetz geändert. Auf einer Tagung des Justizministeriums in Baden-Württemberg „Werteordnung im Wandel“ (1995) wurde diese Rechtsprechung des Gerichts von dem Moderator Heribert Prantl, ehemals Staatsanwalt, jetzt politischer Redakteur der „Süddeutschen Zeitung“, als der Einzug des Geistes von 1968 in das Bundesverfassungsgericht gefeiert.[2] Für die Strafgerichte aller Instanzen enthielt dieser Spruch den Vorwurf, sie hätten unter Verletzung der Verfassung in dem zurückliegenden Jahrzehnt allein in Schwäbisch Gmünd Hunderte, bundesweit Tausende von Sitzblockierern zu Unrecht wegen Nötigung verurteilt. Der Übergang vom gesetzestreuen Rechtsstaat zum unberechenbaren Richterstaat wurde hier beispielhaft sichtbar. Für viele Richter blieb diese Kehrtwende einer über Jahrzehnte hin gefestigten und ständigen Rechtsprechung in der Sache unverständlich und inakzeptabel. Sie gerieten in einen Gegensatz zu ihren Obergerichten, wenn man so will in eine Situation richterlichen Widerstandes.

 

Die Auflösung und Zersetzung der hergebrachten Rechtsmaßstäbe zur Nötigung hatte allerdings schon früher begonnen. Dabei spielte die „wandlungsoffene“ Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs und des dritten Strafsenats am OLG Stuttgart für die Vorinstanzen in Schwäbisch Gmünd und Ellwangen eine wichtige Rolle (S. 170-176). Die fast unbegrenzte Ausweitung der Abwägungskriterien dafür, ob Blockaden sittlich zu rechtfertigen oder zu mißbilligen, ob sie sozial unerträglich oder sozialwidrig seien, öffnete richterlicher Willkür im Einzelfall Tür und Tor. Schon vor der zweiten Sitzblockadenentscheidung des Bundesverfassungsgerichts von 1995 wurden Freisprüche der Blockierer vom OLG Stuttgart in der Regel bestätigt, Verurteilungen hatten dagegen keine Chance mehr. Begünstigt wurde das durch eine fast endlose Liste von Tatumständen, welche die Tatrichter aufklären, gewichten und gegeneinander abwägen sollte. Das war in der Praxis unmöglich. Die Rechtsprechung wurde zum Synonym für eine Kapitulation vor dem Zeitgeist.

 

Diese Situation war allerdings in der jüngeren deutschen Rechtsgeschichte nicht neu. Vorauseilender Gehorsam nicht weniger deutscher Gerichte und Rechtswissenschaftler war das Kennzeichen jener „Rechtserneuerungen“, die nach 1933 sowie nach 1945/1949 in der SBZ und in der DDR, aber auch in der Bundesrepublik stattfanden.

 

VII. Autobiographische Elemente

 

Das Buch ist geprägt von den tiefgreifenden persönlichen Erlebnissen und Erfahrungen des Autors als Richter und Direktor am Amtsgericht Schwäbisch Gmünd. Es ist also ein Stück Autobiographie darin. Zugleich ist es ein Zeitzeugnis zur Stadt- und Regionalgeschichte von Schwäbisch Gmünd sowie zur Justizgeschichte des OLG Stuttgart und der höchstrichterlichen Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs und des Bundesverfassungsgerichts.

 

Der Autor stand ab 1984 unverhofft und unversehens im mittelstädtischen Zentrum eines weltpolitisch bedeutsamen Vorgangs. Wie immer man die Folgen des Streits um die Nachrüstung und seine Austragung in den Blockaden unterschiedlich beurteilen mag, bedeutungslos für die historische Entwicklung der Weltnachkriegsordnung im Hinblick auf den Zusammenbruch der Sowjetunion war er sicherlich nicht.

 

Die Richter waren auf die Dimension der Entscheidungen, die sie jetzt fast massenhaft zu fällen hatten, überwiegend nicht gefaßt, und vorbereitet. Unberaten und unbegleitet wurden sie in diese Spannungslage hineingestellt und mußten urteilen, ob die Blockade der Zufahrt zu einem amerikanischen Depot von Atomwaffen eine Nötigung im Sinne des § 240 StGB sei, wenn die Blockierer dabei neben der Blockade des Militärpersonals das edle Fernziel verfolgten, die Welt vor dem atomaren Untergang zu bewahren, wie sie geltend machten.

 

Die Grundprobleme einer atomaren Bewaffnung wurde zwar seit K. Jaspers Buch „Die Atombombe und die Zukunft des Menschen“ (1958) lebhaft diskutiert, nicht aber die Fragen von Straßenblockaden, die erst um 1968 herum neu aufkamen.

 

Die Schöpfer des mehrfach, zuletzt 1953 geänderten Nötigungsparagraphen hatten sie nicht speziell geregelt, weil sie sie in der jetzt konkreten Konfliktslage nicht kannten. Einigkeit bestand darüber, daß eine Nötigung nicht vorliegt, wenn für die nötigende Handlung ein Rechtfertigungsgrund gegeben ist.

 

Als Rechtfertigungsgründe führten die Blockierer und ihre Sympathisanten (darunter Theologen, Philosophen, Psychologen, Juristen, Historiker, Naturwissenschaftler, Publizisten und andere) an: Das Überleben der Menschheit, die Grundrechte der Glaubens- und Gewissensfreiheit, der Meinungs-, Versammlungs- und Demonstrationsfreiheit, sowie das Widerstandsrecht des Art. 20 IV GG. Es ging also letzten Endes darum, ob höhere und höchste Zwecke den Einsatz rechtswidriger Mittel rechtfertigen, nämlich die Einschränkung der Grundrechte anderer durch Straßenblockaden. Darüber wurde auch in den Medien lebhaft gestritten.

 

Die Blockierer organisierten ihren „Widerstand“ nach einem strategischen Plan. So erwarben sie in Mutlangen 1987 ein Zweifamilienhaus als Organisationszentrale und Propagandazentrum, das auch einer Kampagne gegen die Rechtsprechung des Amtsgerichts Schwäbisch Gmünd diente. Die „Friedensbewegung“ wirkte mit ihrer Medienpolitik ab 1983 bis in den deutschen Bundestag hinein, wo Vertreter der Grünen offen Verkehrsblockaden und „zivilen Ungehorsam“ ankündigten und sich selbst an einschlägigen Aktionen beteiligten.

 

Die Blockade-Unterstützung der Grünen wie auch zahlreicher SPD-Politiker gewinnt ihren besonderen Charme durch die Tatsache, daß nicht wenige von ihnen nach 1998 in hohe Staatsämter gelangten und die atomare Militärpolitik der Nato seither mitgestalten und mitverantworten. Beispielhaft dafür ist der Bundesminister Trittin, der 1995 noch öffentlich mehr Eifer bei den nächsten Sitzblockaden erhoffte (FAZ vom 17. 3. 1995) und sich im Jahr vor seinem Einzug ins Bundeskabinett führend mit einem Megaphon an einer lautstarken Randale gegen eine Vereidigung von Bundeswehrsoldaten in Berlin engagierte.

 

Der Autor Offenloch stand, wie die anderen Richter der unteren Instanzen, als Richter ziemlich einsam vor den schäumenden Wogen des Zeitgeistes. Selbst ein überzeugter Anhänger der Aufklärung, der Liberalität und Toleranz, erkannte er die gut gemeinten, in ihren Augen edlen Motive und Ziele vieler Blockierer durchaus. Die dafür eingesetzten Mittel hielt er für rechtswidrig und, ebenso wichtig, für objektiv mit dem Bestand und der Erhaltung eines freiheitlichen und demokratischen Gemeinwesens unvereinbar. Er stellte die richterliche Gesetzesbindung an den Normzweck des § 240 StGB und an die Entscheidungen des Deutschen Bundestages über die geschmeidige Anpassung der Rechtsprechung, besonders der Obergerichte, an die tagespolitischen Winde des Zeitgeistes und der veröffentlichten Meinungen.

 

Mit dieser Einstellung wurde er zum Gegner vieler Blockierer, Sympathisanten, Medienvertreter, Kirchenmänner, Professoren und – nicht zuletzt – auch Richterkollegen, für manche gar zum erklärten „Feind“. Unter den Blockaden vor Mutlangen gab es nämlich am 12. 1. 1987 eine spezielle „Richterblockade“ einer „Initiative von 19 Richtern und Staatsanwälten für den Frieden“. 554 weitere Kollegen bekundeten in einer Zeitungsanzeige ihre Solidarität. Drei dieser Blockierer erhielten später die „Carl von Ossietzky-Medaille verliehen. Die „Arbeitsgemeinschaft Sozialdemokratischer Juristen“ schlug die Blockaderichter in toto für den „Gustav-Heinemann-Preis“ vor.

 

Wer die Dramatik jener Jahre im Amtsgericht Schwäbisch Gmünd nach-empfinden will, sollte den Abschnitt des Buches über die organisierten kollektiven und medialen Pressionen auf die zuständigen Richter nachlesen (S. 33-42). Daß es als Folge dieser über Jahre hin ausgeübten Pressionen auf die zuständigen Gerichte in den Gerichtssälen auch schon mal zu einer „mehrstündigen Richterbeschimpfung“ (Stuttgarter Zeitung v. 10. 1. 1991) kam, lag in der Absicht solcher Strategien. Die Gerichte sollten „mürbe“ gemacht werden. Hier wurde in einer bis dahin in der Bundesrepublik unbekannten Weise die psychische, physische und in der Folge auch die familiäre Belastbarkeit der zuständigen Richter auf die Probe gestellt. Angesichts dieser Vorgänge stellt sich auch die Frage, wieviel Pressionen ein Staat und eine Gesellschaft ihren Strafrichtern glauben zumuten zu können, ohne daß die Qualität einer unabhängigen Rechtsprechung gefährdet wird und ohne daß qualifizierte Amtsträger und möglich Nachfolger sich von diesem Beruf abwenden. Die wenigen dargestellten Fakten zeigen, in welchem Ausmaß auch in einer demokratischen Gesellschaft verdeckt bis offen totalitäre Mentalitäten und zerstörerische Strategien wirksam werden können.

 

Ähnliches hatte sich, nebenbei bemerkt, in manchen westdeutschen Universitäten (Berlin, Frankfurt, Heidelberg, Göttingen) nach 1967 schon einmal abgespielt. Gerade freiheitliche Gesellschaften haben gegenüber solchen „Bewegungen“ (Jugend-, Studenten-, Friedensbewegung), die sich selbst für unfehlbar halten, eine offene Flanke, weil diese Strömungen des Zeitgeistes von radikalen Minderheiten leicht instrumentalisiert werden können.

 

Wie wir sehen hat der Autor und Richter Offenloch diesen Kampf ums Recht alles in allem gesund, gelassen und mit melancholischer Heiterkeit überstanden. Er ist ein skeptischer Optimist geblieben. Der Titel „Erinnerung an das Recht“ verrät seine verbliebene Skepsis gegenüber der Unverbrüchlichkeit staatlicher Rechtsgarantien. Die Rechtswissenschaft, die Geschichtswissenschaft sowie die Bürgerinnen und Bürger dieser Stadt und des ganzen Landes dürfen ihm dankbar sein, daß er die Erlebnisse dieser Epoche mit seinem Buch vor dem Vergessen bewahrt. Das Buch bezeugt mutiges Eintreten für richterliche Unabhängigkeit, Gesetzesbindung und die Bereitschaft zum inneren Widerstand im Rahmen der Rechtsordnung. Anders als die „Blockaderichter“ hat er keine Orden und Ehrenzeichen verliehen bekommen. Aber solchen gegenüber sind Schwaben ohnehin traditionell mißtrauisch. Er hätte sie verdient. Sein Buch sollte, wie ein früherer Bundesverfassungsrichter mit unverhohlener Gerichtskritik zu Recht geschrieben hat, zur Pflichtlektüre für Juristen gehören (E. W. Böckenförde, FAZ 24. 10. 2005, S. 41).

 

Konstanz                                                                                                       Bernd Rüthers



[1]„The prophecies of what the courts will do in fact, and nothing more pretentious, are what I mean by the law.“ (O. W. Holmes, The Path of Law, Harvard Law Review, 1897, p. 460).

 

[2] Werteordnung im Wandel – Gibt die Rechtsprechung Orientierung?, Tagungsbericht über das Symposion am 30. Nov./1. Dez. 1995 in Triberg, hrsg. Vom Justizministerium in Baden-Württemberg 1996, S. 141ff., 145. Herr Prantl hat diese Äußerung aus seinem Beitrag in der gedruckten Fassung gestrichen. Ich habe sie dort auf S. 145 festgehalten.