Nach der Revolution 1848/49: Verfolgung, Realpolitik, Nationsbildung. Politische Briefe deutscher Liberaler und Demokraten 1849-1861, bearb. v. Jansen, Christian. Droste, Düsseldorf 2004. LXV, 814 S.

 

Mit der vorliegenden Edition von politischen Briefen deutscher Liberaler und Demokraten knüpft Jansen an seine Habilitationsschrift an, die im Jahr 2000 mit dem Untertitel „Die Paulskirchenlinke und die deutsche Politik in der nachrevolutionären Epoche 1849–1867“ erschienen ist. Er fokussiert die Auswahl der Briefe für seine Edition vor allem auf zwei politische Problemfelder: Die deutsche Frage, und damit Schaffung eines deutschen Nationalstaats, sowie das Bemühen um die Organisation von politischen Aktivitäten in politischen Parteien. Es waren dies Kernfragen, die für die Liberalen und Demokraten im Verband des gesamten Deutschen Bundes 1848/49 eine zentrale Bedeutung erfahren hatten, die aber ungeachtet des Scheiterns der Revolutionen in „Deutschland“ auch in der nachrevolutionären Reaktionszeit im Mittelpunkt der politischen Ideen dieses Milieus geblieben sind.

 

Die Auswahl der mehr als 400 Briefe umfasst etwa einhundert, teils eher unbekannte, teils aber auch sehr prominente Verfasser bzw. Empfänger (etwa Karl Ludwig Aegidi, Hermann Heinrich Becker, Maximilian Wolfgang Duncker, Gustav Freytag, Julius Fröbel, Georg Gottfried Gervinus, Moritz Hartmann, Ferdinand Lassalle, Johannes Miquel, Theodor Mommsen, Arnold Ruge, Hermann Schulze-Delitzsch, Heinrich Simon oder Gustav Struve), darunter auch drei Frauen. Die politische Zuordnung dieses Personenkreises erstreckt sich von gemäßigt Liberalen bis hin zu Mitgliedern des Bundes der Kommunisten. Die zeitliche Zuordnung der Briefe konzentriert sich zum einen auf die Phase der „Reaktion“ unmittelbar nach dem Scheitern der Paulskirche von Juli 1849 bis zum Umschwung vom Konstitutionalismus zum Neoabsolutismus vor allem in Preußen und Österreich Ende 1851, sowie zum anderen auf die Phase der „nationalpolitischen Reorganisation“, an deren Ausgang im Verlauf von 1861 in den meisten deutschen Staaten, vor allem nach dem Sieg der Fortschrittspartei bei den Wahlen zum preußischen Abgeordnetenhaus zu Ende dieses Jahres, neue politische Organisationen und Träger der politischen Ideen des liberalen Bürgertums entstanden sind. Die übrigen Briefe fallen in den Zeitraum von Ende 1851 bis Mitte 1857 bzw. 1861/62 (zu den Anfängen der Fortschrittspartei 1861/62 – als Anhang herausgehoben; dort findet sich auch ein Stück, das zwar erst 1863 verfasst worden ist, aber ein Ereignis aus dem Jahr 1850 schildert).

 

Die Briefe sind in der Regel ihrem Wortlaut nach vollständig wiedergegeben, nur ausnahmsweise wurden vom Bearbeiter Kürzungen oder Auslassungen vorgenommen und durch eigene Inhaltsangaben ersetzt. Formal-technisch ist der vorliegende Band vorbildlich bearbeitet. Neben einem Personen- und Sachregister bietet er auch ein ausführliches Verzeichnis mit Kurzbiografien der Briefschreiber als Orientierungshilfen für den Benutzer. Hinzu kommen umfassende Kommentierungen des Bearbeiters zu den einzelnen Brieftexten; sie dienen oftmals auch der Entschlüsselung von verdeckten politischen Andeutungen einzelner Briefschreiber, die aufgrund der in den 1850er Jahren verschärften Zensur wegen politisch subversiver Äußerungen mit Sanktionen hätten rechnen müssen. Viele von ihnen waren von solchen Repressalien auch tatsächlich persönlich betroffen – einige wurden inhaftiert oder des Dienstes entlassen, andere konnten sich vor politischen Verfolgungen nur durch die Flucht ins Ausland entziehen. In ihren Briefen widerspiegeln sich daher die nach 1849 weiter bestehenden, aber auch neue zu Angehörigen der jüngeren Generation geknüpfte, Kommunikations- und Aktionsnetze, für welche außer gemeinsamen politischen Erlebnissen auch Freundschaftsbindungen, etwa die Zugehörigkeit zur Bewegung der Burschenschaften, konstitutiv gewesen sind.

 

Die Themen, die von den Briefschreibern aufgegriffen wurden, sind breit gefächert – sie dokumentieren vor allem zu Beginn der 1850er Jahre die bei vielen der Protagonisten der Revolutionen von 1848/49 vorherrschende Enttäuschung und damit verbundene Entmutigung über vermeintlich persönliches Scheitern. Es werden aber auch Konflikte spürbar zwischen jenen, die im Exil ausharren mussten, und solchen, die sich im Inland bewusst den neuen politischen Realitäten anzupassen vermochten. Oft mussten zwangsläufig neue Kooperationen über politische Lager hinweg gesucht oder als Journalisten oder Publizisten neue berufliche Wege bzw. als Berufspolitiker neue politische Richtungen eingeschlagen werden, um unter den herrschenden Verhältnissen den Zielsetzungen von 1848/49 den Weg zu bahnen. Bemerkenswert sind die vielfältigen in den Briefen wiedergegebenen Beobachtungen über die politischen Entwicklungen außerhalb des Deutschen Bundes, vor allem über die Schweizer Eidgenossenschaft, Frankreich und Großbritannien. Interessant ist aber insbesondere aus österreichischer Sicht, dass in Bezug auf die Frage der deutschen Einheit die Optionen nicht ausschließlich an kleindeutschen oder preußisch dominierten Mustern orientiert waren; die Stimmen, die sich für Modifikationen des bestehenden staatenbündischen Konzepts und damit auch für den Fortbestand der politischen Einbindung Österreichs aussprachen, sind in diesem Milieu freilich marginal geblieben.

 

Die vorliegende Edition ist geeignet, ein wirklichkeitsnahes, wenn auch bloß mosaikartiges Bild über die Lage im  Milieu der Liberalen und Demokraten in den eineinhalb Jahrzehnten nach 1848/49 zu vermitteln. Sie leistet damit über die Sozialgeschichte und die politische Ideengeschichte hinaus vor allem einen Beitrag zur Mentalitätsgeschichte – und zwar am Beispiel eines Personenkreises, dessen Anhänger durchaus nicht als weltfremde intellektuelle Randgruppe anzusehen sind, die radikalen politischen Idealen anhingen, sondern sich als anpassungsfähig erwiesen haben und damit wesentlich dazu beitragen konnten, die politischen Zielsetzungen von 1848/49 in die Staats- und Verfassungsordnung des Deutschen Reiches von 1871 überzuleiten.

 

Wien                                                                                                  Christian Neschwara