Müller, Christian, Verbrechensbekämpfung im Anstaltsstaat. Psychiatrie, Kriminologie und Strafrechtsreform in Deutschland 1871-1933 (= Kritische Studien zur Geschichtswissenschaft). Vandenhoeck & Ruprecht. Göttingen 2004. 337 S.

 

Es ist unbestritten, dass auch die Geschichtswissenschaft modischen Strömungen unterliegt. Kriminalbiologie und Kriminalpsychologie, forensische Psychiatrie und Strafrechtsreformbewegung, Schulenstreit und Gewohnheitsverbrecher: mit diesen Schlagworten lässt sich ein seit Jahren gern bedientes Dauerthema der (rechts-) historischen Betrachtung beschreiben, über das es offensichtlich so viel zu schreiben gibt, dass an Dissertationen entweder zu einzelnen Teilbereichen oder zur Gesamtschau kein Mangel herrscht. Der Zeitraum, der dabei bevorzugt in den Blick genommen wird, ist auch der, den sich Christian Müller in seiner Essener, von Dirk Blasius betreuten Dissertation als Rahmen gesetzt hat. Chronistischer Anfang ist die Reichsgründung 1871, Ende ist die Machtergreifung 1933. Auch im 21. Jh. bleibt der deutsche Historikerblick damit gebannt auf jene 62 Jahre gerichtet, in denen die Wurzel allen deutschen und europäischen Glücks und Unglücks des 20. Jh. zu liegen scheint.

 

Müller betrachtet die juristische Strafrechtsreformbewegung und die Etablierung der wissenschaftlichen (forensischen) Psychiatrie, die beiden Quellen der „Rationalisierung des Strafens“, aus einem allgemeinhistorischen Blickwinkel. Seine Ergebnisse sind vernichtend. Die Strafrechtsreform sei als eine „defensive Modernisierung“ zu verstehen. Die moderne Schule habe sich auf eine utilitaristisch-rationale Neudefinition der Strafe eingelassen, um psychiatrische Einmischungen abwehren zu können; die klassische Schule habe die Sicherungsmaßregeln akzeptiert, um den Vergeltungsgedanken erhalten zu können. Über das Ziel eines effektiveren Schutzes der Rechtsordnung (und damit auch der Herrschafts- und Besitzordnung) seien sich die Kontrahenten aber einig gewesen. Die Blüte der deutschen Psychiatrie ihrerseits habe sich hybrid selbst überschätzt, nicht wissenschaftlicher Fortschritt, sondern Wissenschaftsgläubigkeit habe der Kriminalbiologie den Impetus verliehen, der Strafrechtsreformbewegung die legitimierende Hand zu reichen. So sei es nicht einmal ansatzweise gelungen, den „Gewohnheitsverbrecher“ – die Zielgruppe aller juristischen und psychiatrischen Aktivitäten – genauer zu definieren. Zukunftsgerichtete Kriminalpolitik sei immer an vor-wissenschaftlichen Postulaten ausgerichtet worden, dann erst habe die kriminologische Forschung eingesetzt, die sich nun an den justiziell vorsortierten Tätergruppen orientiert habe. Concludendum est: die „Rationalisierung“ des Strafens erweise sich insgesamt als ein einziger großer Zirkelschluss.

 

Und – der Leser ahnt es schon – das NS-Regime brauchte sich in diesem Weimarer Scherbenhaufen nur noch zu bedienen: traditionelle Vergeltungsstrafe verschärfen, Sicherungsverwahrung zur „Ausmerzung von Asozialen“ ausnutzen, Resozialisierungsgedanken kappen. So ließen sich der moderne Sicherungsgedanke und das klassische Vergeltungsprinzip zu einer insgesamt illiberalen Kriminalpolitik verschmelzen. Das alles erweist den Nationalsozialismus als fatalste Entwicklungsmöglichkeit einer durch „autoritäre Traditionen geprägten Gesellschaft“.

 

Wissen wir angesichts solcher Allgemeinplätze mehr über die moderne und die klassische Schule, über Willensfreiheit und den professionellen Psychiaterdeterminismus, über die Geburt des Psychopathen aus der mania sine delirio, über den moralischen Schwachsinn, den delinquente nato, über die „dissoziale Persönlichkeitsstörung“ und die borderline-Persönlichkeit, über den mitunter ätzenden und verbissen geführten Streit um die Kompetenzabgrenzung zwischen Richter und Gutachter im Strafprozess als aus der bisherigen Literatur erschlossen werden kann? Ehrlich gesagt: nein.

 

Und, was noch wichtiger ist: wir wissen auch nicht mehr darüber, wie mit bestimmten Erscheinungsformen von Kriminalität (auch heute) umzugehen ist. Denn es kann doch keinesfalls genügen, sondern allenfalls einen Historiker besänftigen, den Weg hinein in die deutsch-europäisch-globale Katastrophe (1933-1945) auch für dieses spezielle Thema zu beschreiben. Was hilft es, zu konstatieren, dass die Kriminalpolitik spätestens seit 1933 illiberal war, wenn dieselben Fragen („Wer hat wann Schuld?“ und: „Wer soll das beurteilen?“) sich 1955 ebenso wie 1871 und 2005 ebenso wie 1942 stellen? Auf eine Gesellschaft mit „autoritären Traditionen“ zu verweisen kann niemanden beruhigen. Leider bleibt dieser Blankettbegriff auch bei Müller unerörtert, unbelegt und auch alternativlos.

 

Es gibt Therapieresistenz bei Schuldfähigkeit, es gibt Rückfalldelikte und es gibt keine sichere Gefährlichkeitsprognose. Es gibt auch den rechtsstaatlich verbürgten Anspruch, schuldangemessen bestraft und nicht willkürlicher Sicherungsverwahrung unterworfen zu werden. Und es gibt, und auch das ist kein Fehler, schützenswerte Rechtsgüter und sogar eine schützenswerte Besitzordnung (wie auch immer sie konkret ausgestaltet sein mag und auf welchen Traditionen auch immer sie beruhen mag). Auch eine Gesellschaft mit vermeintlich „antiautoritären“ oder „progressiven Traditionen“ (Rezensent kennt sie aus eigener Anschauung) muss sich mit diesen Problemen herumschlagen.

 

Wer aber, angetrieben von diesen Fragen, die das vorliegende Buch nicht löst – vielleicht auch nicht lösen will – sich umfassend über den beschriebenen Zeitraum informieren will, der wird Christian Müllers Arbeit mit Gewinn lesen. Sie ist sehr genau recherchiert, klar und fasslich gegliedert und anschaulich geschrieben. Sie pointiert gekonnt: Insbesondere zu danken ist Müller für Sätze wie „Emil Kraepelins Pamphlet war eine freche Anmaßung“ gleich auf S. 11 – gemeint ist Kraepelins „Abschaffung des Strafmaßes“ und „Das Hauptkapitel des Marburger Programms (von Franz von Liszt) mutet auf den ersten Blick wie ein Abklatsch der Kraepelinschen Broschüre an“ auf S. 133f. Natürlich bleibt Müller aber bei diesen Plakatierungen nicht stehen, sondern untersucht genau.

 

Die Literatur wird umfassend beherrscht, archivalische Quellen werden ausführlich genutzt. Christian Müller ist jederzeit Herr seines Stoffes und zieht überwiegend zulässige Schlüsse. Die Schilderung des Schulenstreites und seiner Auflösung in den Reformbestrebungen seit 1919 ist unbedingt lesenswert – nicht nur, aber auch wegen der dort geschilderten Rolle Erwin Bumkes, den Christian Müller als „strafrechtspolitischen Hardliner“ bezeichnet. Anregend ist auch die Lektüre der Abschnitte zur forensischen Psychiatrie und Kriminologie. Auf Ablehnung stoßen muss Christian Müller aber, wenn er meint, die Modernität der modernen Schule habe (nur) in zweckbewusstem Rechtsgüterschutz, und nicht in einer Humanisierung des Strafrechts bestanden oder wenn er meint, die deutsche Psychiatrie habe Cesare Lombrosos Lehre vom delinquente nato abgelehnt. Bei von Liszt verwechselt Müller Rechtsgüterschutz mit Besitzschutz und bei Lombroso sieht er m. E. nur unzureichend, dass dessen Determinismus geradezu infizierend auf die deutsche Psychiatrie wirkte.

 

Insgesamt hat Christian Müller ein die Debatte um die Schuldfähigkeit und ihre Feststellung im 19. und 20. Jahrhundert bereicherndes Buch geschrieben. Mittlerweile ist die Literatur damit sowohl aus juristischer, historischer und psychiatrischer Perspektive sehr umfangreich. Sach- und Personenregister dürfen in keiner geschichtswissenschaftlichen Dissertation fehlen – auch Christian Müller erschließt seine Arbeit dankenswerter Weise mit denselben. Diese fallen zwar durchaus knapp aus, leisten aber gute Dienste.

 

Leipzig                                                                                    Adrian Schmidt-Recla