Messerschmidt, Manfred, Die Wehrmachtjustiz 1939-1945, hg. vom militärgeschichtlichen Forschungsamt. Schöningh, Paderborn 2005 XIII, 511 S.

 

Auf der Basis des umfangreichen, wenn auch sehr unvollständig überlieferten und zum Teil erst in den letzten Jahren aufgetauchten Archivmaterials stellt Messerschmidt in Fortführung seiner früheren Darstellungen die Traditionslinien, das Rechtsempfinden und die Praxis der Wehrmachtsjustiz zwischen 1933 und 1945 zusammenfassend dar. Im Abschnitt „Vorgeschichte“ geht er ein auf die Militärjustiz im Kaiserreich, auf die „Lehren des Weltkrieges“, die „Drückeberger“ und die Kritik an dem „Versagen“ der Militärjustiz insbesondere in der Endphase des Ersten Weltkriegs. Diese hätte nach Meinung der maßgebenden Militärkreise der Weimarer Zeit und der NS-Zeit in Übereinstimmung mit den Ansichten der NS-Militärjustiz mit einem schärferen Durchgreifen „prinzipiell Bedingungen für eine Fortsetzung des Krieges schaffen können“ (S. 19). Im Abschnitt „Der politische Soldat“ im „NS-Volksheer“ (S. 23ff.) stellt der Verfasser heraus, dass nach dem Erlass des Reichskriegsministers und des Oberbefehlshabers der Wehrmacht vom 21. 4. 1934 über Wehrmachtspropaganda die Wehrmacht mehr als bisher in Erscheinung treten sollte „als im nationalsozialistischen Denken planmäßig erzogen“ (S. 25). Der neue Soldat sollte der „,politische Soldat’ der nationalsozialistischen Wehrmacht sein, Vollmitglied der Volksgemeinschaft, auf Weltanschauung und den Führer eingeschworen und zugleich ,überparteilich’“, was eine direkte Verbindung zu speziellen Parteiorganisationen ausschloss (S. 27). Entsprechend der Ideologie der Volksgemeinschaft haben die Eliten der Partei, der Justiz und der Wehrmacht ein Modell des „inneren Feindes“ konstruiert, zu dem die sog. Defätisten, Schwächlinge, Verräter, Saboteure, Deserteure, aber auch die Kommunisten, Pazifisten und Sozialisten gehörten. – Im Abschnitt über die Wehrmachtsjustiz (S. 43ff.) geht der Verfasser zunächst ein auf deren Wiedereinsetzung (bereits im Mai 1933), deren Organisation, Aufgaben und Personal sowie auf das Reichskriegsgericht (am 1. 10. 1936 eingerichtet). Es folgen Abschnitte über die rechtspolitischen Grundsätze und über die Rechtsprechung der Militärgerichte vor dem Krieg, über die Mobilmachungsvorbereitungen, die Kriegssonderstrafrechtsverordnung und die Kriegsstrafverfahrensordnung von 1938 (erst 1939 im Reichsgesetzblatt verkündet) sowie über die SS- und Polizeigerichtsbarkeit. Teil IV (S. 81ff.) bringt einen knappen Überblick über die Wehrmachtsjustiz im Zweiten Weltkrieg (Organisation und Personal; Instrument der politischen und militärischen Führung, Lenkung der Rechtsprechung; „Unabhängigkeit“ des Richters). Das Militärgericht war von einer Vielzahl von Richtlinien und Weisungen zum Strafmaß und zur offiziellen Interpretation von Tatbeständen geradezu umstellt (S. 93). Hinzu kam noch das als „unglückselige Hinterlassenschaft der preußischen Militärjustiz“ bezeichnete „Gespann“ Richter und Gerichtsherr, welch letzterer (meist Divisionskommandeure oder Armeebefehlshaber) das letzte Wort über die Bestätigung bzw. Aufhebung eines Urteils hatte (S. 93). Lenkung und Unabhängigkeit des Richters seien deshalb „systemimmanent kein Widerspruch“ gewesen, weil die Unabhängigkeit des Gerichts im NS-Rechtssystem prinzipiell als ideologiekonforme Gesetzesauslegung interpretiert wurde“ (S. 93).

 

Das umfangreiche Kapitel V (Rechtsprechung im Kriege. S. 95ff.) behandelt die Rechtsprechung des Reichskriegsgerichts (Urteile gegen die Ernsten Bibelforscher, Zuständigkeiten bei Hoch-, Landes- und Kriegsverrat, Widerstand in den besetzten Gebieten, „Nacht und Nebel“-Justiz, sowie Generalsurteile), die Urteilsbilanz des Gerichts der Wehrmachtskommandantur Berlin sowie die Feldkriegsgerichte. Detaillierte Rechtsprechungsanalysen enthalten die Abschnitte über die Fahnenflucht, die Wehrkraftzersetzung sowie über die besonderen Strafschärfungstatbestände der Volksschädlingsverordnung und des § 5a der Kriegsschädlingsverordnung. Der Tatbestand des § 5a dieser Verordnung („Personen, die dem Kriegsverfahren unterliegen, sind wegen strafbarer Handlungen gegen die Mannszucht oder das Gebot soldatischen Mutes unter Überschreitung des regelmäßigen Strafrahmens mit Zuchthaus bis zu fünfzehn Jahren, mit lebenslangem Zuchthaus oder mit dem Tode zu bestrafen, wenn es die Aufrechterhaltung der Mannszucht oder die Sicherheit der Truppe erfordert“) betraf vor allem die unteren Dienstgrade und stellte ein besonders schlagkräftiges Instrument zur Sicherung der „Gemeinschaft“ dar (S. 230). – Während von 1907 bis 1932 in Kriegsstrafsachen 1547 Todesurteile (davon 393 vollstreckt) verhängt worden waren, dürften die Wehrmachtsgerichte in der NS-Zeit mindestens 25.000 bis 30.000 Todesurteile gefällt haben, von denen 18.000 bis 20.000 vollstreckt wurden (S. 160ff.). Demgegenüber verhängten im Zweiten Weltkrieg die Militärgerichte Großbritanniens 40, Frankreich 102 (ohne die Vichy-Kräfte) und die USA 763 (davon 146 vollstreckt) Todesurteile (S. 167). Insgesamt dürften zwischen 1941 und 1943 etwa 2.000 Militärrichter gleichzeitig tätig gewesen sein (S. 167). - Mit Recht befasst sich ein eigenes Kapitel mit dem Verfahren gegen Zivilpersonen und Kriegsgefangene (S. 233ff.). In Polen, wo die vollziehende Gewalt bereits Ende Oktober 1939 an Frank überging, wurden in nur wenigen Fällen die Heeresgerichte eingeschaltet. Eine Amnestie Hitlers vom 4. 10. 1939 nahm die Taten, die „aus Erbitterung wegen der von den Polen verübten Gräuel“ begangen worden seien (S. 238) von der Strafbarkeit aus. Dagegen war in Nord- und Westeuropa (S. 242ff.) in jeweils unterschiedlichem Umfang die Militärgerichtsbarkeit auch für die Aburteilung von Zivilpersonen zuständig. Allerdings waren zahlreiche Strafsachen nach dem sog. Nacht- und Nebel-Erlass vom 7. 12. 1941 nicht von den Kriegsgerichten der deutschen Besatzungsmacht, sondern vom Reichskriegsgericht oder Sondergerichten zu entscheiden. Im Gebiet der Sowjetunion waren aufgrund des Barbarossa-Erlasses vom 13. 5. 1941 Straftaten „feindlicher Zivilpersonen“ der Zuständigkeit der Kriegs- und Standgerichte weitgehend entzogen (S. 280ff.). Nach dem „Kommissarbefehl“ vom 6. 4. 1941 waren politische Hoheitsträger und Leiter (Kommissare) „wenn im Kampf oder Widerstand ergriffen“ und zwar auch, wenn sie nur verdächtig waren, grundsätzlich „sofort mit der Waffe zu erledigen“ (S. 285). Fast rechtlos war auch die Zivilbevölkerung Serbiens und Griechenlands, wo man grundsätzlich ohne Kriegs- bzw. Standgerichte auskam. Für Italien war ein Befehl Hitlers vom 16. 12. 1942 maßgebend, nach dem jedes Mittel auch gegen Frauen und Kinder gestattet war, „wenn es nur zum Erfolg“ führte (S. 274). Gleichwohl hätte in zahlreichen Fällen, die weder als „Ausnahmefälle“ zu bewerten noch von den Divisionskommandeuren befohlen worden waren, das Verhalten von Soldaten und Offizieren kriegsgerichtlich geklärt werden müssen (vgl. S. 275). – Die Vorschriften des Abkommens über die Behandlung von Kriegsgefangenen von 1929 (ratifiziert 1934) wurden vor allem im Osten und Südosten vielfach nicht beachtet. Gerichtliche Verfahren gegen sowjetische Gefangene, die dem Feindbild der Wehrmacht und des Nationalsozialismus im „Vernichtungskrieg“ gegen den „jüdischen Bolschewismus“ unterlagen, waren eine seltene Ausnahme (S. 313ff.). Unter Missachtung des Völkerrechts wurden weiterkämpfende oder sich deutschen Anordnungen widersetzende italienische Offiziere grundsätzlich erschossen (vgl. S. 306ff.). Der Kommandobefehl vom 18. 10. 1942, der die feindlichen Sabotageeinheiten betraf, verbot eine Gefangennahme von Kommandoangehörigen.

 

Die Strafvollstreckung wird im Kapitel VII über das Bewährungs- und Lagersystem behandelt (S. 321ff.). Wehrunwürdig war, wer mit Zuchthaus bestraft worden war oder der durch militärgerichtliches Urteil die Wehrwürdigkeit verloren hatte. Diese Soldaten wurden der Reichsjustizverwaltung übergeben und in die Moorlager (Emslandlager) überführt. Ein Großteil von ihnen wurde später in die Rüstungsindustrie oder ins Feld (Baueinheiten, Kampftruppe) abgestellt. Im Einzelnen beschreibt Messerschmidt die Sonderabteilungen (Oktober 1936 für minderwertige Soldaten gegründet), die Wehrmachtsgefängnisse (mit verschärftem Strafvollzug), die Feldstrafgefangenenabteilungen (Vollzug von Gefängnisstrafen im Operationsgebiet durch härteste Arbeiten), die Feldstraflager (ab 1942; Straßen- und Feldbahnbauarbeiten im Norden Finnlands und Norwegens), die Bewährungstruppe 500 und die Bewährungsbataillone 999 (bestehend aus von den Zivilgerichten verurteilten Pazifisten, Sozialisten usw., die für wehrunwürdig erklärt waren). Das Werk wird abgeschlossen mit vier kürzeren Kapiteln über die Vollstreckung von Todesurteilen, die Endphase (Einsatz von Standgerichten; Maßnahmen gegen Überläufer und „verdächtige“ deutsche Kriegsgefangene sowie gegen aus der Kriegsgefangenschaft „zurückkehrende“ Soldaten der Volksliste 3 [Elsässer, Lothringer usw.]) und über die Zeit nach der Kapitulation. Der „Epilog“ (S. 443ff.) befasst sich mit der gegen starke Widerstände insbesondere ehemaliger Wehrmachtsjuristen von der Militärgeschichtsschreibung betriebene kritische Aufarbeitung der Wehrmachtsjustiz, die mit dem NS-Urteilsaufhebungsgesetz vom April 1998 und dem Änderungsgesetz vom 17. 5. 2002 zu einer generellen Rehabilitierung der Deserteure führte. Unberücksichtigt blieben allerdings die Strafurteile wegen Kriegsverrats und „Vorbereitung hochverräterischer Unternehmungen“ (S. 451f.).

 

Das Werk Messerschmidts, welches eines der bedrückendsten Kapitel der neuesten deutschen Rechtsgeschichte behandelt, kann insgesamt noch nicht als die Gesamtdarstellung über die Wehrmachtsjustiz – sofern eine solche wegen der erheblichen Quellenverluste überhaupt möglich erscheint – angesehen werden. Die materiell- und verfahrensrechtlichen Grundlagen des Militärstrafprozesses sind sehr knapp dargestellt; hinsichtlich der Militärstrafgerichtsordnung von 1898 fehlt der Hinweis auf das grundlegende Werk von Josef Anker, Die Militärstrafgerichtsordnung des Deutschen Reichs von 1898, Entwicklung, Einführung und Anwendung, dargestellt an der Auseinandersetzung zwischen Bayern und Preußen, Frankfurt am Main 1995 (vgl. auch W. Schubert, SZ GA, Bd. 113 [1996], S. 1ff.). Die Beratungen des Ausschusses der Akademie für Deutsches Recht für Wehrstrafrecht (hierzu die Protokolle bei W. Schubert, Akademie für Deutsches Recht 1933-1945. Protokolle der Ausschüsse, Bd. VIII, Frankfurt am Main 1999, S. 441ff.) sind nur am Rande erwähnt (vgl. S. 70f.). Zu den führenden Wehrmachtsjuristen (Reichskriegsgericht, Reichskriegsgerichtsanwaltschaft, Rechtsabteilung der Streitkräfte usw.) und deren Psychologie enthält das Werk – von Ausnahmen abgesehen (u.a. S. 47ff.) – nur wenige Angaben. Der systematische Zugriff kommt für den nicht mit der Materie unmittelbar vertrauten Leser etwas zu kurz. Insgesamt geben die detailreichen Kapitel V, VI und VII einen umfassenden Überblick über die Aktivitäten und Unterlassungen der Wehrmachtsjustiz während des Krieges. Diese hat angesichts der zahlreichen, sich ständig radikalisierender Verordnungen und Erlasse zum Kriegssonderstrafrecht, gelenkt von den Rechtsabteilungen der Teilstreitkräfte und des Oberkommandos der Wehrmacht und im Zusammenwirken mit den Gerichtsherren, – von wenigen Ausnahmen abgesehen – drakonische Strafen verhängt und vollstrecken lassen oder kriegsgerichtliche Überprüfungen unterlassen. Es ist das Verdienst des Werkes von Messerschmidt, den bisher erreichten Forschungsstand für die Wehrmachtsjustiz insbesondere im Zweiten Weltkrieg unter Einbeziehung neuer Erkenntnisse umfassend dargestellt zu haben.

 

Kiel

Werner Schubert