GrilliMartone20050202 Nr. 11061 ZRG GA 123 (2006) 68

 

 

Martone, Luciano, Giustizia coloniale. Modelli e prassi penale per i sudditi d'Africa dall'età giolittiana al fascismo (= Storia e Diritto 48). Jovene Verlag, Neapel 2002. XXVIII, 390 S.

 

Einleitung. Die Etappen der Entwicklung der italienischen Kolonisierung sind bekannt: 1882 kaufte die italienische Regierung von der Genueser Handelsgesellschaft Rubattino den am südlichen Ende des Roten Meeres gelegenen Hafen von Assab. Das Jahr 1890 verzeichnet die Geburt des italienischen Kolonialismus: Alle unter italienischer Kontrolle am Roten Meer stehenden Gebiete wurden vereinigt; ihnen wurde jetzt der Name „colonia Eritrea“ verliehen.

 

Einige Jahre später kam das italienische Somaliland hinzu, während jeglicher Versuch, tief in das äthiopische Gebiet weiter vorzudringen, durch die Niederlage von Adua 1896 vereitelt wurde. 1911/1912 gelang es Italien, Tripoli, Bengasi und den libyschen Küstenstreifen zu besetzen, während die Besetzung des Binnenlandes Libyens erst am Ende der zwanziger Jahre vollendet werden konnte. 1935/1936 endlich konnten sich die Italiener nach Mussolinis Worten „für Adua rächen“ und Äthiopien nach einem einjährigen militärischen Feldzug, in dem unter anderem auch das völkerrechtlich gebannte Giftgas gegen die äthiopische Armee verwendet wurde, vollkommen besetzen. Nun war nach Mussolinis Rhetorik das „Impero“ (Kaiserreich) gegründet, und die italienischen Kolonialgebiete erstreckten sich über eine Fläche von mehr als 3 Millionen Quadratkilometer. Dennoch sollte der bald darauf ausbrechende Zweite Weltkrieg schnell und unerwartet allen italienischen Kolonialträumen ein rasches Ende für immer setzen.

 

Das Buch. Für lange Zeit war die Literatur zur Kolonialzeit in Italien in Vergessenheit geraten. Nach dem Verlust sämtlicher Kolonialgebiete de facto schon während des Zweiten Weltkrieges – Äthiopien, Eritrea und Somaliland wurden 1941 von englischen Truppen erobert, Libyen fiel zwei Jahre später in die Hände des Alliierten – und dem Entstehen einer Art diffusen Gefühls eines „schlechten Gewissens“ in der (späten) Nachkriegszeit – die Kolonialabenteuer nämlich seien ein Schandfleck gewesen, wofür in erster Linie der Faschismus die Verantwortung trage – sind neue Recherchen und Studien über die italienische Präsenz in Afrika zwischen dem Ende des neunzehnten Jahrhunderts und der Mitte der vierziger Jahre entweder vernachlässigt oder unter Verwendung sehr starker negativer Vorurteile durchgeführt worden.

 

Das Panorama hat sich aber in den letzten Jahren geändert – wohl dank der Anwesenheit zahlreicher afrikanischer Einwanderer im jetzigen Italien, die eine Art „bumerangsmäßige“ Wiederentdeckung dieses Kontinents und seiner Vergangenheit bewirkt haben soll – und die Historiographie hat unter anderem mit den Werken Angelo Del Bocas eine Vorreiterrolle gespielt[1].

 

Nun füllt dank Martones Werk auch die Rechtsgeschichte diese mittlerweile eher anachronistisch gewordene Lücke. Doch lässt schon der Titel seines Werkes erkennen, dass sich der Autor nur mit der Geschichte eines – allerdings wichtigen –Zweiges der italienischen Kolonialverwaltung – der Justiz - beschäftigen will, wobei hauptsächlich die Strafrechtspflege in Frage kommt. Er gliedert sein Werk in vier Teile:

1)      Der Streit über verschiedene Modelle der Justizpolitik für die Kolonien und insbesondere die mögliche Anwendbarkeit von (speziellen) Strafgesetzbüchern

2)      Strafrichter und Gerichtsverfassung in den Kolonien

3)      Justiz- und Verwaltungspraxis im Hinblick auf einheimische Gewohnheiten

4)      Die Merkmale der Kriminalität in den Kolonien und die Strafjudikatur.

 

 Der Autor schildert die anfänglichen Stellungnahmen Italiens: 1902 traf man hauptsächlich dank der Beharrlichkeit des 1897 zum Gouverneur Eritreas ernannten Ferdinando Martini die Wahl, eine vollkommen neue Gerichtsverfassung für diese erste Kolonie zu verabschieden, die die Justizverwaltung in die Hände von Berufsrichtern legen sollte. Damit schlug Italien anfänglich einen ganz anderen Weg ein als z. B. Frankreich in seinen westafrikanischen Kolonien, wo die Justizaufgaben von dem Verwaltungspersonal wahrgenommen wurden.

 

Ferdinando Martini war entschlossen, sein Amt mit einem hohen Grad an Selbständigkeit gegenüber Rom auszuüben: seinem Ermessen nach konnte nur ein spezialisiertes Berufspersonal – dessen Zugehörigkeitsgefühl als „Kolonierichter“ gegenüber dem übrigen italienischen Richterstand mittlerweile offenbar wurde - mit den komplizierten Aufgaben fertig werden, die aus der Justizverwaltung in einer von speziellen Sitten und Gebräuchen gekennzeichneten Kolonie wie Eritrea entstanden. Martini versäumte es übrigens nicht, dies in seiner 1907 verfassten „Relazione“ Rom gegenüber zu betonen. Ferner plädierte er für die Einführung eines eigenen Strafgesetzbuches, das im weiten Maße auch sämtliche anwendbaren örtlichen Strafrechtsgewohnheiten berücksichtigen konnte. Damit waren die Tore für die Schaffung eines „Codice penale Eritreo“ anscheinend geöffnet: das Gerichtsverfassungsgesetz für Eritrea 1903 hatte nämlich die Anwendbarkeit des für Italien geltenden „codice Zanardelli“ nur auf die von den Einheimischen begangenen schweren Straftaten beschränkt, für die die Zuständigkeit einer „Corte d’Assise“ (Assisenhof) vorgesehen war.

 

Dennoch tritt ein „codice penale eritreo“ nie in Kraft: Sein endgültiges Scheitern fiel mit der Abreise Martinis sowie mit der Übertragung der Justizaufgaben an Verwaltungsbeamte durch die neue Gerichtsverfassung 1908 zusammen.

 

Die Eroberung Libyens seit 1911 verstärkte noch tiefer die italienische Überzeugung, die Einführung spezieller und separater Gesetzbücher für die Kolonien sei unangebracht: Vielmehr müssten die Judikatur und die tägliche Justiztätigkeit – wie der Autor darstellt – ein aus den „besten“ kodifizierten und gewohnheitsrechtlichen Vorschriften gebildetes italienisch-afrikanisches Strafrecht festlegen, das pragmatischen Charakter haben und die Strafrechtsverhältnisse der einheimischen Bevölkerung bestimmen sollte (S. 58). Es sei nämlich oft nutzlos, eine feste Rechtssystematik auf Völker und Stämme anzuwenden, deren Rechts- und Lebensbewusstsein ganz andere Werte als die der „westlichen Zivilisation“ zugrunde lägen (in diesem Zusammenhang und in Hinblick auf die Armut und die Abwesenheit jeden Schamgefühls vor der Perspektive langer Gefängnisstrafen sei z. B. die Verhängung von Geldstrafen genauso nutzlos wie die Inhaftierung gewesen). Auf die in den Kolonien lebenden Italienern wandte man aber jedenfalls nach wie vor den Codice Zanardelli und seit 1930 den neuen Codice Rocco an.

 

Damit waren die Weichen für die darauf folgende koloniale Justizpolitik Italiens gestellt, und zwar in mehrfacher Hinsicht : Der Versuch eines pragmatischen Vorgehens bei dem anzuwendenden Strafrecht ohne jeglichen Rückgriff auf feste geschriebene Gesetzbücher für die „nativi“, der Dualismus in dem anwendbaren Strafrecht - indem die „italienische Bevölkerung“ der Geltung der (geschriebenen) vaterländischen Gesetzbücher untergeordnet blieb -, und letztlich die Abwesenheit von Berufsrichtern in Eritrea und Somaliland seit 1908, nicht aber in Libyen (die Nähe zu Italien trug hier wesentlich zur Beibehaltung der Justiz in den Händen von Fachleuten bei). Eine solche Situation – in der nach Martones Ansicht die Funktionen und Aufgaben der kolonialen Justizverwalter oft denjenigen eines Gesetzgebers ähnelten - änderte sich praktisch nicht bis zur Eroberung Äthiopiens 1936, und der Faschismus sollte daran nur den repressiven Charakter der Strafverfolgung den Einheimischen gegenüber akzentuieren.

 

Der Autor versäumt es nicht, die Vor- und Nachteile eines Systems zu betonen, in dem der Richterstand größtenteils abwesend war und das anzuwendende Recht ein so heterogenes und unangreifbares Magma darstellte: Willkür, Konfusion, zu weiter Ermessensspielraum und Unsicherheit in der Strafjustizverwaltung sowie Härte in der Strafanwendung und Verfolgung einer Unterdrückungspolitik den Einheimischen gegenüber, andererseits aber auch der Versuch von Seiten bereitwilliger und aufgeklärter Kolonialbeamter - wie z. B. Alberto Pollera - , durch die Anwendung der lokalen Strafrechtsvorschriften eine „volksnahe“ und gerechtere Justiz zu ermöglichen. Jedenfalls verlangte eine solche Art der Justizverwaltung von Seiten der entsprechenden Kolonialbeamten (in Ostafrika) und Richter (in Libyen) zusätzliche Anstrengungen im Sinne eines angemessenen Vertrautwerdens mit den  Lokalrechten bzw. dem islamischen Strafrecht, eine Aufgabe, der sie – wie aus den vom Autor herangezogenen Quellen hervorgeht - sicherlich nicht immer gewachsen waren.

 

Die Eroberung Äthiopiens 1936 änderte den genannten Sachverhalt:

1)      Der unterdrückende und repressive Charakter der Strafjustiz akzentuierte sich im Sinne rassistischer Postulate zum Schaden der nativen Bevölkerung, die immer mehr als eine den „Weißen“ untergeordnete und „erziehungsbedürftige“  Rasse angesehen wurde.

2)      Die Berufsrichter kehrten nach Ostafrika zurück, und das Africa Orientale Italiana bekam jetzt ein leitendes, zur Rationalisierung der dortigen Kolonialjudikatur sowie Verwirklichung der neuen faschistischen Gebote aufgerufenes Organ: den noch 1936 gebildeten Appellationshof mit Sitz in Addis Abeba.

 

Die neue, nach streng rassistischen Kriterien vollzogene Differenzierung zwischen der in den Kolonien lebenden Bevölkerung – eine Art richtiger „Apartheid“ italienischer Erfindung - hatte unter anderem auch zur Folge, dass für die von den so häufigen gemischten Paaren geborenen Kinder der Erwerb der italienischen Staatsbürgerschaft nach 1936 kein automatisches Phänomen mehr war, sondern eines spezifischen Verfahrens bedurfte. Die Zeiten hatten sich (leider!) geändert, und so sah sich jetzt z. B. der mittlerweile in den Ruhestand getretene, sonst immer offene und volksnahe gewesene Beamte Antonio Pollera gezwungen, vor den Richtern in Addis Abeba seine vier in Eritrea von zwei einheimischen Frauen geborene Kindern die italienische Staatsangehörigkeit erwerben zu lassen unter dem Vorwand, sie seien „echte Italiener“ und er hätte mit ihren Müttern auf keinen Fall eine Ehe schließen wollen.

 

Kontinuität bildet aber den roten Faden in der italienischen Politik. Eine starke Kontinuität der Unterdrückung im Sinne einer dauernden „politischen Benutzung“ der Strafvorschriften in den Kolonien hatte nämlich nach Martone stets existiert, unabhängig von den spezifischen Merkmalen der faschistischen Kolonialtheorien : „schon zu Beginn des XX. Jahrhunderts (...) wurde die politische Benutzung der Strafvorschriften zum Ausdruck einer autoritären Theorie, deren Ziel es eher war, die Überlegenheit der Italiener in den eroberten afrikanischen Gebieten zu festigen als die im codice penale Zanardelli enthaltenen Rechtmäßigkeitsprinzipien zu exportieren (...,) dass das Strafrecht eine Waffe im Besitz des Staates ist, dessen waren sich schon die Berufsrichter bewusst, die sich schon 1905 für die Schaffung eines eritreischen Strafgesetzbuches erfolglos eingesetzt hatten“ (S. 311).

 

Bilanz. An erster Stelle soll generell darauf hingewiesen werden, dass es dem Autor gelungen ist, den Charakter extremer Verschiedenartigkeit der italienischen Kolonien in Afrika – die, voneinander weit entfernt, aus unterschiedlichen Rassen, Gebräuchen, Gewohnheiten und Religionen bestanden haben – hervorzuheben. Dabei betont Martone wirkungsvoll die ganz separaten Auseinandersetzungen der Italiener einerseits mit dem islamischen Strafrecht (Libyen), andererseits mit den weit entfernten ostafrikanischen Gewohnheiten; „seine“ Geschichte der kolonialen Justiz wird somit zu einer Analyse paralleler und differenzierter Kolonialerfahrungen.

 

Dennoch ist die Abwesenheit jeglicher separater Angabe von Quellen und Bibliographie - sei es am Anfang oder im Anhang des Buches – bedauernswert. Sie erschwert die Lektüre des Buches und zwingt den Leser zu einer mühseligen und nutzlosen Quellensuche. Einziger wahrer Bezugspunkt dafür bleiben lediglich die Seitenfußnoten!

 

Ein wesentliches Verdienst des Buches ist jedenfalls die Heranziehung einer Zahl wichtiger sekundärer Rechtsquellen aus der italienischen Kolonialzeit – wie z. B. die „Rivista di diritto coloniale“ –, die kaum zuvor zu einer Rekonstruktion der italienischen Strafrechtspolitik dieser Zeit benutzt wurden. Wichtige Memoiren wie die von Antonio Pollera helfen dann sicherlich auch, den damaligen Zeitgeist besser zu begreifen. Der Autor vergisst auch nicht - als Beweis der damals herrschenden Debatten und Interessen für Kolonialsachen - alle in den zwanziger und dreißiger Jahren erschienenen wichtigen Lehrbücher für Kolonialrecht (angefangen von dem Santi Romanos) in Betracht zu ziehen.

 

Es ist ferner zu bemerken, dass damalige Zeitschriften lange Auszüge von in den Kolonien ausgesprochenen Urteilen veröffentlichten (darunter die von der Corte d’Appello von Addis Abeba seit 1936), durch deren Berücksichtigung dem Autor ein Einblick in die Kolonialjustiz Italiens gelungen ist.

 

Mehr als ein Einblick – das soll auch gesagt werden - ist aber dem Leser leider nicht möglich. Das Buch basiert nämlich ausschließlich auf Quellen, die in Italien auffindbar sind, während die größte Zahl der Akten italienischer Justizorgane (vor allen Dingen die der schon zitierten Corte d’Appello von Addis Abeba) bekannterweise nie dorthin gebracht worden sind, - da das Ende der italienischen Kolonialzeit plötzlich und unerwartet kam. Unter diesen Umständen ist es äußerst schwierig, allein auf der Grundlage der im Buch herangezogenen Sekundärquellen zu festen Aufschlüssen in Bezug auf die italienische Kolonialpolitik zu kommen. Insbesondere Martones oben genannte, am Ende so allgemein formulierte Theorie der politischen Kontinuität und der politischen Benutzung des Strafrechts – ganz abgesehen von ihrem apodiktischen und abstrakten Charakter, der historisch-methodologisch etwas fragwürdig erscheint - scheint im Hinblick auf die in Italien verfügbaren Dokumente nicht völlig fundiert und fast unverhältnismäßig.  Sie bedürfte unbedingt einer mutigen Forschungsreise mit dem Ziel eines direkten Zugangs zu den übrig gebliebenen Judikaturakten (= Primärquellen) und der Überprüfung, ob sie in Archiven oder Depots von Tripoli, Asmara oder Addis Abeba überhaupt noch aufbewahrt sind.

 

Brüssel                                                                                                                      Antonio Grilli



[1] Angelo del Boca, Gli italiani in Africa orientale, Mailand 1998-2001, 4 Bde.;  jetzt auch desselben Gli italiani in Libia, Mailand 2002. Del Boca besteht ohne weiteres auf dem „negativen“ Charakter der italienischen Kolonisierung, in erster Linie während des Faschismus. Seine auf solider Archivbasis beruhenden Werke enthalten aber eine Fülle von Informationen jeglicher Art, insbesondere über den Alltag des Zusammenlebens „weißer“ und „schwarzer“ Bevölkerung in dem, was 1936 nach der Eroberung Äthiopiens und bis 1941 Africa Orientale Italiana (ital. Ostafrika, abgekürzt A.O.I.) werden sollte.