Heine, Steffi, Die Methodendiskussion nach Inkrafttreten des Bürgerlichen Gesetzbuchs und die Gründung des Vereins Recht und Wirtschaft (= Rechtshistorische Reihe 297). Lang, Frankfurt am Main 2004. 163 S.

 

 

Steffi Heine beginnt ihre von Elisabeth Koch, Jena, betreute Dissertation mit einer Überschau über „Die Wissenschaft und das BGB“ (17-45), präsentiert dann die wichtigsten Beiträge zur „Methodendebatte 1900–1909“ (47-126) und beschreibt zum Schluss die Gründung des Vereins „Recht und Wirtschaft“ (127-141).

 

Steffi Heine fragt „nach methodologischen Lösungsvorschlägen einer den realen Bedürfnissen nicht entsprechend empfundenen Rechtsanwendungslehre“, sucht die Antwort in ausgewählten Rechtsfindungskonzeptionen, verfolgt damit querschnittartig die Reformbewegung und sieht einheitliche Tendenzen und gleichwohl ein differenziertes methodologisches Reservoir vor sich.

 

Sie geht von „Iherings Angriff auf die Begriffsjurisprudenz“ und Gierkes Kritik am BGB-Entwurf aus und erinnert auch in späteren Bemerkungen an die fortdauernde Wirkung älterer Theorien. Der Rezensent vermisst gelegentlich die Angabe des ursprünglichen Jahrs einer Rede, eines Aufsatzes oder der Erstauflage eines Werkes, weil ja das Datum der Herausgabe einer Sammelschrift oder eine spätere Auflage nicht immer genügend aussagekräftig sind. Für das Jahr 1900 muss Steffi Heine auf Äußerungen zurückgehen, die ihren Ursprung in früheren Jahrzehnten haben: Friedrich Endemanns Einführung in das Studium des Bürgerlichen Gesetzbuchs, 1899 bereits in der 5. Auflage (1900 in der 7.), und Windscheids Lehrbuch des Pandektenrechts, 1900 in der 8. Auflage von Kipp bearbeitet. „Ein Gelehrter wie Windscheid“ (so U. Falk) hat sich den Platz in der Galerie der Reformer mit seiner Forderung nach einer „lebendigen Jurisprudenz“ in seiner Rektoratsrede von 1884 und seiner Lehre vom „ungedachten Gedanken des Gesetzgebers“ verdient; in wieweit er damit von dem damals Gängigen abgewichen ist, wird nicht geprüft. Carl Cromes System des Bürgerlichen Rechts von 1900 gilt als das erste umfassende Lehrbuch zum BGB. Andere Kommentare oder Lehrbücher aus derselben Zeit (z. B. Dernburg und Cosack) werden nicht erwähnt.

 

Die für 1902 repräsentative „Lehre vom richtigen Rechte“ von Stammler wird jedoch „nicht als antipositivistisch verstanden“. Doch 1903 hält Eugen Ehrlich vor der Wiener Juristischen Gesellschaft (schon das Forum für Ihering) den programmatischen Vortrag über „Freie Rechtsfindung und freie Rechtswissenschaft“. Als repräsentativ für 1904 stellt die Verfasserin Theodor Sternbergs Allgemeine Rechtslehre vor. Als wichtigstes Ereignis des folgenden Jahres schildert sie den „Diskurs Philipp Heck wider Ernst Stampe“. 1906 erscheint Max Rumpfs „Gesetz und Richter“. 1907 demonstriert Alfred Bozi in seiner „Weltanschauung der Jurisprudenz“, wie die veraltete rechtswissenschaftliche durch eine naturwissenschaftliche Methode zu ersetzen sei. Paul Oertmann hält 1908 seine Rede über „Gesetzeszwang und Richterfreiheit“, und am Ende des Jahrzehnts beklagt Ernst Fuchs die „Gemeinschädlichkeit der konstruktiven Jurisprudenz“.

 

So erkennt die Verfasserin die folgenden „Tendenzen methodologischer Lösungsansätze“ (121-126): In der Sicht von Endemann, Crome, Stammler und Oertmann seien vorwiegend ausfüllungsbedürftige Rechtsbegriffe und Generalklauseln die Orte für einzelfallgerechtes Urteilen gewesen. Ehrlich und Stampe hätten den Bereich des schöpferischen Judizierens jenseits der Wortlautinterpretation oder der historischen Auslegungen gefunden.  Windscheid, Heck und Rumpf hätten für die Ausfüllung der Gesetzeslücken den gesetzgeberischen Willen, Wertungen nachvollziehender Interessenwägung oder den objektiven Geist des Gesetzes herangezogen. Für Bozi und Fuchs sei es vor allem auf die praktische Brauchbarkeit des Ergebnisses angekommen. Und Sternberg habe den beträchtlichen Anteil irrationaler Elemente in der Praxis hervorgehoben.

 

Ehrlich, Stampe und Fuchs stellten die Rechtsanwendung als vornehmlich subjektabhängiges Verfahren dar. Das hier relevante Rechtsgefühl des Richters sei ein professionalisiertes. Ehrlich unterwarf den Richter in Anlehnung an Art. 1 des schweizerischen Vorentwurfs einer präjudiziellen Bindung. Sternberg erkannte im positiven Recht ein ethisches Ganzes als Grundlage für die gerechte Fallentscheidung. Bozi wollte  die allgemeinen Prinzipien induktiv aus denjenigen gesetzlichen Bestimmungen entnehmen, die die gegenwärtige Auffassung von dem, was Recht ist, widerspiegeln. Stammler habe das richtige Recht als Teil des positiven Rechts angesehen.

 

Dass es nach alledem um eine Erneuerungsbewegung im Zuge einer nur begrenzten Freiheitlichkeit gegangen sei, sei durch die contra-legem-Kritik Hecks und Oertmanns weitgehend verdrängt worden. Es ist hier die wichtige Erkenntnis Steffi Heines festzuhalten, dass mit allen diesen Methoden Räume für die schöpferische Rechtsfindung nicht nur eröffnet, sondern gleichzeitig auch begrenzt werden sollten. Ein weiteres dankenswertes Produkt sind die Angaben über einst hoch geschätzte Juristen, die in den heutigen juristischen oder rechtshistorischen Nachschlagewerken selbst dann nicht nachgewiesen sind, wenn sie etwa im Brockhaus, 16. Aufl., 1952, noch zu finden sind. Es fehlt uns also ein Sammelwerk, das, wenn auch noch so bescheiden, die Daten über Juristen (bitte nicht nur „große“ und nicht nur Hochschullehrer) der letzten anderthalb Jahrhunderte zusammenstellt, falls nicht ein rechtshistorisches Forschungsinstitut die Herausgabe eines modernen europäischen „Stintzing-Landsberg“ übernimmt.

 

Der Weg zum Verein „Recht und Wirtschaft“ (127ff.) begann 1909, als Viktor Börngen als neuer Präsident des Oberlandesgerichts Jena Weltfremdheit, Langsamkeit, Formalismus und Juristendeutsch anprangerte, sich gegen die Konstruktions- und Begriffsjurisprudenz und die Konservierung überholter Begriffe wandte und den Einfluss des gesunden Menschenverstandes auf die Rechtsfindung forderte. Noch im Jahr darauf hatte Alfred Bozi, Richter in den preußischen Westprovinzen, Autor der „Weltanschauung der Jurisprudenz“, mit seinem Aufruf zu einem Zusammenschluss von Juristen und Laien wenig Erfolg.

 

Aber Erfolg hatte Börngens Aufsatz in der Deutschen Juristenzeitung von 1911 „Um das Recht der Gegenwart“, in dem er zwar die Vorwürfe der Klassenjustiz und der Weltfremdheit abwehrt, den anderen Mängel der Justiz aber den Kampf ansagt. Die richterliche Entscheidung solle auf die kräftige und lebendige Persönlichkeit des Richters aufbauen, im Rahmen der Gesetze erfolgen und die praktische Brauchbarkeit des Ergebnisses im Blick haben. In diesem Sinne forderte er eine ausreichende Aus- und Fortbildung in Psychologie, Tatsachenfeststellung und Wirtschaftsdingen. Dazu müssten auch Gesetzgebung und Verwaltung reformiert werden. Da es sich um Zusammenhänge von verschiedenartigen Dingen handele, lasse sich das Vorhaben nicht auf eine einheitliche Formel zurückführen.

 

Den Aufruf unterzeichneten die Jenaer Professoren Danz, Hedemann, Reichel, der Landgerichtsrat und spätere Dozent Max Rumpf, selbst Verfasser der wichtigen Reformschrift von 1906, Kohler und andere. 1911 wurde der „Verein zur Förderung zeitgemäßer Rechtspflege und Verwaltung“ gegründet, dessen Name noch in demselben Jahr den Zusatz „Recht und Wirtschaft“ erhielt. Richard Deinhardt, Oberlandesgerichtsrat in Jena, Mitautor des Jenenser Aufrufs, erklärte, dass das Recht es zunächst mit der Wirtschaft zu tun habe, diese sei nicht bloß Geschäft, ethische Gesichtspunkte seien nicht ausgeschlossen. Mehr ist über den Begriff der „Wirtschaft“ und die Verbindung von „Recht und Wirtschaft“ aus der Dissertation nicht zu erfahren.

 

Börngen erklärte 1911 als das Ziel der „neuen Bewegung“ die Überwindung des Zwiespalts zwischen Rechtsleben und Volksempfinden. Er begrüßte eine „Entwicklung des Rechts nach der Richtung des Freirechts“, denn „auch der Freirechtler will nach objektiven Normen, nach Recht, nicht nach Gutdünken ... entscheiden ... und freies Recht, soweit es ihnen das Gesetz nicht selbst vorschreibt, nur da zur Anwendung bringen, wo das Recht eine Lücke enthält“. Freirechtliches Urteilen, das im Falle von gesetzgeberischer Delegation oder von Lücken legitim sei, finde seine Objektivitätsgarantien letztlich in der Persönlichkeit des Richters. Der Verein sei der Kristallisationspunkt der nicht einheitlichen Lehren der Zweckjurisprudenz, Interessenjurisprudenz und soziologischen Jurisprudenz. Viel mehr kann auch Steffi Heine über „das methodologische Programm“ des Vereins nicht sagen.

 

Zu den 120 Mitgliedern der Gründungsperiode gehörten weiter u. a. Heinrich Lehmann, Radbruch, Kipp, Sinzheimer, Kantorowicz, Hugo Preuß, Bozi, Düringer (Reichsgerichtsrat) und der spätere Justizminister Eugen Schiffer. Aus der Wirtschaft: Schrödter, Direktor der Deutschen Bank, Carl Duisberg, Generaldirektor von Bayer, Wilhelm und Carl Friedrich von Siemens, Robert Faber, Vorsitzender des Vereins Deutscher Zeitungsverleger. 1914 zählte der Verein 3400 Mitglieder. Ein Verzeichnis der Mitglieder oder eine Auswertung der Mitgliederliste wird in der Dissertation nicht gegeben. Anscheinend fehlten im Verein mehrere der von der Verfasserin genannten Autoren der Reformschriften aus dem ersten Jahrzehnt.

 

Warum gerade in Jena?, fragt Steffi Hein in ihrem letzten Abschnitt, und verweist auf die intensive Industrialisierung durch Carl Zeiss und Otto Schott, auf den bis 1879 tätigen Schöppenstuhl und die neuerliche Verknüpfung von Universität und Oberlandesgericht sowie den „Geist der Freiheit und Gleichheit, eine durch und durch liberale, natürliche Richtung“, die schon in der Mitte des 19. Jahrhunderts der Naturwissenschaftler Ernst Haeckel in Jena verspürt hatte.

 

Man liest (trotz stilistischen Ungenauigkeiten) die Referate über die Reformschriften und den Bericht über die Gründung des Vereins „Recht und Wirtschaft“ mit einem so großen Interesse, dass man auf die nächsten Untersuchungen über das Wirken des Vereins und seine Publikationen gespannt ist.

 

Berlin                                                                                                             Hans-Peter Benöhr