Gómez Tutor, Juan Ignacio, Die wissenschaftliche Methode bei Christian Wolff (= Wolff, Christian, Gesammelte Werke, hg. v. Ècole, J. u. a., Abteilung III, Materialien und Dokumente, 90). Olms, Hildesheim 2004. 366 S.

 

Die vorliegende Untersuchung von Gómez Tutor wurde im Jahre 2000 als Habilitationsschrift in den Fachbereichen Pädagogik, Philosophie und Psychologie an der Universität Trier angenommen. Der Autor gliedert sie in drei Teile mit den Überschriften: Die wissenschaftliche Methode Wolffs als Einheit und ihre Hauptmomente (18-242), die Relation von „methodus scientifica“ und „ars inveniendi“ in Wolffs Werken (243-270) sowie das Verhältnis von methodus scientifica und System bei Wolff (271-277). Den ersten offensichtlich überproportionierten Teil untergliedert er weiter in: Wolffs Methode als mathematische und somit als universale Verfahrensweise für alle Disziplinen sowie die Hauptmomente der wissenschaftlichen Methode Wolffs, bei der es um Genauigkeit der Begriffsdefinitionen, Absicherung der Grundsätze und Strenge der Beweisführung geht.

 

Bereits diese Einteilungen und Überschreibungen der Werkteile machen klar, worum es in dieser Untersuchung geht und vor allem, worum es nicht geht. Genaue Beschreibung der methodischen Vorstellungen des Autors Wolff, insbesondere deren werkimmanente Entwicklung, steht im Brennpunkt dieser Darstellung, allenfalls noch die Frage nach der aktuellen Geltung von Wolffs Forderungen nach begrifflicher Klarheit, Rechtfertigung (!) von Aussagen und lückenloser Beweisführung (280). Der Verfasser hält dafür, – und wer wollte ihm widersprechen –, diese Qualitätsmerkmale hätten noch heute ihre Gültigkeit, woraus er sogleich schließt, wir alle hätten von Wolff zu lernen.

 

Gómez Tutor ist als Philosoph ein Pädagoge im positiven, aber auch deskriptiv-positivistischen Sinne. Wer hier irgendeine historisch vertiefte Spur von zeitgenössischer Kontextanalyse erwartete, wäre auf sicherem Abweg. Der Autor bemerkt denn selber einleitend, es gehe ihm um einen „Weg der kleinen Schritte“ zur detaillierten Kenntnisnahme der Wolffschen Methode, offensichtlich auch im Sinne des seiner Untersuchung vorangestellten Mottos Mariano Campos (1939) zu Wolff: „Il lavoro si presenta così lungo, pesante, forse anche pedante.“ Dieser Mut zur leisen Selbstironie ist ihm hoch anzurechnen.

Das Buch eignet sich im präzisen Sinne als didaktisches Tutorat in die Methodelehre Wolffs vorzüglich. Es ist klar und sauber geschrieben, motiviert von einem zweifellosen Glauben in die Seriosität der Wolffschen Methodenmaterie, doch eignet es sich meines Erachtens für den wissenschaftlich-analytischen Bereich weniger. Weshalb ich dies glaube,  versuche ich in vier Schritten und einer abschließenden Bemerkung zu begründen:

 

1. Die Literaturauswahl ist für eine Habilitationsschrift, die sich insbesondere durch eine ebenso breite wie vertiefte Auseinandersetzung mit der einschlägigen wissenschaftlichen Literatur zum Thema auszeichnen sollte, zu selektiv. Die vom Autor herausgearbeiteten Grundlinien zur Methodenlehre lassen sich etwa bei Wolfgang Röd, Anton Bissinger, Mario Casula, Konrad Cramer, Hans Poser, Siegfried Wollgast oder Bénédict Winiger[1] auch schon –

wenn auch anders – nachlesen, meistens freilich mit einem kritisch-analytischem Kommentar. Deren Namen und Werke sucht man hier ebenso vergeblich wie Literatur aus fachfremden Bereichen (etwa aus dem Bereich der Rechtsgeschichte, was angemerkt wird, weil die Besprechung an Leser dieses Fachbereichs adressiert ist).

 

2. Die wissenschaftliche Auseinandersetzung Gómez Tutors vollzieht sich zwischen den Positionen des Herausgebers von Wolffs Werken im Olms-Verlag, Jean École, dessen Ansichten affirmiert, und Wilhelm Risse, dessen Interpretationen negiert werden, beschränkt sich aber sonst auf Übersetzungsklaubereien (wie Fußnoten 140, 149, 170, 201 der ersten Fußnotenzählung). Genauigkeitsstreben ist – wie das gewählte Motto schon sagt – zwar pedantisch, aber kaum Erkenntnisgewinne eintragend. Als anmaßend wird dies dort empfunden, wo sich die Schulmeisterei gegen seriöses Kopfwerk eines Sachkundigen wie Günter Gawlick richtet und es an einsichtigen Gründen bzw. Notwendigkeit fehlt.

 

3. Gómez Tutor stellt, so sein Ziel, die Methode Wolffs selbst dar. Die fehlende Einbettung von Wolffs Methodenlehre in den zeitgenössischen Rahmen lässt sie somit bewusst in der Schwebe ihrer Selbstverständlichkeit und selbstgefälligen Ruhe. Wolff pur et pour soi-même bringt aber nichts unter dem Strich. Auch wenn sich der Verfasser diese Vorgehensweise als reine Vorgehensweise vorgenommen hat, so kann er, will er zur Bedeutung von Wolffs universaler Methodenlehre (15) auch beitragen, dies gar nicht anders als durch Vergleichung erreichen, die immerhin erkennen lässt, worin die Optimierungen Wolffs bestehen (könnten). Die wenigen spärlichen Hinweise (48, 91, 110, 125 und einige Male zu Kant) reichen hierfür jedenfalls nicht. Glücklicherweise erörtert die internationale Forschung zu Wolff seit Werner Schneiders Symposium von 1979 die Wolffschen Werke professionell vor dem Hintergrund der europäischen Aufklärung, wie auch der jüngst im Jahre 2004 an der Martin-Luther-Universität zu Halle-Wittenberg durchgeführte internationale Kongress zum 250. Todestag Wolffs wieder bestätigte. Soweit so gut, ließe sich zu Gunsten des Verfassers bis hierher sagen.

 

4. Ärgerlich wird es jedoch dort, wo dieser Purismus der Selbstdarstellung Wolffs gleichsam historisch barockisiert wird, was heißt, dass ein koloriertes Blendwerk erstellt und harter Marmor vorgetäuscht wird: So erscheinen die Namen von Descartes, Hobbes, Locke und einigen anderen mehr je ein oder zwei Mal, derjenige von Leibniz sogar mehrere Male, ja selbst ein Herr von Tschirnhaus ist registriert, doch sämtliche dieser Registereintragungen verweisen auf das Literaturverzeichnis, wo deren Werke nur (aber immerhin) aufgelistet sind, ohne dass sie jedoch in die materielle Abhandlung ersichtlich einbezogen worden wären. Das heißt, deren kontextuelle Diskussion unterbleibt in der Untersuchung. Dabei lägen Querverweisungen auf der Hand wie etwa bei der Beschreibung der Methode der Geometer von Wolff, die von Hobbes stammt (33 FN 50), die dreistufige Erkenntnislehre ist leicht modifizierter Spinoza (37f.), das Definitionsproblem von homo gleich homo hat keineswegs eine bloß formal-logische Bewandtnis, sondern zielt auf eine implizite Kritik an den heterogenen Interpretationen des zeitgenössischen Menschenbildes (195). Wolff hat sich mit dem zeitgenössischen Schrifttum eingehend auseinandergesetzt und wurde nicht zuletzt deswegen, weil er – so der Vorwurf – auch Atheisterey (das war Spinozismus) betreibe, aus Halle verjagt. Gómez Tutors Vorgehen halte ich weder wissenschaftlich für legitim, noch pädagogisch für nützlich, denn ein Literaturverzeichnis enthält nach den aktuell immer noch geltenden wissenschaftlichen Standards – und um diese geht es ihm erklärtermaßen selbst (280) – die in die Untersuchung einbezogene und dies heißt klar nur die zitierte Literatur. Auch sonst ist das Verzeichnis nicht von Fehlern frei (vgl. Schwaiger/Schweiger 169/328 oder die jähe Neuzählung der Fußnotenziffern ab Kapitel 2.2.2  auf S .169). Dass diese elementaren Fehlleistungen nicht korrigiert wurden, noch eine profunde Auseinandersetzung in der Sache selbst verlangt wurde, sondern dass man sich mit einer reinen Darstellung der Wolffschen Lehre begnügte, ist angesichts der Aufnahme der Untersuchung in die offizielle Kommentarreihe zu Wolff unverständlich.

 

Sowohl der Verfasser als auch die Herausgeber müssen sich nämlich die Frage gefallen lassen, weshalb und warum wir uns heute noch mit Christian Wolffs Methodenlehre auseinandersetzen sollen, wozu oder wofür ihre Allgemeinheit bzw. mathematische Methodik – die ja nicht die „seine“ alleine war – gut sein soll, wie der Verfasser mehrfach betont. Gómez Tutor weiß darauf jedenfalls auch nur tautologische Antworten im Sinne von Wolffschen Syllogismen zu reproduzieren (63, 65). Immerhin ist es ihm gelungen, Wolffs Methodenlehre in ihren einzelnen Entwicklungsschritten detailgenau zu beschreiben. Man kann sich nun, wie festgestellt, dadurch ein Bild von der Argumentationsweise Wolffs machen und vielleicht wird die eine Leserin oder der andere Leser dann die Berechtigung der zeitgenössischen Kritik der nachfolgenden Generation am Methodenpurismus des ehemaligen Weltweisen aus Halle unmittelbar nachempfinden können.

 

Das, was Gómez Tutor versprochen hat, hat er gehalten, und daran ist er persönlich zu messen, doch was seine Leistung letztlich an wissenschaftlicher Erkenntnis bringt, bleibt eine andere, wenn auch zentrale Frage.

 

Zürich                                                                                                                        Marcel Senn



[1] Vgl. meine Besprechung in: Zeitschrift für Neuere Rechtsgeschichte 16 (1994), S. 414-416.