Galassi, Silviana, Kriminologie im Deutschen Kaiserreich. Geschichte einer gebrochenen Verwissenschaftlichung (= Pallas Athene 9). Steiner, Stuttgart 2004. 452 S.

 

Wenngleich die Kriminologie an fremden Tischen essen muss, was sie von ihren Gastgebern aufgetischt erhält, so erlaubt sie sich doch, die Gastgeber zu wechseln und in verschiedenen Gasthäusern zugleich zu tafeln“ – in einer einfachen Sprache erklärt Karl-Ludwig Kunz in seinem Lehrbuch „Kriminologie“ (3. Auflage 2001) die Grundproblematik einer interdisziplinären Wissenschaft, die stets ihre Forschungsimpulse, Theorien und Methoden von anderen Diziplinen übernommen hat, ohne sich jedoch in einer bloßen Empfängerrolle zu sehen. Am Beginn ihrer noch sehr jungen Wissenschaftsgeschichte in Deutschland standen Juristen und Psychiater, später kamen Anthropologen und Biologen, dann Psychologen und Soziologen hinzu. Die Anfänge einer intensiven wissenschaftlichen Debatte liegen im deutschen Kaiserreich der 1880er Jahre, eine Institutionalisierung in Form von Lehrstühlen, Forschungsinstituten und Studiengängen erfolgte jedoch erst in der Bundesrepublik Deutschland: Der erste ausschließlich kriminologische Lehrstuhl wurde 1959 an der Universität Heidelberg eingerichtet, das erste Forschungsinstitut nahm 1962 in Tübingen seine Arbeit auf. Inzwischen hat sich das Fach Kriminologie in der bundesrepublikanischen Wissenschaftslandschaft fest etabliert, ein Links-Verzeichnis der Kriminologischen Zentralstelle, einer Forschungs- und Dokumentationseinrichtung des Bundes und der Länder (http://www.krimz.de), zählt aktuell 35 Universitätsstandorte auf.

 

Silviana Galassi untersucht in ihrer Bielefelder Dissertation aus dem Jahr 2002 (Betreuer waren die Professoren Peter Lundgreen und Peter Weingart) die Entstehungsgeschichte der Kriminologie in der Zeit des deutschen Kaiserreichs. Ihr geht es dabei nicht allein um eine Rekonstruktion des wissenschaftlichen Diskurses, der zur Herausbildung der neuen Disziplin führte, sondern auch um die Untersuchung des Institutionalisierungsprozesses in seinen gesellschaftlichen Rahmenbedingungen. Dass ihre Studie dabei kein „Neuland“ mehr betritt, ist weniger der Autorin, als vielmehr der veränderten Forschungslandschaft zuzuschreiben, die in den letzten Jahren einen rapiden Anstieg entsprechender Veröffentlichungen verzeichnete. Zu nennen seien hier lediglich drei Bücher, die die Forschungsergebnisse Galassis stützen, ergänzen oder aber bereits vorweg genommen haben: Richard F. Wetzell, Inventing the Criminal. A History of German Criminology, 1880-1945 (2000), Peter Becker, Verderbnis und Entartung: eine Geschichte der Kriminologie des 19. Jahrhunderts als Diskurs und Praxis (2002), und Christian Müller, Verbrechensbekämpfung im Anstaltsstaat. Psychiatrie, Kriminologie und Strafrechtsreform in Deutschland 1871-1933 (2004).

 

Um ihre zentrale These vorweg zu nehmen: Galassi geht es in ihrem Buch um den Nachweis einer „gebrochenen Verwissenschaftlichung“ der deutschen Kriminologie. Trotz intensiver Debatten und öffentlicher Aufmerksamkeit hatte es diese bis zum Ausbruch des Ersten Weltkriegs nur zu einer Institutionalisierung in Form von wissenschaftlichen Fachzeitschriften gebracht und hierbei auch nur als zuarbeitende Hilfswissenschaft. „Schuld“ sei ein spezifisch deutscher „Geburtsfehler“ gewesen: die enge Verknüpfung der Anfänge einer „deutschen“ Kriminologie mit den gleichzeitigen Erstarken der Strafrechtsreformbewegung in den 1880er Jahren. Ihr frühes Selbstverständnis als (kriminal-)politische Berater habe es verhindert, dass sich die deutschen Kriminologen zunächst einmal primär um ihr eigenes Wissenschaftsfach kümmerten, um dann, aufbauend auf strukturiertes Erfahrungswissen, in einem zweiten Schritt erst die Anwendung dieser Erkenntnisse auf der politischen Ebene zu erörtern. Galassi stützt ihre These auf eine intensive Auswertung zeitgenössischer fachwissenschaftlicher Literatur, vor allem Zeitschriftenaufsätze. Im ersten Abschnitt ihres Buches geht sie auf die seit Beginn des 19. Jahrhunderts veränderten Sichtweisen auf das Phänomen „Verbrechen“ ein. Cesare Lombrosos „L’uomo delinquente“, seine (kritische) Rezeption in Deutschland durch Franz von Liszt und andere, die zeitgenössischen Diskussionen über die Grenze zwischen „Wahnsinn und Verbrechen“, das Problem der „Zurechnungsfähigkeit“, die kriminogenen Faktoren der „moral insanity“ und der „Minderwertigkeit“, die Akzentverlagerung von der „Schuld“ auf die „Gefährlichkeit“ des Verbrechers werden detailliert (und etwas zu deskriptiv) untersucht. Im zweiten Abschnitt ihrer Studie versucht Galassi über die systematische Auswertung von sechs Fachzeitschriften (u. a. das „Archiv für Kriminalanthropologie und Kriminalistik“ und die „Monatsschrift für Kriminalpsychologie und Strafrechtsreform“) den „im Ansatz steckengebliebenen“ Institutionalisierungsprozess nachzuzeichnen. Im letzten großen Abschnitt geht es ihr dann um das zentrale Beziehungsgeflecht, das Verhältnis zwischen der Kriminologie und den kriminalpolitischen Erfordernissen, von ihr als „eine verhängnisvolle Affäre“ charakterisiert. Überzeugend kann sie aufweisen, dass die deutsche Kriminologie durch ihr von Anfang an enges Verhältnis zur Strafrechtsreformbewegung ihren wissenschaftlichen Charakter und ihre Bedürfnisse zurückstellte: statt Grundlagenforschung und reflexive Methodenkritik zu betreiben sowie den Institutionalisierungsprozeß zu forcieren, legten die deutschen Kriminologen ihr Hauptaugenmerk auf politische Beratung und Gesetzgebungsarbeit, und blieben deshalb auf halben Wege zu einer selbständigen Wissenschaft stehen. Beispielhaft macht sie das am zeitgenössischen Verbrechens-Begriff deutlich: „Der bürgerliche Kanon der Sitten und Tugenden wurde stillschweigend zur Grundlage des kriminologischen Verbrechens- und Verbrecherbegriffs“ (244).

 

Galassis Studie ist sehr gut lesbar geschrieben, ihre Kapitelüberschriften zeugen von Sprachwitz, sie hat sich fleißig durch die zeitgenössische Literatur gearbeitet und diese für ihre Fragestellung überzeugend strukturiert. Ein wichtiges Teilergebnis ist ihre Feststellung, dass die zeitgenössischen Diskussionen um Eugenik und Rassenhygiene die kriminologischen Diskussionen nur am Rande berührten; Forderungen nach Kastration von „Gewohnheitsverbrechern“ blieben bis zum Ersten Weltkrieg Außenseitermeinungen. Lobenswert ist auch ihr Versuch, die kriminologischen Diskussionen in einen gesellschaftlichen Kontext zu stellen und die soziale Dimension der Wissenschaft deutlich zu machen. Was dabei auffällt, ist, dass in einer sozialhistorischen Abhandlung die handelnden Menschen, die Kriminologen selbst, völlig im Dunkeln bleiben. Wer waren diese Personen, ihre soziale Herkunft, ihr kultureller Kontext? Handelte es sich nicht tatsächlich um eine bürgerliche „Klassen-Kriminologie“, die aus naheliegenden Gründen auf die Untersuchung der sozialen Ursachen von Verbrechen verzichtete und sich stattdessen auf das biologische Individuum stürzte, es in Tätertypen klassifizierte, um das Verbrechen besser kontrollieren und bekämpfen zu können und das bestehende Gesellschafts- und Staatssystem möglichst effizient zu schützen? Inwieweit können diese sozio-kulturellen Hintergründe und Motive nicht auch zur Erklärung der „gebrochenen Institutionalisierung“ herangezogen werden? - eine „kritische“ Kriminologie konnte sich bekanntlich erst in den 1960er Jahren in der Bundesrepublik etablieren. Außerdem ist zu fragen, inwieweit es legitim ist, den Untersuchungsraum bei dieser Fragestellung auf den nationalen Rahmen einzuengen (S. 15), zumal die Autorin selbst ausführlich auf die Schriften Lombrosos, Ferris u. a. eingeht. Warum schlossen sich bereits 1889 die Kriminologen in einer internationalen Organisation, der „Internationalen Kriminalistischen Vereinigung“ (IKV), zusammen, warum wurde als erster Schritt der konkreten Strafrechtsreformarbeit das Mammutwerk des internationalen Strafrechtsvergleichs (Vergleichende Darstellung des deutschen und ausländischen Strafrechts. Vorarbeiten zur deutschen Strafrechtsreform, hg. von Karl von Birkmeyer u. a. Bd. 1-16 (1905-1909) in Auftrag gegeben? Leider schließt die Arbeit mit einem sehr kurzen, aber auch sehr schwachen Ausblick auf die Nachkriegszeit in der Weimarer Republik und den Nationalsozialismus: Das Verhalten der Kriminologen im Jahr 1933 mit: „stießen sie [die Nationalsozialisten] … nicht auf nennenswerten Widerstand“ (428) zu charakterisieren, zeugt von Unkenntnis des Forschungsstandes in Bezug auf Personen wie Franz Exner und Edmund Mezger, die im „Dritten Reich“ die “Verwissenschaftlichung” des Faches Kriminologie entscheidend vorantrieben. Trotzdem: Galasssi ist ein wichtiger Beitrag zur Wissenschaftsgeschichte der Kriminologie und der Frühgeschichte der deutschen Strafrechtsreform gelungen. Als innovativ ist ihr Vorgehen zu werten, dieses Thema nicht nur auf der Diskurs-Ebene zu behandeln, sondern auch in einen gesellschaftlichen Kontext zu stellen.

 

Saarbrücken                                                                                                  Rainer Möhler