Ernst, Angelika, Die Einführung des napoleonischen Steuer- und Verwaltungssystems in Lüneburg 1810/1811 unter Ablösung der alten Rechtsnormen. Hüsterlo-Verlag, Seth 2004. 232 S., graph. Darst.

 

Ernst untersucht in ihrem Werk, „wie ein nach ganz feudal-ständischen Rechtsvorstellungen ausgerichtetes Steuer- und Verwaltungssystem abrupt von einem egalitären, zentralistisch gelenkten und nach einheitlichen Normen aufgebauten Finanz- und Administrationsapparat abgelöst wurde“ (S. 8). Lüneburg lag im Herzogtum Braunschweig-Lüneburg, für das sich im 17./18. Jahrhundert die Bezeichnung Kurfürstentum Hannover (Kurhannover) eingebürgert hatte, nachdem Hans Georg aus dem Hause der jüngeren Linie Braunschweig-Lüneburg seine Residenz nach Hannover verlegt hatte; Lüneburg war seit 1378 nicht mehr Fürstenresidenz, hatte jedoch vor dem Dreißigjährigen Krieg als Handelsstadt eine neue Blüte erlangt. In der Folgezeit verlor es seine Bedeutung als wichtigster Salzproduzent Norddeutschlands und war zu Beginn des 19. Jahrhunderts verarmt. Die Untersuchung beschränkt sich auf Lüneburg unter Berücksichtigung der Gesetzgebung von Kurhannover. Eine Gesamtdarstellung der Thematik des Werkes für das ganze Kurfürstentum hätte den Rahmen der Untersuchungen gesprengt, da jede Provinz eine eigene Steuerverfassung und jede kanzleisässige Stadt wie Lüneburg jahrhundertealte Privilegien und eigene Steuererhebungsrechte hatte. Hinzu kommt noch, dass Kurhannover in der napoleonischen Zeit teils dem Königreich Westphalen, teils Frankreich angegliedert war. Ernst behandelt die wirtschaftliche, politische und soziale Situation Lüneburgs zu Beginn des 19. Jahrhunderts und kommt dann zur Steuergesetzgebung im Kurfürstentum, zu dem Lüneburger Steuer- und Steuererhebungssystem und zu den Privilegierungen und Steuerbefreiungen des Adels, der Geistlichkeit und weiterer Personen unter dem Ancien régime. Zwischen 1803 und 1810 war Lüneburg unter preußischer und französischer Besatzung, ohne dass das Steuer- und Abgabenrecht verändert wurde. Zum 1. 3. 1810 kam der nördliche Teil Hannovers zum Königreich Westphalen; Lüneburg wurde Sitz eines Distrikts (Arrondissement) im Departement Niederelbe (Stade). Die zum 1. 11. 1811 geplante Besteuerung nach dem westphälisch-französischen System kam nicht mehr zur Durchführung, da bereits durch ein Organisches Dekret vom 18. 12. 1810 Lüneburg einer französischen Regierungskommission unterstellt und am 22. 1. 1811 dem neu geschaffenen Departement der Elbemündungen wiederum als Sitz eines Arrondissements zugeschlagen wurde.

 

Zum 1. 7. 1811 wurde das französische Steuer- und Abgaben- sowie Erhebungssystem eingeführt. Zu den direkten Steuern gehörten die Grundsteuer (Anteil von 80% des Gesamtaufkommens), die Personal- und Mobiliarsteuer sowie die Türen- und Fenstersteuer (vgl. S. 152). Hinzu kam noch die (Gewerbe-)Patentsteuer. Die Basis für die Bemessung der Grundsteuer war der „mutmaßliche jährliche Ertrag eines Grundstücks“ (S. 161), unabhängig davon, ob das Grundstück verschuldet war oder nicht und welchen Betrag es jährlich einbrachte. Zu den indirekten Steuern zählten u. a. die Getränke- und Salzsteuer sowie die Tabakregie und der Municipal-Oktroy (S. 163ff.). Zu nennen sind ferner die Registrierungsabgaben (u. a. für die Hypotheken- und die Stempelgebühren). Die wichtigsten Abgaben waren mit Zuschlägen versehen, so dass die steuerliche Belastung der Bevölkerung größer gewesen sein dürfte als unter dem Ancien régime. Die französische Herrschaft beseitigte sämtliche Steuer- und Gewerbeprivilegien des alten Rechts. Die Gewerbefreiheit, die zahlreiche Beschwerden der Betroffenen hervorrief, verschaffte dem bisher nicht privilegierten Teil der Einwohner erhebliche Vorteile. Die gute und zentralistisch aufgebaute Organisation der Steuererhebung war im Hinblick auf das alte unübersichtliche System ein großer Fortschritt (hierzu die Schaubilder S. 162, 173). Allerdings waren die kaiserlichen Dotations-Domänen, die in Provinz Lüneburg keine so große Rolle spielten wie im Königreich Westphalen, steuer- und abgabenfrei (S. 176ff.). Ernst stellt abschließend fest, dass von der Einverleibung in das französische Kaiserreich nur einige Wenige profitiert hätten. Den meisten Lüneburgern sei infolge der Kontinentalsperre, der Einquartierungslasten, der Kriegskontributionen und Zwangsanleihen ihre ökonomische Basis entzogen worden (S. 196). Negativ gewirkt hätte auch die Verletzung des Gleichheitsgrundsatzes durch die Privilegierung der Dotations-Domänen. Insgesamt konnte die Bevölkerung die Vorzüge der französischen Herrschaft nicht positiv bewerten, so dass mit dem Abzug der Franzosen bereits durch das Dekret der Provisorischen Provinzial-Regierung vom 1. 11. 1913 die französische Gesetzgebung aufgehoben wurde „mit Ausnahme des provisorisch beyzubehaltenden Steuerwesens“ (S. 198). Wann dieses endgültig beseitigt wurde, teilt die Verfasserin nicht mehr mit.

 

Ernst hat in ihrer Dissertation (Fachbereich Geschichtswissenschaft der Universität Hamburg) eine Thematik aufgegriffen, zu der bisher keine detaillierten rechtshistorischen Untersuchungen vorliegen. Die Arbeit beruht zu wesentlichen Teilen auf den einschlägigen Archivalien des Stadtarchivs Lüneburg, des Niedersächsischen Hauptstaatsarchivs und des Hamburger Staatsarchivs. Zahlreiche zum Teil zweiseitige Übersichten insbesondere zu den gesetzlichen Grundlagen des französischen Steuer- und Verwaltungssystems vermitteln einen guten Überblick über die Grundlagen der französischen Herrschaft. Aufschlussreich sind die allerdings noch erheblich ergänzungsbedürftigen Hinweise auf die französische Steuerrechtsgeschichte unter der Revolution und unter Napoleon, wozu die französische Literatur wohl noch breiter herangezogen werden müsste. Die wenigen quantitativen Angaben beziehen sich auf die gesamten Steuereinnahmen. Welche Belastungen mit dem französischen Steuersystem für den einzelnen Bürger verbunden waren, teilt Ernst nicht mit. Sie ließen sich wohl auch nicht ermitteln. Zu der Wiederherstellung des alten Steuersystems durch das Königreich Hannover fehlen nähere Einzelheiten. Insgesamt eröffnet das Werk Angelika Ernsts einen guten Einblick in einen wichtigen Teilbereich der Rechtsgeschichte der Rheinbundzeit, der im Hinblick auf die Einführung bzw. Rezeption französischen Rechts größere Aufmerksamkeit als bisher verdient.

 

Kiel

Werner Schubert