Czelk, Andrea, „Privilegierung“ und Vorurteil. Positionen der bürgerlichen Frauenbewegung zum „Unehelichenrecht“ und zur Kindstötung im Kaiserreich (= Rechtsgeschichte und Geschlechterforschung). Böhlau, Köln 2005. XIV, 260 S.

 

Durch Darstellung und Interpretation der rechtlichen Forderungen der älteren Frauenbewegung zu § 217 StGB und zum Tatbestandsmerkmal der Unehelichkeit in den §§ 1706-1717 BGB a. F. soll – so die Zielsetzung der Untersuchungen von Czelk – die Einstellung der bürgerlichen Frauenbewegung zur unehelichen Mutterschaft auf ein mögliches Werturteil hin überprüft werden (S. 4). § 217 bedrohte eine Mutter, „welche ihr uneheliches Kind in oder gleich nach der Geburt vorsätzlich tödtet“, mit Zuchthaus nicht unter drei Jahren. Wenn mildernde Umstände vorlagen, trat Gefängnisstrafe nicht unter zwei Jahren ein (Änderung der Strafdrohung durch Gesetz vom 4. 8. 1953). Der Privilegierungstatbestand geht zurück auf die Humanisierung des Strafrechts in der Aufklärung, die im Verlauf des 19. Jahrhunderts zu der gegenüber dem Mord erheblich geringeren Strafdrohung für die Kindstötung führte. Ein Schlusspunkt brachte der Privilegierungstatbestand im Strafgesetzbuch von 1870/71, der sein Vorbild in § 180 des preußischen Strafgesetzbuchs von 1851 hatte. Anhand der Motive zu dieser Norm arbeitet der Verfasser als Gründe für die Strafmilderung heraus: Härte des Unehelichenrechts, Notlage der alleinstehenden Frau, Scham und Geburtsaffekt. Nach der von Camilla Jellinek redigierten, an den Reichstag gerichteten Petition des Bundes Deutscher Frauenvereine (BDF) zur Reform des Strafgesetzbuchs und der Strafprozessordnung von 1909 sollte eine Mutter, die ihr uneheliches Kind in oder gleich nach der Geburt vorsätzlich tötete, mit Gefängnis bis zu drei Jahren bestraft werden (S. 89). Flankiert werden sollte diese Norm durch eine Strafdrohung (Gefängnis) für den Mann, der „sich böswillig der Pflicht entzieht, einer von ihm außerehelich geschwängerten Person aus Anlaß der Schwangerschaft oder Niederkunft notwendige Hilfe zu leisten“, wenn dies zur Folge hatte, „daß die Person in einen notleidenden Zustand versetzt wird, in dem sie ein gegen das Leben des Kindes gerichtetes oder dasselbe einer Gefahr aussetzendes Verbrechen begeht“ (S. 96).

 

Nach einem ersten Abschnitt über die Auslegungsfrage und Methodik bringt Czelk zunächst einen kurzen Überblick über die Geschichte der älteren Frauenbewegung, die sich parallel mit der Endphase der Entstehung des Bürgerlichen Gesetzbuchs zu einer institutionellen Kraft entwickelte, deren Forderungen zum Familienrecht auch von der Öffentlichkeit wahrgenommen wurden. Diese Linie setzte sich nach 1900 in den Stellungnahmen des BDF zur Strafrechtsreform fort. Im Kapitel 2 bringt Czelk eine Darstellung des § 217 insbesondere hinsichtlich der Deliktsnatur und der Definition der einzelnen Tatbestandsmerkmale, verbunden mit einer Geschichte des Privilegierungstatbestandes, beginnend mit der Carolina. Auffallend ist, dass Czelk zwar auf das preußische Strafgesetzbuch eingeht, nicht jedoch auf die lange Vorgeschichte des § 180 in der Gesetzrevision (1826-1848).

 

Anschließend befasst sich Czelk mit den Forderungen der Frauenbewegung zu § 217 (Kapitel 4), nicht zu der parallelen Bestimmung im sog. Vorentwurf von 1909, da Ausgangspunkt der Kritik die geltende Fassung der Norm war. Es folgt ein Überblick über die von der Frauenbewegung kritisierten Bestimmungen zum Nichtehelichenrecht des BGB bzw. zum 2. BGB-Entwurf von 1894/95 (Kapitel 5). Die gesetzliche Regelung (u. a. Versagung der Verwandtschaft zwischen dem Vater und dem nichtehelichen Kind, keine volle elterliche Gewalt der Mutter; zeitliche Beschränkung der Unterhaltspflicht; Einrede des Mehrverkehrs) wurde von der Frauenbewegung, so arbeitet Czelk heraus, an vielen Stellen als Vorurteil gegenüber unehelichen Müttern wahrgenommen. Zu Kapitel 6 (Strafe und Verantwortung von Mann und Frau aus der Sicht der Frauenbewegung; S. 156ff.) stellt Czelk heraus, dass die vom BDF geforderte Strafmilderung weiterhin meist mit der rechtlichen und sozialen Stellung der unehelichen Mutter gerechtfertigt wurde. Die strafrechtliche Verantwortung des Mannes sollte jedoch mit derjenigen der Frau verbunden werden. Abschließend diskutiert Czelk die Stellung der Frauenbewegung zur Schutz- und Schuldperspektive hinsichtlich der Unehelichkeit. Thematisiert wird auch die Abgrenzung zum „Bund für Mutterschutz“, der eine „neue Ethik der Frauenliebe“ befürwortete und sich damit an der Zukunft orientierte (S. 220). Demgegenüber wollte die bürgerliche Frauenbewegung die „uneheliche Mutter und ihre Kinder selbst unmittelbar schützen“ (S. 219), sie „verdammte“ die uneheliche Mutter nicht stärker, als sie die Mutter und ihr Kind schützen wollte, wenn auch die von ihr „ebenfalls neu entworfene“ Sittlichkeit von einer „idealen Ehe“ ausging (S. 221). Während die Vorschläge zum Familienrecht des BGB die frauenfeindlichen Aspekte der gesellschaftlichen Moral zumindest im Gesetz neutralisieren sollten, wollte die Frauenbewegung, als es nunmehr auch um eine moralische Thematik ging, die gesellschaftlichen Wertvorstellungen aktiv zugunsten der Frauen beeinflussen. Die in den Gesetzesfassungen zum Ausdruck gebrachten Wertungen und Appelle waren somit auch ein „Vehikel für Meinungskundgaben“ (S. 226). Damit vertrat auch die bürgerliche Frauenbewegung gesellschaftspolitische Forderungen mit Hilfe von Gesetzespetitionen, die dann in der Weimarer Zeit u. a. im Nichtehelichenrechtsentwurf von 1925 ihren Niederschlag fanden. In einem „Ausblick“ schildert Czelk die Entwicklung der Strafrechtsreform ab 1909, allerdings etwas allzu knapp und ohne Detailnachweise (Verhandlungen in der Strafrechtskommission von 1911/13; Strafrechtskommission des Reichstags; Strafrechtskommission des Reichsjustizministeriums 1933-1936). Bereits der StGB-Entwurf von 1922 näherte sich im Strafrahmen den Forderungen der Petition von 1909 an (S. 231). Der NS-Gesetzgeber wollte § 217 beseitigen, allerdings wurde noch 1943 eine Bestimmung in das Strafgesetzbuch als § 170c (aufgehoben durch Gesetz vom 23. 11. 1973) eingefügt, wonach sich der Mann strafbar machte, wenn er eine von ihm geschwängerte Frau ohne Hilfe im Stich ließ. Durch das 6. Strafrechtsänderungsgesetz von 1998 wurde § 217 aufgehoben (S. 237).

 

Das Werk Czelks zeigt, dass die rechtspolitischen Forderungen der Frauenverbände zum Familienrecht und zu Teilen des Strafrechts die Rechtsentwicklung im 20. Jahrhundert in weitem Umfang mitbestimmt haben. Hierzu hat Czelk einen wichtigen Beitrag geliefert, der auch in methodischer Hinsicht (hermeneutische Auslegungsmethode) beachtlich erscheint. Allerdings wäre es nützlich gewesen, wenn Czelk in ihrem primär frauen- und genderhistorisch ausgerichtetem Werk auch die sonstigen rechtshistorischen Quellen zur Reformgeschichte des § 217 zumindest mit angesprochen hätte (z. B. die Statistik und die weiteren Stellungnahmen zur Kindstötung in der späten Kaiserzeit, hierzu Zusammenstellung der gutachtlichen Äußerungen über den Vorentwurf zu einem Deutschen StGB, gefertigt im Reichs-Justizamt, Berlin 1911, S. 320 f.; von Liszt, Vergleichende Darstellung des deutschen und ausländischen Strafrechts, Bes. T., Bd. 5, 1905, S. 106ff.).

 

Kiel

Werner Schubert