Becker, Peter, Dem Täter auf der Spur. Eine Geschichte der Kriminalistik. Primus Verlag, Darmstadt 2005. 288 S.

 

Der Linzer Historiker Peter Becker wendet sich mit diesem Buch an ein breiteres Publikum. Diese Geschichte der Kriminalistik ist in erster Linie eine Geschichte der kriminalistischen Methoden der zweiten Hälfte des 19. und des 20. Jahrhunderts wie Fotografie, Fingerabdruck, Rasterfahndung oder Öffentlichkeitsfahndung, Profiling bzw. objektive Fallanalyse und DNA-Analyse. Unter „Die Vorgeschichte der Kriminalistik“ werden die Methoden der Rekonstruktion eines Tatherganges und der Überführung des Täters seit der Carolina sehr knapp behandelt.

 

In der Mitte des 19. Jahrhunderts breitete sich in Europa mit der Fotografie die erste „moderne“ Methode der Verbrechensaufklärung und Verbrechensbekämpfung aus. Rasch bemühte man sich um Standardisierung der Fotos zur Identifizierung verdächtiger Personen. Alphonse Bertillon veröffentlichte 1890 eine detaillierte Anleitung zur Anfertigung von Portraitfotos und stieß damit nicht nur die Reform der Polizeifotografie in Frankreich, sondern auch in anderen europäischen Ländern an. Doch kleinere Städte mussten noch lange auf die Dienste lokaler Berufsfotografen zurückgreifen und konnten dieses standardisierte Verfahren erst sehr viel später umsetzen – Lübeck z. B. richtete erst 1905 einen eigenen polizeifotografischen Dienst ein. Um die Jahrhundertwende kam als erkennungsdienstliches Mittel der Fingerabdruck hinzu, das sich dann sehr rasch durchsetzte. Die Fotografie verwandte man ebenfalls weiter, auch zur Spurensicherung am Tatort und als Beweismittel. Doch die Reduktion des dreidimensionalen Raumes auf ein zweidimensionales Abbild wurde nur allmählich akzeptiert. Man musste zuerst lernen, solche Bilder zu „lesen“.

 

Die Rasterfahndung wurde in Deutschland am Ende der 1970er Jahre von Horst Herold eingeführt. Vorläufer dieses Fahndungsprinzips entdeckt Peter Becker aber bereits im 19. Jahrhundert. Generalpolizeidirektor Carl Georg Ludwig Wermuth stellte 1846 die nach einzelnen Fällen aufgebaute Registratur von Hannover auf Personalakten von Straftätern und Verdächtigen um, um alles Wissenswerte zu diesen Personen in einer Akte verfügbar zu haben. Eine weitere Parallele gibt es zu den Gedanken des Grazer Kriminalisten Hans Gross, der eine Konzentration auf den Sachbeweis forderte. Auch Herolds Interesse galt der „Objektivierung des Strafverfahrens“: „Ich erstrebe einen Strafprozess, der [...] frei ist von Zeugen und Sachverständigen. Der sich ausschließlich gründet auf dem wissenschaftlich nachprüfbaren, messbaren Sachbeweis“ (S. 199). Er ging so weit, anzunehmen, dass in der Zukunft sogar der Richter überflüssig werde.

 

Die systematische Klassifizierung und Speicherung von Indizien, die mit Straftätern in Zusammenhang gebracht werden können, setzt aber auch ein relativ enges und heute teilweise überholtes Verständnis von Normalität voraus, das auch dazu führte, dass verschiedentlich Menschen ins Visier der Rasterfahndung gerieten und erhebliche Belästigungen oder Nachteile zu erleiden hatten, ohne je Straftaten begangen zu haben. Aber auch dieser „praktische Blick (S. 198) des Kriminalisten, der in der Lage zu sein glaubt, aufgrund seines Erfahrungswissens aus dem Bereich der „bürgerlichen und natürlichen Ordnung der Dinge“ zwischen tolerierbaren und gefährlichen Formen abweichenden Verhaltens zu unterscheiden und der auch der Rasterfahndung zugrunde liegt, stammt bereits aus der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Die umfangreiche Sammlung von Daten wurde zwar durch die EDV stark ausgeweitet, völlig neu war sie aber nicht. Der Kriminalist Hans Schneickert sammelte bereits in den 1920er Jahren Handschriften. Im April 1979 enthielt die Datensammlung des deutschen Bundeskriminalamts dann Schriftproben von 62000 Personen – auch solche von „Nichtverdächtigen“.

 

Das Hauptinteresse des Autors gilt eindeutig den modernen Ermittlungstechniken, wie beispielsweise dem aus Amerika stammenden Profiling, aus dem in Deutschland die objektive Fallanalyse entwickelt wurde. In diesem Buch beschreibt Becker solche Verfahren ausführlich und sucht in der Geschichte nach Parallelen oder Vorläufern. Auch im Fall des Profiling entdeckt er einen solchen im „praktischen Blick“: „Mit der Fallanalyse setzt die deutsche Polizei heute ein Modell der kriminalistischen Beobachtung in die Praxis um, wie es bereits von Gustav Zimmermann in der Mitte des 19. Jahrhunderts formuliert worden war.“ (S. 254).

 

Anschau                                                                                                                     Eva Lacour