Azevedo Alexandrino Fernandes, João Manuel, Die Theorie der Interpretation des Gesetzes bei Francisco Suárez (= Rechtshistorische Reihe303). Lang, Frankfurt am Main 2005. 172 S.

 

Es handelt sich um die erste umfassende Darstellung der juristischen Auslegungstheorie des spanischen Spätscholastikers Francisco Suarez (1548-1617). Suarez’ ideengeschichtliche Bedeutung erwächst aus seinen theologisch-philosophischen Schriften, die in thomistischer Tradition stehen, jedoch auch Annäherungen an nominalistische Standpunkte aufweisen. Sie werden über die spanischen Landesgrenzen hinaus, und auch an deutschen protestantischen Universitäten rezipiert. Im rechtstheoretischen Bereich hat Suarez mit seiner Neubestimmung der Begriffe des Natur- und Völkerrechts Einfluss, nicht zuletzt auf Hugo Grotius (1583-1645).

 

Der Autor berichtet im ersten Teil des Buches einleitend von den persönlichen Lebensumständen Suarez', wobei er besonders dessen integre Persönlichkeit und die Eingebundenheit seines Denkens in das katholische Weltbild herausstreicht. Es folgen Erläuterungen zu den politischen Gegebenheiten der Epoche, die ein plastisches Bild der Situation auf der spanischen Halbinsel vermitteln, dabei allerdings zuweilen den Rahmen des für das Verständnis der rechtstheoretischen Problemstellung Notwendigen überschreiten (etwa wenn der Autor auf die spanische und portugiesische Expansionspolitik eingeht).

 

Im Ansatz überzeugend nähert sich der Autor im zweiten Teil der Interpretationstheorie Suarez’ mittels der Erläuterung seines Rechtsverständnisses an. Methodisch, und dies gilt für die gesamte folgende Darstellung, zeichnet sich die Arbeit dadurch aus, dass zum Einen stets eng und direkt an den Quellentexten gearbeitet wird, insbesondere an Suarez' Tractatus de Legibus ac Deo Legislatore, entstanden in den Jahren 1601-1603; dabei werden dankenswerterweise die zitierten Textstellen durchgehend im lateinischen Original in den Fußnoten wiedergegeben. Zum Anderen stellt der Autor Suarez’ Thesen stets in den Zusammenhang ihrer ideengeschichtlichen Herkunft, wobei er sich nicht auf die Darstellungen Dritter stützt, sondern die mittelalterlichen Quellentexte selbst auswertet (Werke von Augustinus, Thomas von Aquin, Petrus Hispanus etc.).

 

Der Autor streicht als wesentliche Charakteristika des Rechtsverständnisses Suarez’ deren voluntaristische Tendenz sowie die Abmilderung derselben durch die Lehre vom Spielraum der Vernunft überzeugend heraus: Nach Suarez verleihe in erster Linie der Wille des Gesetzgebers dem Gesetz Verbindlichkeit, wobei diese Lehre aber nicht rechtspositivistisch sei im Sinne propagierter Wertneutralität, sondern die Konformität des Willens des Gesetzgebers mit dem material Richtigen voraussetze, nämlich mit dem Gerechten, das mit Hilfe des Begriffs des Gemeinwohls konkretisiert werde. Nur innerhalb der Grenzen dieses Spielraums der Vernunft könnten überhaupt Gesetze im eigentlichen Sinne erlassen werden, handle überhaupt der Gesetzgeber als legitimierter Herrscher und nicht als Tyrann.

 

Indem der Autor als Folgerung für Suarez' Auslegungslehre erörtert, dass im Falle eines als ungerecht erkannten Gesetzeswortlautes der Interpret den sozusagen wirklichen Willen, also den material richtigen Willen des Gesetzgebers an die Stelle dieses Wortlautes zu setzen habe, kann er die emanzipatorische Tendenz der Lehre Suarez’ bezogen auf das Verhältnis des Interpreten zum Gesetzgeber plausibel machen. Allerdings spart er, wie Suarez selbst, die Frage praktischer politischer Konsequenzen aus.

 

Im dritten Teil, dem Kernstück der Arbeit, stellt der Autor schließlich die wesentlichen Aspekte der Interpretationstheorie Suarez’ als solcher systematisch und in der Darstellung überzeugend zusammen: Suarez verstehe die Interpretation als Modifizierung des Gesetzes durch den Interpreten im und für den konkreten Einzelfall, wobei eine solche Modifizierung grundsätzlich nur bezogen auf die menschlichen geschriebenen Gesetze möglich sei. Diesbezüglich also etabliere Suarez seine Theorie der drei verschiedenen Interpretationsarten, der authentischen, die der Gesetzgeber selbst mittels eines interpretierenden Gesetzes durchführe, der doktrinalen, die seitens der Jurisprudenz geführt werde und auf die Ermittlung des wahren Sinnes des Gesetzes ziele, und schließlich der usualen, die die allgemeinen Gewohnheiten zugrunde lege.

 

Abschließend geht der Autor auf die Anwendung von Suarez’ Interpretationslehre im Bereich des Naturrechts ein, wobei er die übergreifende Bedeutung der Interpretationstheorie in Suarez’ Denken aufzeigen kann: Da Interpretation als Gesetzesmodifizierung im Einzelfall verstanden werde, impliziere Suarez’ Interpretationslehre bezogen auf das Naturrecht die Frage nach dessen Unveränderbarkeit. Da letztere als Dogma aber nicht aufgegeben werden könne, müsse, so der Kunstgriff Suarez’, das Naturrecht selbst zwar als unveränderlich betrachtet werden, jedoch veränderten sich geschichtlich bedingt die Regelungsobjekte und erforderten die Anwendung jeweils neuer Naturrechtssätze.

 

Dankbar wäre der Leser an dieser Stelle für ein Schlusskapitel, das die zuvor gewonnenen zahlreichen und wichtigen Erkenntnisse zusammenführend auswertet, insbesondere im Hinblick auf weitere Konsequenzen für Suarez’ Naturrechtsverständnis. Auch ein kritisch-produktiverer Umgang mit den bestehenden Forschungsergebnissen wäre hier wünschenswert. Dass es davon abgesehen interessant wäre, die Wirkung von Suarez’ Lehre auf die frühneuzeitliche Auslegungslehre auf der Basis der vorliegenden Auswertung neu zu untersuchen, sei nicht als Kritik verstanden, da dies eine eigene Aufgabenstellung wäre.

 

Nicht unerwähnt bleiben können sprachliche Unzulänglichkeiten der Untersuchung, die aber deren Gesamtwert letztlich wenig beeinträchtigen: Der Autor schließt mit dieser sorgfältigen und umfassenden Auswertung der Primärtexte eine bisher klaffende Lücke in der Erforschung der Geschichte der juristischen Auslegungslehre.

 

Hannover                                                                                                       Georg Steinberg