Avenarius, Martin, Rezeption des römischen Rechts in Russland. Dmitrij Mejer, Nikolaj Djuvernua und Iosif Pokrovskij (= Quellen und Forschungen zum Recht und seiner Geschichte 11). Wallstein, Göttingen 2004. 80 S.

 

Der Weg von Rom oder Bologna in Italien nach Russland ist weit. Deswegen leben die zuerst um Kiew seit dem 9. Jahrhundert sichtbaren Rus(sen) nach einem eigenen, nur von Ostrom und der orthodoxen Kirche beeinflussten Recht. Erst im 18. Jahrhundert wendet sich das Land dem europäischen Westen zu und erhält 1755 in Moskau eine Universität.

 

Die Frage, ob, wann, wo, wie und warum römisches Recht in Russland rezipiert worden ist, ist noch wenig erforscht. Neuere Untersuchungen zur Privatrechtsgeschichte Russlands stammen überwiegend von Nichtjuristen, privatrechtsgeschichtliche Gesamtdarstellungen stützen sich hauptsächlich auf voreingenommenes Schrifttum der sozialistischen Zeit und Schriften vorrevolutionärer russischer Juristen sind nicht leicht zugänglich. Aus diesem Grund ist das kleine, teilweise auf die Probevorlesung des Verfassers in seinem Göttinger Habilitationsverfahren zurückgehende Buch besonders interessant.

 

Eröffnet wird es mit der Feststellung, dass die Frage, ob römisches Recht in Russland rezipiert wurde, in der Forschung meistens entschieden verneint worden sei. Vor allem in der sowjetischen Zeit sei die Rezeption schon wegen der ideologischen Ablehnung des römischen Rechts geleugnet worden, obwohl an den Rechtsfakultäten ein umfangreiches Programm aus dem römischen Recht – zwecks besseren Verständnisses der bürgerlichen Privatrechtsordnungen – gelehrt worden sei. Da eine Aufnahme römischer Rechtssätze als geltendes Rechts jedenfalls in der Neuzeit niemals stattgefunden habe, habe es eine Rezeption in diesem Sinne auch tatsächlich nicht gegeben.

 

Dies erübrige aber nicht die Frage, ob nicht eine Verwissenschaftlichung des russischen Rechts durch Einarbeitung methodischer Elemente des römischen Rechts stattgefunden habe. Ihr widmet sich der Verfasser in den zentralen sechs Abschnitten seiner Studie. Dabei lässt er jeweils einem Sachkapitel (Die Bedingungen des positiven Rechts, Die Gerichtsreform von 1864, Die neue Hinwendung zu den Grundlagen des Rechts und die Förderung des römischen Rechts durch den Staat) ein auf einen einzelnen Gelehrten (Mejer 1819-1855 , Djuvernua 1836-1906, Pokrovskij 1868-1920) konzentriertes Kapitel folgen.

 

Im Ergebnis kann er überzeugend zeigen, wie zunächst nur einzelne Forscher das römische Recht zur Durchdringung des geltenden Rechtes verwenden, ihnen am Ende des 19. Jahrhunderts aber eine ganze Generation russischer Privatrechtler romanistischer Ausrichtung folgt. Die unmittelbare Auswirkung auf die Praxis bleibt freilich wegen des Scheiterns des Projekts einer Kodifikation gering. Nur mittelbar lassen sich Fernwirkungen auch im sowjetischen Zivilgesetzbuch von 1922 und von 1964 erkennen, während das neue seit 1994 abschnittsweise in Kraft getretene Zivilgesetzbuch deutlich an die romanistische Tradition anknüpft.

 

Innsbruck                                                                                                                              Gerhard Köbler