Westphal, Siegrid: Kaiserliche Rechtsprechung und herrschaftliche Stabilisierung. Reichsgerichtsbarkeit in den thüringischen Territorialstaaten 1648-1806 ( = Quellen und Forschungen zur höchsten Gerichtsbarkeit im Alten Reich 43). Böhlau, Köln, 2002. X, 526 S., 1 Karte.

 

Mit dem vorliegenden Band 43 der sog. „Grünen Reihe“ tritt vollends zutage, dass Reichsjustizforschung zu Beginn des 21. Jahrhunderts mittlerweile nicht mehr nur eine der beiden Höchstgerichte in den Blick nimmt, sondern auch den multiplexen Charakter der gesamten Reichsgerichtsbarkeit in eine spezielle, hier landesgeschichtliche Fragestellung einfließen lassen kann. Nicht von ungefähr hält der Titel des Buches den institutionellen Rahmen bewusst offen, in dem er doch zunächst nur von ‚kaiserlicher Rechtsprechung’ verlauten lässt.

 

Westphal kann zum einen auf neue, DFG-generierte Repertorien zur thüringischen Reichskammergerichtsüberlieferung zurückgreifen (im folgenden: RKG), beim Reichshofrat (im folgenden: RHR) ist sie jedoch zwangsläufig auf ältere unzulängliche Findmittel angewiesen und räumt ein, dass in absehbarer Zeit kein Gesamtbild der reichshofrätlichen Inanspruchnahme und damit der reichsgerichtlichen Tätigkeit insgesamt erstellt werden kann. Die Frage territorialer Inanspruchnahme von Reichsjustiz ist schon von Helmut Gabel 1990 bezüglich des Reichskammergerichts und des niederrheinisch-westfälischen Reichskreises untersucht worden, Westphal richtet nun den Fokus auf sog. Aktiv- und Passivprozesse (also geordnet nach Kläger und Beklagtenrolle) thüringischer Territorialdynastien aus den verschiedenen, in Gemengelage zueinander stehenden Linien des Hauses Sachsen-Gotha, der Bezugsrahmen der Reichskreise spielt dabei jedoch eine eher untergeordnete Rolle.

 

Schon in der Einleitung kann Westphal überzeigend begründen, warum sie nicht den einfacheren Weg über die modernen gedruckten RKG-Findbücher geht, sondern sich vornehmlich auf die schwieriger zu handhabenden, hauptsächlich durch das sog. Wolffsche Repertorium zugängliche RHR-Akten stützt: Nach 1648 überflügelt nämlich der RHR das RKG deutlich bei der Behandlung von innerdynastischen, hoheitlichen und zwischenstaatlichen Konflikten, wodurch für anderthalb Jahrhunderte zwischen 1650 und 1800 einmal mehr die Wiener Zentralinstanz in den Blick gerät. Ansonsten beruht das breite Quellenfundament der Arbeit auf einschlägigen Beständen der Staatsarchive in Altenburg, Coburg, Gotha, Greiz, Magdeburg, Weimar und Wien.

Westphal setzt sich zunächst mit dem letztlich auf Johann Stephan Pütter zurückgehenden Theorem vom ‚Reichs-Staat’ auseinander, stellte das Alte Reich doch schon aus zeitgenössischer Sicht einen ‚aus Staaten zusammengesetzten Staat’ dar. Diesen Ansatz hat Georg Schmidt, aus dessen Schule auch die Verfasserin stammt, bekanntlich vor einigen Jahren in streitiger Auseinandersetzung mit Schilling und Moraw nachhaltig revitalisiert, indem er vom ‚komplementären Reichs-Staat’ bzw. von einem ‚System komplementärer Staatlichkeit’ als besonderem deutschen Verfassungsphänomen sprach. Westphal lässt im übrigen schon früh erkennen, dass auch sie diesen Ansatz weiterverfolgen und vertiefen will.

 

Dieser Sachverhalt bestimmt wesentlich die ‚Grundmelodie’ des gesamten Werkes; neu ist der Zugriff auf die zwischenzeitlich veraltet erscheinende Dynastiegeschichte als eigenständigen Forschungsgegenstand. Vor die eigentlichen Untersuchungen exemplarischer Streitkomplexe schaltet Westphal eine grundlegende quantitative Bestandsaufnahme zu Fragen des Prozessaufkommens an Reichskammergericht und Reichshofrat und besinnt sich dabei auf bewährte Methoden, die schon Filippo Ranieri entwickelt hatte. Der Darstellungsmodus besteht dabei nicht von ungefähr aus einer Vielzahl von anschaulichen Tabellen und Kreisdiagrammen; der Höhepunkt der fraglichen Streitbegehren liegt dabei auf der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts.

 

Aus dem Befund der quantitativen Verhältnisse leitet die Verfasserin ihre beiden Hauptthemen: Familienverband und Geldwirtschaft/Schuldenwesen ab. Westphal interessiert sich also zum einen für zahlenmäßig stark vertretene Konfliktherde, die auf innerfamiliäre Hausordnungen, Landesteilungen, Erbfolgen und Erbportionen, Apanagezuteilungen, Fideikommissverträgen und Primogeniturproblemen beruhen. Die andere Perspektive besteht aus ebenfalls gehäuft nachweisbaren, privatrechtlich fundierten Streitigkeiten, in welchen finanzschwache dynastische Parteien in Thüringen wegen klagbarer Schuld- und Darlehensforderungen am Reichshofrat dauerhaft in die Beklagtenrolle geraten. Thüringen versteht sie dabei mit Fug und Recht als eine dynastisch und familiär organisierte, in besonderem Innenverhältnis stehende historische Territoriallandschaft.

 

Einen ersten Darstellungsschwerpunkt legt die Verfasserin auf den schon unter Zeitgenossen berüchtigten sog. Sachsen-Coburg-, Eisenberg- und Römhildischen Sukzessionsstreit, in welchem es um die politische und erbrechtliche Nachfolgeregelung des Hauses Sachsen-Coburg (zuletzt vertreten durch Ernst I., ‚den Frommen’) geht. Ausgehend vom sog. Nexus Gothanus von 1679/80 (samt seinen testamentarischen Hintergründen von 1654), mit anderen Worten dem grundlegenden Hausvertrag über das kollektive Sukzessionsrecht der Ernestiner, wagt sich Westphal an einen hochkomplizierten innerdynastischen Streitfall heran, bei dem der Reichshofrat von der Mitte des 17. Jahrhunderts bis 1714 zunächst als gutachtende, dann als rechtsprechende Instanz für innerdynastische Konfliktregelung auftritt.

 

Der zweite große Themenkomplex: der Reichshofrat und die Verschuldung von Reichsständen, genauer gesagt das gerichtsnotorische, vom Ende des 17. bis zum Ende des 18. Jahrhunderts strukturell ungelöste Schuldenwesen diverser thüringischer Landesfürsten, leitet sich überzeugend aus dem erwähnten ersten Problembereich ab: Es ist ein typisches Folgephänomen der ‚Geburt’ kleinerer dynastischer Speziallinien, die als Träger territorialer Staatlichkeit aus langwierigen Familienstreitigkeiten hervorgegangen sind. Westphal kann mit wenigen Worten zeigen, in welche hilflose Abwärtsspirale schwache und substanzarme Duodezfürstentümer geraten können, die sich stehende Heere, ausufernde Hofhaltung, kostspielige und ineffiziente Beamtenapparate, öffentlich-rechtliche Misswirtschaft und kostenträchtige Streitigkeiten an verschiedenen Gerichten leisten. Es wird deutlich, dass sich in den zunehmend defizitären Zuständen insbesondere des Hauses Sachsen-Hildburghausen (1680 mit dem Nexus Gothanus hervorgegangen aus der auslaufenden älteren Linie des Hauses Sachsen-Gotha) ein Strukturproblem des Alten Reiches in seiner Spätphase nach 1648 offenbart, an dessen konkreter Bewältigung (oder doch zumindest Eindämmung) der Reichshofrat und das kaiserliche Kommissionswesen insbesondere in den 1770er Jahren federführend beteiligt waren: In Form eines auf staatliche Belange modifizierten gemeinrechtlichen Konkursverfahrens gelingt es dem Reichshofrat nämlich, unkontrollierte Staatsbankrotte und finanzielle Kollapse auf territorialer Ebene abzufangen und in Gestalt von Untersuchungs-, Debit- und Administrationskommissionen regelrechte Korsette in die dünnwandige und ausgehöhlte Finanzverwaltung mitteldeutscher Klein- und Kleinstterritorien einzuziehen. Sehr lehrreich und über die konkreten Bezüge hinausweisend sind dabei die Ausführungen über die verschiedenen Ausformungen des einschlägigen Kommissionswesens. Das zugrundeliegende ältere Insolvenzrecht, über das sich Johann Jacob Moser 1774/75 ausgelassen hatte, hätte von Westphal jedoch durchaus ausführlicher dargestellt werden können. Herrschaftliche Stabilisierung auf territorialer Ebene ergaben sich anschließend wie von selbst aus Zwängen zur Modernisierung der Finanzverwaltung, aus Reduzierung und Kontrolle der Staatsausgaben sowie aus kameralistisch motivierter Steigerung der fürstlichen Einnahmen.

 

Fazit: Die Arbeit Siegrid Westphals legt ausführlich dar, dass der komplementäre Reichs-Staat der frühen Neuzeit besonders dort sichtbar wird, wo bestimmte innerterritoriale und innerdynastische Streitfälle von judikativen Strukturen auf Reichsebene aufgefangen werden können. Der Gang vor die Reichsgerichte nebst der Aktivierung des insbesondere dem Reichshofrat beigeordnete Kommissionswesen ergibt sich dort auf besonders plausible Weise, wo adeliges Familienrecht auf kaiserliche Prärogativen und Reservatrechte bei der Installierung und Sanktionierung von Primogenituren, Erbverbrüderungen, Hausordnungen usw. trifft. Gleiches gilt für das Schuldenwesen kleinerer Territorien, die durch ein reichsrechtlich geregeltes Konkursverfahren vor dem völligen Zusammenbruch bewahrt werden können. Je schwächer die dynastischen, fiskalischen und öffentlich-rechtlichen Infrastrukturen von Kleinterritorien sind, desto wirksamer kann der Reichshofrat örtliche Herrschafts- und Verwaltungsdefizite in ein eigenes judikatives, administratives oder anders geartetes hoheitliches Tätigkeitsfeld umwidmen. Der Reichshofrat wird seit der Mitte des 17. Jahrhunderts somit nicht als katholisch-konfessionell ‚vorbelastetes’ Reichsjustizgremium wahrgenommen, sondern gerade auch von protestantischen (Klein-)Territorien als Instanz freiwilliger Gerichtsbarkeit und komplementärer Hoheitsverwaltung nutzbar gemacht. Westphal stellt zu Recht fest, dass der Reichshofrat im Laufe des18. Jahrhunderts nicht nur einzelne lokale Rechts-, Staats- und Politikprobleme zu lösen hilft, sondern sogar eine ganze Region stabilisiert, die sich nach 1648 durch besondere rechtliche, dynastische und fiskalische Verwerfungen in einem schweren Krisenzustand befand. Auch überzeugt die Beobachtung in vollem Umfang, dass aus besagten chronischen Schwächen der kleineren Reichsstände der Kaiser nachhaltige Ansätze zu aktiver Reichspolitik entwickeln kann; in den thüringischen Fragen wird am Ende ein Stück Alltagspraxis der Reichsverfassung des 17./18. Jahrhunderts sichtbar. Andererseits erschließen sich aus Strukturproblemen dynastischer Territorialherrschaften Gründe für die regional unterschiedliche Inanspruchnahme der Reichsjustiz; man darf daher gespannt auf die Beantwortung der Frage sein, ob sich Westphals Ergebnisse auf andere, vermeintlich kaiserferne Landschaften des Alten Reiches übertragen lassen.

 

Recklinghausen                                                                                              Matthias Kordes