Szabó, Anikó, Vertreibung, Rückkehr, Wiedergutmachung. Göttinger Hochschullehrer im Schatten des Nationalsozialismus. Mit einer biographischen Dokumentation der entlassenen und verfolgten Hochschullehrer: Universität Göttingen - TH Braunschweig - TH Hannover - Tierärztliche Hochschule Hannover (= Veröffentlichungen des Arbeitskreises Geschichte des Landes Niedersachsen [nach 1945] 15) Wallstein, Göttingen 2000. 765 S.

 

Die niedersächsische Zeitgeschichte und Rechtsgeschichte darf sich freuen. Anikó Szabó hat eine ebenso umfassende wie umsichtige Untersuchung vorgelegt, die so bisher für kein anderes Land geleistet wurde. Auf dem soliden Fundament einer bewundernswerten Quellenerschließung hat sie eine Darstellung und Analyse geleistet, die nur grundlegend genannt werden kann.

 

1. Entstanden ist viererlei: 1. eine konzentrierte Darstellung der Verläufe von Vertreibung, Rückkehr, Rehabilitation und Wiedergutmachung für Göttingen, aber auch Hannover und Braunschweig; 2. ein grundlegendes, erschütterndes Nachschlagewerk zu den zahlreichen Personenschicksalen (S. 53ff., 101ff., 253ff., 339ff.); 3. eine sehr klare Darstellung des komplizierten Wiedergutmachungsrechts und vor allem seiner konkret relevanten Regeln und Abläufe (289ff.); 4. eine wertvolle biographische Dokumentation mit Übersichten und Grafiken. Auch die Literaturbasis ist umfassend erschlossen und verwendet.

 

2. Die Darstellung verläuft in folgenden 7 Abschnitten von zusammen 522 Seiten Text:

 

Nach der Einleitung folgt der Abschnitt II „Die nationalsozialistischen Verfolgungen an den Hochschulen“ mit ca. 50 Seiten, dann der Abschnitt III über die „Rehabilitierungen nach 1945“, ein Schwerpunkt mit ca. 150 Seiten, dann der knappe Abschnitt IV mit 25 Seiten über „Die Rückberufung von Emigranten“, der wiederum knappe Abschnitt von 25 Seiten über den Umgang „Umgang mit der politischen Vergangenheit“ und der wiederum schwerpunktartig längere Abschnitt über „Die juristische Wiedergutmachung“ zusammen mit der Einzeldarstellung der Schicksale nach Fächern. Auf rund 25 Seiten folgt unter VII der „Schluß“: „Das gebrochene Verhältnis, die Universität und die ehemals verfolgten Hochschullehrer“.

 

3. Universität und Stadt Göttingen waren im April/Mai 1945 äußerlich intakt wie kaum ein anderer Universitätsplatz in Deutschland. Nach innen steckten sie jedoch tief im Sumpf des Nazismus und in den zähen Traditionen einer nationalistischen Konservativität. Diese Tradition war nach der Vertreibung der ,Nichtarier’ und gerade auch der liberalen, demokratischen und sozialistischen Dissidenten sogar relativ aufgewertet und gestützt worden. Gesellschaftlich herrschten eher enge Verhältnisse. Die Studie zu Göttingen, Hannover und Braunschweig wird begünstigt durch den Vorteil einer sehr guten Quellenlage bei Universitäten, Land, Bund und etlichen privaten und wichtigen Exilplätzen. Die relativ kleinen Netzwerke sind einigermaßen überschaubar. Die Verfasserin geht mit den sensiblen, oft sehr persönlichen Zeugnissen angemessen sensibel um. Es gelingt ihr zugleich aber, sehr offen und bisweilen deutlich zu charakterisieren und zu urteilen, mit beachtlicher, bemerkenswerter Reife für solch ein Erstlingswerk. Das gelingt ihr auch deswegen, weil sie vielfach ethisch-anschaulich sich auf die Menschen und Verhältnisse einläßt und immer wieder wesentliche Quellen dazu sprechen läßt. Das bedarf einiger Lesegeduld, fesselt aber auch nicht selten sehr konkret. Diese ganze Fülle kann hier nur sehr pauschal angedeutet werden. Zugleich kann man die Studie aber auch als einzigartiges Nachschlagewerk benutzen.

 

4. Das Buch versetzt zurück in viele erschütternde, bewegende, perfide oder erhebende, kurz allzu menschliche Verhältnisse. Im April 1937 wurden z. B. jüdisch Versippte perfide per Verbot des zuvor Gebotenen dem Ruhestand überwiesen: „Mein Rundschreiben vom 7. Dezember 1936“ schreibt der Reichswissenschaftsminister, „das dem deutschblütigen Ehegatten, der in einer deutsch-jüdischen Mischehe lebt, verbietet, in seiner Wohnung die Reichs- und Nationalflagge zu hissen, gilt auch für Beamte. Da der Zustand, daß ein Beamter nicht flaggen darf, auf die Dauer nicht tragbar ist, ist der jüdisch versippte Beamte in der Regel gemäß § 6 BBG in den Ruhestand zu versetzen“ – so schuf man die Voraussetzungen für Ruhestandsversetzungen. Paradoxe und fast unlösbare Zielkonflikte ergaben sich nach 1945. Zugleich sollten nämlich Hochschulautonomie, sachbezogener Neuaufbau nur mit den Besten, Rehabilitierung und Remigration der Emigranten, die Entschädigung der Verfolgten sowie eine Reintegration mancher Belasteter und vor allem der aus dem Osten Geflüchteten bewerkstelligt werden – eine Fülle von Unklarheiten und Ungerechtigkeiten war die fast logische Folge, je länger, je mehr. Keine politische Fraktion fand dafür optimale Lösungen, auch die SPD knickte ein (S. 294 und öfter). Am Ende half die beginnende Prosperität wenigstens Wunden finanziell zu mildern. Bisweilen zeigt sich auch noch heute bornierte Gegenwart, etwa in Datenschutzvorwänden der Archive (S. 58, Fußnote 129) oder in dem schwer erträglichen Zustand, daß gerade in Göttingen das Universitätsarchiv dem schwer belasteten Ebel anvertraut wurde (S. 303).

5. Der analytische und übergreifende Ertrag einer solchen Studie ist nicht leicht zu fassen. Er findet sich mehr und mehr eingestreut im Text, vor allem zusammengeführt im Schluß. Dessen Überschrift „Das gebrochene Verhältnis“ bleibt stehen bei einer eher vorsichtigen Metapher. Im Text benennt die Autorin im wesentlichen, wie eingangs angekündigt, „mentale Strukturen“ (S. 29). Unter diesem weiten Mantel wird hervorgehoben, wie die britische Militärregierung anfangs stark für Remigration eintrat, wie sie aber die Hochschulautonomie der gutachtenden Fachleute achtete, wie diese Fachleute mehr und mehr entscheidend wurden im Sinne einer von ihnen sogenannten „Ergänzung der Besten“ (S. 502), wie die Autonomie nach 1947 nicht selten in die Hände sehr traditionalistischer deutscher Kräfte geriet, wie die öffentliche Stimmung sich mehr und mehr den Flüchtlingen und Belasteten zuwandte, statt den Verfolgten, zumal seit den Nürnberger Prozessen und dem 131er Gesetz von 1951, wie Vieles im Kleinen und Persönlichen scheiterte, wie schwer es lange noch für die Verfolgten sein mußte, Vertrauen in eine neue Zusammenarbeit und ein anderes Deutschland zu fassen, wie hürdenreich die große Erfahrungsdiskrepanz zwischen 12 Jahren NS und 12 Jahren Exil eben war, wie schwer die verlorenen 12 Karrierejahre der Emigranten plausibel hypothetisch nachvollzogen werden konnten, wie die in Deutschland Gebliebenen sich mehr und mehr als bloß mißbrauchte Opfer der Politik sahen und typisierten, wie sie so die andere und individuelle Vergangenheit beschwiegen, wie der fatale Grundkompromiß (S. 507) der Tolerierung des Nazismus von vor 1945 also nicht aufgelöst wurde, wie unpersönlich und allzu „objektiv“ auch ein Mann wie Smend, mit einem James Franck und Max Born umging (S. 511), die auf ein persönliches Wort warteten, wie so viele, wie einseitig sich auch die Akademie zwischen James Franck und einem Plischke benahm, usw.

 

Die Verfasserin schließt nicht mit schnittigen Thesen – mir scheint das der immer zugleich so individuellen und menschlich riskanten Thematik angemessen. Es bedarf noch weiterer Studien dieser Art und klar vergleichender Arbeit, ehe man allgemeiner urteilen sollte. Für die Rechtsgeschichte ergibt sich ebenfalls große Ausbeute. Man findet sie über die Juristenabschnitte und die Register, einen Ludwig Raiser – eher zu verständnisvoll, einen Hans Thieme – bemerkenswert mutig 1953, freilich schon mit Blick auf den neuen Platz Freiburg, u. a. Unter den dauerhaft Ausgeschlossenen hätte S. 498 auch Karl Siegert für die Juristen erneut genannt werden können, vgl. S. 304. Die schwer belasteten Wilhelm Ebel und Georg Erler waren 1954 wieder ordentliche Göttinger Universitätsprofessoren geworden. Aber das wäre eine weitere Geschichte der mentalen Strukturen oder der Fach- und Wissenschaftsgeschichten der Fakultäten nach ca. 1950.

 

Anikó Szabó hat die anderenorts geäußerte Kritik, doch lieber anhand „exemplarischer Fälle“ vorzugehen und die Fakten gehöriger systematisch zu verknüpfen oder das Wiedergutmachungsrecht systematisch zusammenzustellen, ganz richtig nicht befolgt. Es war gerade die ungeklärte Frage, welche Fälle eigentlich exemplarisch waren. Im Schlußkapitel werden in diesem Sinne einige hervorgehoben. Systematische Zusammenstellungen des Wiedergutmachungsrechts sind verfügbar, hier kam es auf seine wirkliche Implementation an. Und eine systematische Verknüpfung der vielen Fakten ist jedenfalls für die Klärung der Chronologien, der wesentlichen Schnitte, einiger typischer Probleme und der mitlaufenden mentalen Strukturen und ihrer Veränderungen gelungen. Daß das Buch nun leider ziemlich unhandlich gedruckt worden ist, hätte der Verlag leicht vermeiden können. Die Wahl etwas dünneren Papiers war seine Aufgabe.

 

Frankfurt am Main                                                                                     J. Rückert