Suppliche e <<gravamina>>. Politica, amministrazione, giustizia in Europa (secoli XIV-XVIII), a cura di Nubola, Cecilia/Würgler, Andreas (= Annali dell’istituto storico italo-germanico in Trento, Quaderni 59). Società editrice il Mulino, Bologna 2002. 581 S.

 

Mit dem vorliegenden Band werden die Ergebnisse zweier historischer Kolloquien veröffentlicht, die im Jahre 1999 und im Jahre 2000 am deutsch-italienischen historischen Institut in Trient stattfanden. Sie stellen zugleich die ersten Ergebnisse des Projekts „Petizioni, gravamina e suppliche nella prima età moderna in Europa (secoli XIV-XVIII)“ dar. Die beiden Herausgeber arbeiten zu dieser Problematik seit etlichen Jahren: Andreas Würgler ist Dozent am Historischen Institut der Universität Bern; Cecilia Nubola ist „ricercatrice“ am Istituto Storico italo-germanico in Trient. Im Zentrum des Projekts, und insoweit auch der hier publizierten Beiträge, steht ein klassischer Aspekt der Herrschaftspraxis in der europäischen Geschichte der Neuzeit: Sich an die Autorität zu wenden, die Vorlage einer Supplik oder eines sonstigen Gnadengesuchs stellt eine Form der politischen Kommunikation dar, deren Wurzel in einer altertümlichen Vorstellung der Machtausübung liegt, und die typisch ist für die Anfänge der europäischen Gesellschaft. Die Supplik ist nämlich das Instrument, wodurch seit dem 15. und 16. Jahrhundert die Gemeinschaften und die einzelnen Stände ihre Autonomieräume und ihre Normen und Privilegien im Verhältnis zur entstehenden zentralen politischen Macht verhandeln und verteidigen. „Nella società europea di antico regime”, schreiben die Herausgeber auf S. 7 der Einführung, “suppliche e gravamina rappresentano uno degli strumenti più importanti della comunicazione politica tra governati e governanti in ambito politico, istituzionale, giudiziario, amministrativo, di ,polizia’.” Zu dieser besonderen Problematik der europäischen Geschichte der Neuzeit gibt es aus den letzten Jahren zahlreiche lesenswerte Untersuchungen in Italien, aber auch im deutschsprachigen Raum (siehe die bibliographischen Hinweise auf S. 8 Fn. 5). Besonders Andreas Würgler war mit einer ausführlichen Untersuchung hierzu bereits hervorgetreten: Suppliken und Gravamina. Formen und Wirkungen der Interessenartikulation von Untertanen in Hessen-Kassel 1650-1800, in: S. Weinfurter/M. Siefarth (Hrsg.), Geschichte als Argument. 41.Deutscher Historikertag in München, 17.-20.September 1996, München 1997, S. 105-106.

 

Aufgabenstellung des Projekts ist einerseits, die Typologie dieser besonderen Quelle zu beschreiben und zu strukturieren, und andererseits die Wirkung der Supplikpraxis auf die Entwicklung des neuzeitlichen Justizsystems in den einzelnen Territorien zu analysieren. Einige Hinweise seien zunächst zum Inhalt des Bandes gegeben. Er gliedert sich in drei Teile. Nach der bereits erwähnten Einleitung ist der erste Teil dem Phänomen des Supplikwesens gewidmet: „Supplicare e rispondere. L’amministrazione delle suppliche“. Hier seien zunächst die Beiträge aufgelistet. Cecilia Nubola, „La ,via supplicationis’ negli stati italiani della prima età moderna (secoli XV-XVIII)“ (S. 21ff.), Gian Maria Varanini, „Al magnifico e possente segnoro. Suppliche ai signori trecenteschi italiani fra cancelleria e corte: l’esempio scaligero“ (S. 65ff.), Nadia Covini, „La trattazione delle suppliche nella cancelleria sforzesca: da Francesco Sforza a Ludovico il Moro“ (S. 107 ff.), Andreas Würgler, „Suppliche, istanze e petizioni alla Dieta della Confederazione svizzera nel XVI secolo“ (S. 147ff.), André Holenstein, „Rinviare ad supplicandum. Suppliche, dispense e legislazione di polizia nello Stato d’antico regime“ (S. 177ff.), Marina Garbelotti, „I privilegi della residenza. Suppliche di cittadini, abitanti e forestieri al consiglio di Rovereto (secoli XVII-XVIII)“ (S. 227ff.). Der zweite Teil enthält eine Reihe von Einzelstudien über die Wechselwirkung zwischen der Supplikationspraxis einerseits und der Justizverwaltung. „Supplicare e querelare-ricorrere. Giustizia e prassi giudiziaria“ (S. 263ff.). Hier seien folgende Beiträge genannt: Karl Härter, „Negoziare sanzioni e norme: la funzione e il significato delle suppliche nella giustizia penale della prima età moderna“ (S. 263ff.), Andrea Griesebner, „In via gratiae et ex plenitudine potestatis. Grazia e prassi giudiziaria nell’Arciducato dell’Austria Inferiore (XVIII secolo)“ (S. 307ff.), Irene Fosi, „Beatissimo Padre …: suppliche e memoriali nella Roma barocca“ (S. 343ff.), Renate Blickle, „Intercessione. Suppliche a favore di altri in terra e in cielo: un elemento dei rapporti di potere“ (S. 367ff.). Der dritte Teil schließlich ist der Interaktion zwischen diesem Phänomen der Supplikationen und den häufig strittigen Beziehungen zwischen Fürstenhäusern, Ständen und örtlichen Gemeinschaften gewidmet: „Principi, corpi, comunità, suppliche e conflitti“. Auch hier stehen einige Einzelstudien im Vordergrund. Diego Quaglioni, „Universi consentire non possunt. La puniblità dei corpi nella dottrina del diritto comune“ (S. 409ff.), Christian Zendri, „Consuetudo legi praevalet. Consuetudine e legge nel commento di Ulrich Zasius a D.1,3,32“ (S. 427ff.), Angela de Benedictis, „Supplicare, capitolare, resistere. Politica come comunicazione“ (S. 455ff.), Laura Turchi, „I capitoli comunitari presentati a Ercole II d’Este (1534-1535): giustizia principesca e comunità“ (S. 473ff.), Harriet Rudolph, „,Rendersi degni della somma clemenza’. Le suppliche della prima età moderna come strumento di interazione simbolica tra sudditi e autorità“ (S. 517ff.), Giorgio Politi, „,Gravamina’ e caratteri originali della storia sociale europea“ (S. 555ff.). Ein Namens- und ein Ortsregister schließen das Gesamtwerk ab (S. 565-581).

 

Etliche der hier versammelten Beiträge nehmen ihren Ausgang aus größeren und breiteren Untersuchungen der jeweiligen Verfasser. Die Beiträge, die ursprünglich in deutscher Sprache verfasst waren, wurden sämtlich auf Italienisch übersetzt; siehe etwa den Beitrag von Andrea Griesebners (S. 307ff.), welcher bereits als „In via gratiae et ex plenitudine potestatis“. Landesfürstliche Gnadenakte im Kontext der Strafjustiz im Erzherzogtum Österreich unter der Enns im 18. Jahrhundert, in: FrühneuzeitInfo 11/2000, II, S. 13-27, erschienen war, und aus der größeren Studie der Verfasserin hervorgegangen war „Konkurrierende Wahrheiten. Malefizprozesse vor dem Landgericht Perchtoltsdorf im 18.Jahrhundert“, Wien-Köln-Weimar 2000. Einige Studien, etwa diejenige Andreas Würglers, geben die Ergebnisse von umfassenden quantitativen Untersuchungen über serielle Quellen wieder, worüber die Autoren seit etlichen Jahren geforscht haben: siehe etwa S. 156-164. Der historisch-quantitative Problemzugang bleibt allerdings im allgemeinen die Ausnahme: im Vordergrund steht die Einzelfall-Analyse. Insoweit bestätigt auch dieses Projekt die Zurückhaltung der italienischen Rechts- und Sozialhistoriker den historisch-quantitativen Methoden gegenüber. Insgesamt gewinnt man aus der Lektüre der einzelnen Beiträge einen wertvollen Einblick in die rechtlichen und sozialen Dimensionen des damaligen Supplikationswesens in den italienischen und in den deutschsprachigen Territorien des Alten Reichs, vor allem Oberdeutschlands. Wichtig ist vor allem die wachsende Tendenz, gleichsam als roter Faden in vielen Studien erkennbar, diese Praxis zu verrechtlichen. Insoweit zeigen das Projekt und die einzelnen Detailstudien einen wichtigen Aspekt in der zunehmenden Verrechtlichung der Verwaltungs- und Justizpraxis der neuzeitlichen Territorien. Wie bereits aus der Wiedergabe der einzelnen Beiträge deutlich geworden ist, liegt der Schwerpunkt der hier publizierten Studien bei den norditalienischen Territorien und bei den deutschsprachigen Territorien Oberdeutschlands und Österreichs. Völlig ausgeklammert werden andere europäische Länder. Ein solcher Schwerpunkt wird verständlich aus der Verortung des Projekts am deutsch-italienischen Historischen Institut Trient. Fraglich bleibt allerdings, ob der Anspruch des Titels, das Verhältnis zwischen Politik, Verwaltung und Justiz im neuzeitlichen Europa zu beleuchten, damit wirklich erfüllt wird. Interessant wäre es, die Supplikationspraxis auch jenseits dieses geographischen Raums zu erforschen, etwa in der spanischen und französischen Territorialpraxis derselben Zeit. Für die Verfassung, aber auch für die Justiz- und Verwaltungsgeschichte der norditalienischen und süddeutschen Territorien der Neuzeit, liefert der hier vorliegende Band jedenfalls einen wichtigen und lesenswerten Beitrag.

 

Saarbrücken                                                                                                  Filippo Ranieri