Repgen, Tilman, Die soziale Aufgabe des Privatrechts. Eine Grundfrage in Wissenschaft und Kodifikation am Ende des 19. Jahrhunderts (= Ius privatum 60). Mohr (Siebeck), Tübingen 2001. XXIII, 582 S.

 

„Tilman Repgen bringt Licht in die soziale Frage des Privatrechts“, so titelte Michael Stolleis zu Recht in seiner Rezension in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung vom 2. Februar 2002 (S. 52). War das Bürgerliche Gesetzbuch wirklich so sozial, wie es zu seiner Entstehungszeit geplant war, also für alle Bürger und nicht nur für die bürgerliche Klasse? War es also mit einigen Tropfen sozialen Öls gesalbt bzw. „durchsickert“? Die damalige Diskussion, an der sich unter anderen Otto Gierke, Heinrich Dernburg und Anton Menger beteiligten, untersucht Repgen in seiner Habilitationsschrift und stellt den inhaltlichen Zusammenhang dieser Diskussion mit dem ersten Entwurf des BGB her. In hohem Ausführlichkeits- und Präzisionsgrad behandelt er die Wirkung der Kritik auf das weitere Gesetzgebungsverfahren und schließlich auf das BGB selbst. Dabei zeigt sich, dass die bisher übliche Beschreibung des Sozialmodells des BGB im Hinblick auf Repgens Erkenntnisse als überholt gelten muss, denn schon der erste Entwurf wie auch die späteren Fassungen des Gesetzes waren weit „sozialer“, als es die im Ansatz ziemlich alleingebliebene Kritik von Gierkes ahnen ließ.

 

Ziel der Kodifikation des BGB war zunächst einmal die Schaffung der nationalen Rechtseinheit auf lange Zeit. Dies schloss aber nicht aus, dass viele „soziale“ Stützpfeiler nach und nach in das BGB einbezogen wurden. Der Verfasser gruppiert das Sozialmodell des BGB um vier Topoi herum, anhand derer er die soziale Aufgabe des BGB analysiert. Er greift in der Reihenfolge der Legalordnung essentielle Beispiele aus dem allgemeinen Teil, dem Schuldrecht und dem Familienrecht heraus und misst die Umsetzung der sozialen Topoi am ersten Entwurf mit den dazu gehörigen Materialien, d. h. den Vorentwürfen und ihren Begründungen sowie den Protokollen der ersten Kommission, die in der von Horst Heinrich Jakobs und Werner Schubert besorgten Edition greifbar sind. Sodann schließt er die Kritik am ersten Entwurf an sowie die weitere Entwicklung bis zum Gesetz unter Einschluss der Gesetzesmaterialien, der wichtigen Denkschrift des Reichsjustizamtes zur Reichstagsvorlage, des Berichtes der XII. Reichstagskommission und der stenographischen Berichte der Reichstagsverhandlungen. Repgen wählt folgende vier Topoi: den Gemeinschaftsgedanken, den Schutz des Schwächeren, die soziale Freiheit sowie den sozialpolitischen Ausgleich. Um seine Erkenntnisse systematisch zu ordnen und die Arbeitsergebnisse handhabbar zu machen, ordnet er richtigerweise die Topoi einzelnen Personen zu, obschon in den Quellen die Bezeichnungen für die einzelnen Topoi nicht einheitlich auftauchen. Eine Zuordnung dieses Zuschnitts ist gleichwohl möglich, da der Verfasser den Begriff des Topos als Begriffsfeld mit unscharfen Grenzen versteht (S. 51).

 

Der gerade für Gierke wichtige Gemeinschaftsgedanke spiegelt sich im Recht der Verjährung wider. Vom ersten Entwurf hatte dieses das Gemeinwohl im Sinn, um den Schutz der Schuldner vor ungerechtfertigter Inanspruchnahme, wenn eine gewisse Zeit verstrichen war, durchzusetzen; der Rechtsfriede erschien hier als Konkretisierung des Gemeinschaftsgedankens. Für das Schuldrecht führt Repgen das Vermieterpfandrecht an. Dabei diente der Gemeinschaftsgedanke von Anfang an für den Ausschluss unpfändbarer Sachen vom Vermieterpfandrecht. Der Gläubiger (Vermieter) sollte mit Rücksicht auf die Armenverwaltung auf die Durchsetzung seiner Ansprüche verzichten, soweit der Schuldner nur lebensnotwendige Dinge im Sinne von § 715 CPO (später § 811 ZPO) besaß. Im Familienrecht hätte der Gemeinschaftsgedanke mit der Einführung der allgemeinen Gütergemeinschaft eine Abkehr vom ersten Entwurf gefordert, doch blieb das Gesetz bei der auch schon ursprünglich konzipierten Verwaltungsgemeinschaft. Nach Gierkes Auffassung sollte das beiderseitige Vermögen zur Bestreitung der ehelichen Lasten dienen, gleichzeitig aber auch die Frau am Erwerb des Mannes beteiligen. Wie gegensätzlich sich soziale Topoi auswirken konnten, zeigt sich daran, dass sowohl mit dem Gemeinschaftsgedanken als auch mit dem Topos der sozialen Freiheit die Forderung der Streichung von § 1277 Abs. 1 des ersten Entwurfes begründet wurde, welcher persönliche Leistungsverpflichtungen der Ehefrau von der Einwilligung des Mannes abhängig machen wollte. Die Verfechter des Gemeinschaftsgedankens wollten damit ihre Forderung verbinden, die Stellung der Frau innerhalb der Ehegemeinschaft solle auch deren Geschäftsfähigkeit vollständig ausschließen, so dass sie ihrem Status entsprechend unter der „Munt“ des Ehemannes stehen sollte. Dagegen wollten die Befürworter der Idee der sozialen Freiheit mit der Streichung des Paragraphen die volle Geschäftsfähigkeit der Ehefrau herstellen. Auch das Kindschaftsrecht sollte durch die Idee des Gemeinschaftsgedankens geprägt sein, was sich im Ideal der Hausgemeinschaft umsetzen musste. Allerdings stieß sich diese Forderung bereits am formalen, starren Ende der elterlichen Gewalt bei Erreichen der Volljährigkeit der Kinder. Im Familienrecht war der Topos des Schutzes des Schwächeren sehr eng mit dem der sozialen Freiheit verbunden. Die elterliche Gewalt sollte hauptsächlich das Elternrecht zementieren, um den Schutz des Kindes vollumfänglich zu gewährleisten. Andererseits war die Altersgrenze der Volljährigkeit darauf angelegt, das Kind in die vollständige soziale Freiheit zu entlassen. Dass der Arbeitslohn der Frau als Vorbehaltsgut eingeordnet und die Haftung der Frau für die Schulden des Mannes abgelehnt wurden, kann sowohl unter den Topos des Schutzes des Schwächeren als auch unter den der sozialen Freiheit der Frau subsumiert werden.

 

Im letzten vom Verfasser untersuchten Topos, dem des sozialen Ausgleichs, spiegelt sich sehr breit die politische Funktion des Privatrechts wider. Die freie Vereinsbildung sollte einen sozialpolitischen Ausgleich bringen. Dies galt in erster Linie für die Vereine der Arbeiter, die im Zusammenhang mit dem Sozialistengesetz benachteiligt worden waren, andererseits aber auch für die kirchlichen Vereine, die unter dem Kulturkampf gelitten hatten. Repgen stellt sehr eindrucksvoll heraus, dass die Intention, dieses Ziel zu erreichen, zwar vorhanden war, doch traf gerade § 61 Abs. 2 BGB diejenigen gesellschaftlichen Gruppen, denen der sozialpolitische Ausgleich hätte zugute kommen sollen. Das hier vorgesehene Einspruchsrecht der Verwaltungsbehörden zielte nämlich gegen die Vereinigung von Arbeitern und Katholiken.

 

Sicherlich kann man fragen, warum Repgen die für das publizistische Klima jener Jahre so wichtigen Kampf- und Flugschriften der Interessenverbände und anderer Gruppen mit Gesellschaftsrelevanz nicht berücksichtigte bzw. warum er sich nicht dem Sachen-, insbesondere dem Bodenrecht mit seinen vielfältigen Sicherungsformen oder auch dem Erbrecht vertieft gewidmet hat. Die Entscheidung, sich für die gewählten von der Legalordnung vorgegebenen Rechtsgebiete zu konzentrieren, ist m. E. richtig, wenngleich die weggelassenen Rechtsgebiete noch ein rechtshistorisches Forschungsdesiderat darstellen und Repgens Ergebnisse nur unterstreichen können. Die Konzentration auf diese Bereiche war also voll und ganz gerechtfertigt, so wie dies zuvor für den Code civil auch Alfons Bürge in seiner Habilitationsschrift „Das französische Privatrecht im 19. Jahrhundert. Zwischen Tradition und Pandektenwissenschaft, Liberalismus und Etatismus“ (Frankfurt am Main 1991) getan hat und die Eigentumskonzeption sowie die Lehre von der Willenserklärung exemplarisch gewählt hatte.

 

Zu Recht schließt sich der Verfasser der These Hans-Peter Benöhrs an, die These Franz Wieackers vom „spätgeborenen Kind des klassischen Liberalismus“ in Zweifel zu ziehen. Hans Schulte-Nölke, an den Repgen in seiner Habilitationsschrift anknüpft, hatte schon nachgewiesen, dass das Reichsjustizamt, das nach dem Erscheinen des ersten BGB-Entwurfs immer mehr Herr des Verfahrens wurde, darauf bedacht war, die Mehrheitsfähigkeit im Reichstag zu wahren. Um deutlich zu machen, dass das neue Zivilrecht immer nur Verbesserungen gegenüber dem ersten und den nachfolgenden Entwürfen bringen sollte, rechtfertigte das Reichsjustizamt seine Einfügungen von Vorschriften gerade zum Zwecke des Schutzes der Schwächeren (z. B. die §§ 343, 544, 571, 618 BGB). Repgens Schrift brachte dafür weitere Belege und nuanciert dabei Schulte-Nölkes Qualifizierung des BGB als „privatrechtsliberal“. Repgen gibt Schulte-Nölke allerdings insoweit Recht, als er sich auf die der ersten Kommission zugrunde liegende Kodifikationskonzeption in Gestalt des Gutachtens der Vorkommission von 1874 bezieht, obschon der erste Entwurf nicht nur das Etikett „liberal“ tragen könne. Der Verfasser formuliert schließlich etwas zögerlich, aber ausreichend differenzierend, dass der „liberale“ erste Entwurf und erst recht das Gesetzbuch mehr soziale Regeln enthielten, als man vermutet hätte. Dabei hat er sicherlich Recht, wenn man den Begriff „sozial“ viel weiter versteht als man es heute tut und zwar im Sinne Iherings, wie dies Klaus Luig in seiner Evolutionstheorie Iherings herausgestellt hat (S. 40). Gierke, Planck und Sohm waren in erster Linie der Idee des Gemeinschaftsgedankens verbunden und wandten sich gegen Privatautonomie und Freiheit, insbesondere im Vertragswesen (so wie von Joachim Rückert bereits herausgearbeitet).

 

Die vorliegende Habilitationsschrift ist sicherlich noch eine in Zukunft ergänzungsfähige Untersuchung dessen, was man im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts unter der sozialen Aufgabe des Privatrechts verstand und wie sich die unterschiedlichen Facetten des Sozialen im BGB schlussendlich durchsetzten. Sie hat das große Verdienst, den Begriff des Sozialen aus der sozialistischen bzw. sozialdemokratischen Ecke herausgeholt zu haben. Denn die Arbeit illustriert minutiös, wie sich andere Abgeordnete, etwa der saarländische Stahlfabrikant Carl Ferdinand Freiherr von Stumm-Halberg, der zugunsten seiner Arbeiter Wohlfahrtseinrichtungen begründet und finanziert hatte, für den sozialen Ausgleich einsetzten (S. 457-459). In der Reichstagskommissionsdebatte zur Streichung des Zustimmungserfordernisses des Mannes zum Arbeitsvertrag seiner Frau begründete von Stumm-Halberg seinen Antrag damit, dass der Entwurf die Frau der Willkür des Mannes preisgebe und in hohem Grade geeignet sei, den Frieden der Ehe zu gefährden. Wenn man der Frau ein Recht geben wolle, solle dies auch ein ganzes Recht sein (S. 461-462). Weitere Anträge und Stellungnahmen dieses Abgeordneten, etwa zum gesetzlichenGüterstand, unterstreichen diese Sicht (S. 464-467).

 

Repgens These, dass der erste Entwurf und erst recht das Gesetzbuch selbst mehr soziale Regeln aufwies, als die rechtshistorische Forschung bisher zutage förderte, kann nur gestimmt werden. Und mehr noch: Sie sollte der zukünftigen Forschung als neue Arbeitshypothese dienen.

 

Saarbrücken                                                                                                  Thomas Gergen