Putzger, Friedrich W., Atlas und Chronik zur Weltgeschichte, hg. v. Cornelsen Verlag u. Mitarbeit v. Bruckmüller, Ernst/Hartmann, Peter Claus/Bildarchiv Preußischer Kulturbesitz. Cornelsen, Berlin 2002. 432 S.

 

Der „Putzger“ ist zur Bezeichnung eines Geschichtsatlas schlechthin geworden. Der Putzger war einmal das am viertmeisten gedruckte Buch in Deutschland. Seit der Auflage im Jahre 1877 hat er in über 100 Auflagen alle Höhen und Tiefen der deutschen Geschichte und des davon abhängigen Geschichtsbildes mitgemacht. Größere Veränderungen brachten die Auflagen von 1888 (Hinwendung zur neuesten Geschichte), 1901 (Übergang von einem borussischen zu einem deutschen Geschichtsbild), 1916 und 1917 (Militarisierung), 1920 und 1923 (Demilitarisierung), 1931 (Geopolitik), 1934 („Forderungen der Gegenwart“), 1954 (die erste, stark reduzierte Nachkriegsauflage), 1961 (stärkere Betonung von kulturgeschichtlichen und neuzeitlichen Themen) und 1979 (Europäisierung)[1]. Welche Veränderungen weist nun die neue Auflage von 2002 auf?

 

Der traditionelle Putzger war ein reines Kartenwerk. Jetzt heißt der Atlas „und Chronik“, sein Format wurde verdoppelt, die Seitenzahl (ohne Register) um 80% erhöht und der gewonnene Raum mit ausführlichen Texten, Abbildungen von Bauwerken, Gemälden sowie Zeitleisten, Stammtafeln, Statistiken und Organigrammen ausgefüllt. Bilder für Ereignisse aus früheren Jahrhunderten sind mitunter notgedrungen anachronistisch; dann wurde aber die Entstehungszeit hinzugefügt, z. B. bei dem Bild der Taufe Chlodwigs aus dem 15. Jahrhundert und der Miniatur von der Kaiserkrönung Karls des Großen aus dem Jahre 1472 (71)[2]. Beim „Weltbild Homers“ fehlt allerdings ein Hinweis, daß es sich um eine Rekonstruktion des 19. Jahrhunderts handelt (41).

 

Diese Rezension beschränkt sich vor allem auf den Kartenteil und zwar weniger auf die aus den früheren Auflagen übernommenen als auf die neuen Karten, weil sich darin die Veränderungen im Geschichtsbild am deutlichsten manifestieren. Noch vor den Geschichtskarten beginnt der Atlas mit zehn historischen Karten von 600 v. Chr. bis 1881. Sie können sichtbar machen, wie sich das Weltbild im Laufe der Epochen veränderte. So wird z. B. das Mittelalter von der Ebstorfer Weltkarte repräsentiert, auf der „die Erdscheibe ... als Leib Christi dargestellt“ wird (10). Dabei ist allerdings zu korrigieren, daß die drei zugänglichen Nachbildungen der 1943 zerstörten Karte sich in Ebstorf, Lüneburg und auf der Plassenburg in Kulmbach (nicht: Coburg!) befinden.

 

Sodann folgen die Geschichtskarten zu den einzelnen Epochen. Dabei fällt eine „Globalisierung“ auf. Asien – insbesondere Indien und China (30f., 54f., 94-97, 143, 262-267) – Afrika und Amerika werden nicht nur stärker berücksichtigt als früher, die entsprechenden Karten werden auch aus einem Anhang am Schluß herausgenommen und chronologisch in die Europa betreffenden Karten eingeordnet. Neu ins Blickfeld gekommen sind jetzt ferner die Seuchen: Pest, Cholera und Influenza (104f.).

 

Die Anzahl der Karten zur Vor- und Frühgeschichte wurde gegenüber der 100. Auflage von 1979 etwa verdoppelt. Weder der Text noch das Register erklären jedoch, warum auf der Karte der frühen Hochkulturen Ahhijava, das in der Troia-Forschung eine Rolle spielt und das von vielen als Achaia gedeutet wird, nicht im heutigen Griechenland (so im Historischen Weltatlas des Bayerischen Schulbuchatlas 1972, S. 7), sondern an der heute türkischen Westküste bei Izmir lokalisiert wird (26 II).

 

Die etwa 40 Karten zum Altertum sind im wesentlichen die gleichen geblieben. Hinzugefügt wurden Karten zur Administration des Perserreiches unter Dareios (36), zum Delisch-Attischen Seebund und zu Athens Importhandel im 5. Jahrhundert v. Chr. (38).

 

Stärkere Veränderungen erfuhr der Teil über das Mittelalter. Die Übergewichtung Mitteleuropas wird abgemildert durch die neuen Karten „Polen und Italien in ottonischer Zeit“ (75), „Das Byzantinische Reich 976-1180“ (64 II), „Der östliche Mittelmeerraum um 1214“ (85 III), „Spanien und Portugal vom 11. bis zum 16. Jhdt.“ (110f), „Ausbreitung der Weltreligionen von 600 v. Chr. bis 600 n.Chr.“ bzw. „von 600 bis 1500“ (86-87). Die Karte „Die mittelalterliche deutsche Ostsiedlung“ (S. 50f.) erhielt einen neuen Namen: „Die europäische Ostbewegegung im Mittelalter“ (90). Dabei wurde der Kartenausschnitt von Estland bis Ungarn genau beibehalten, so daß weiterhin die schwedische Siedlung in Finnland ebenso außer Betracht bleibt wie die italienisch-venezianischen Stützpunkte an der Adriaküste und die „Franken“ in Griechenland. Die Farbgebung wurde zugunsten der nicht-deutschen Völker geändert, so daß jetzt auch die Sorben, Tschechen, Slowenen, Polen, Litauer, Esten, Kuren und Ungarn stärker ins Auge fallen. „Um 1400 siedlungsleere Räume (Wald und Sumpf)“, die früher generell grün eingezeichnet waren, werden jetzt unterschiedlich dargestellt: Die Gebiete im Harz, in den österreichischen Alpen, in den Sudeten, im Böhmerwald, im deutsch-polnischen Grenzgebiet und im östlichen Preußen sind nun weiß – und damit auch optisch als „siedlungsleer“ gekennzeichnet, während die „Polnisch-litauische Kolonisation ... ab 1557“ – abweichend von der Zeitangabe „um 1400“ – auffällig lila eingefärbt wird. Neu hinzugekommen ist eine Ostmitteleuropa umfassende Karte „Dorf- und Hufenformen in der europäischen Ostkolonisation“ (91), eine Karte „Flamen, Holländer und Friesen als erste Träger der hochmittelalterlichen Kolonisation“ (93), eine farblich gut gelungene Karte „Bistümer Mitteleuropas im Mittelalter“ (101) und eine Karte „Das große Schisma und die Kirchenorganisation“ (107). Die Karte „Städtebildung in Mitteleuropa bis 1250“ (S. 56) wurde ersetzt durch eine nunmehr ganz Europa umfassende, sehr anschauliche Karte „Städtebildung im Mittelalter bis 1300“ (88). Die Schweiz erhielt zusätzlich zur Karte „Die Eidgenossenschaft 1536-1798“ (S. 72 I) eine weitere Karte für den Zeitraum 1291-1513 (132). Die frühere Karte „Italien im 15. Jhdt.“ ist eine der wenigen Karten aus der früheren Auflage, die jetzt entfallen ist.

 

Was die begleitenden Texte und Bilder betrifft, soll nur beispielhaft ein Thema herausgegriffen werden: Die sieben Kurfürsten haben sich nicht schon „seit der Doppelwahl des Jahres 1198 ... aus der Reihe der Reichsfürsten ... abgesetzt“ (80), sondern erst im Laufe der zweiten Hälfte des 13. Jahrhunderts: Laut Sachsenspiegel wählen „die Deutschen“ (1220/35) bzw. zweimal drei (= sechs, nicht sieben!) „Erste an der Kur“ mit anschließender allgemeiner Fürstenwahl (wohl 1273 eingefügt), so jedenfalls noch 1274/75 im Deutschenspiegel. Die Siebenzahl der Wähler wird in Deutschland erst 1275 bezeugt, ebenso 1275/76 im Schwabenspiegel (mit Baiern als siebentem Wähler). Böhmen hatte nicht erst „seit 1257“, sondern auch schon 1198, 1212 und 1237 zu den damals noch viel zahlreicheren Königswählern gehört, protestierte aber 1273 gegen die Wahl Rudolfs von Habsburg, wurde 1275 ausgeschlossen und gehörte seit 1290 wieder zu den Königswählern. Die erste gemeinsame Königswahl durch ausschließlich jetzt „Kurfürsten“ genannte Sieben fand erst 1298 statt. – Das Bild „Kaiser Karl IV. und die sieben Kurfürsten“ (102) wird irrig als „Holzschnitt aus dem Wappenbuch von Gehre, Augsburg 1370“ bezeichnet. Die Miniatur (nicht: Holzschnitt) aus dem Wappenbuch des Herolds Gelre (!), stammt aber aus Geldern und wird 1378/93 oder 1393/95 datiert, also nach dem Tode Kaiser Karls IV. Sie zeigt den Kaiser oder König nicht mit sieben, sondern mit 2 x 3 = 6 Kurfürsten, davor den Herold. Sie ist hier auch gar nicht abgebildet, sondern ein tatsächlich aus Augsburg stammender Holzschnitt, der von Bartholomäus Käppeler publiziert wurde und etwa 200 Jahre jünger ist (vor 1600). – Der Königswahlort am Rhein bei Koblenz heißt Rhens (von Rhenus) und nicht „Rense“, was eine Dativform ist: „zu Rhense“ (100 und Register). Das Stichwort „Kurfürsten“ fehlt leider im Register.

 

Auf der Karte „Die Wirtschaft Mittel- und Westeuropas im 16. Jhdt.“ werden jetzt anstelle der politischen Territorien (S. 68f.) die Gebiete verschiedener Bevölkerungsdichte durch Flächenfärbung unterschieden (120f.). Auf der Karte „Mitteleuropa im Zeitalter der Reformation um 1547“ (122f.) werden gegenüber der früheren Karte (S. 70f.) die blauen Punkte für die Hohenzollernherrschaft im Herzogtum (Ost)Preußen etwas dünner gesät und die rosa Randfärbung für die innerhalb des Königreichs Polen autonomen Städte Danzig, Elbing und Thorn ins fast Unauffällige aufgehellt.

 

Neu sind zwei Karten zur Gregorianischen Kalenderreform (123). In der Karte zum Bauernkrieg (S. 72 II) ist jetzt auch der Ritteraufstand 1522/23 in der Pfalz (124 I) eingetragen.

 

Die Karte „Mitteleuropa nach dem 30jährigen Krieg (1648)“ ist mit nur geringen Abweichungen immer noch die gleiche wie in der ersten Auflage des Putzger von 1877. Die Entstehung dieser berühmten, aber etwas anachronistischen Karte des „Flickenteppichs“ oder der „Narrenkappe“ ist aus der Situation nach der Reichsgründung von 1871 zu verstehen, in der man sich von der früheren „elenden Kleinstaaterei“ abheben wollte. In Geschichtsatlanten des 19. Jahrhunderts vor dem Putzger wurde das Reich im 30jährigen Krieg mit seinen verschiedenen Konfessionsgebieten mehr in einem kirchenrechtlichen Prozeß dargestellt, im 17. und 18. Jahrhundert nach dem eigenen Selbstverständnis jedoch in seinen Reichskreisen (bei Homann „Imperium Romano-Germanicum in suos Circulos Electoratus et Status accurate distinctarum“)[3]. Doch hat die neue Ausgabe endlich auch wieder eine, sogar großformatige Karte „Einteilung des Heiligen Römischen Reiches in Reichskreise“ erhalten, wobei als Zeitpunkt „Ende des 17. bis Ende des 18. Jhs.“, gewählt wurde, was die inzwischen französisch gewordenen Gebiete ausschloß (152). Neu ist auch die Beikarte „Bevölkerungsverluste im 30jährigen Krieg“. Eine bemerkenswerte neue Karte trägt den Titel „Kultur im Heiligen Römischen Reich im 18. Jahrhundert“. Auf ihr fällt auf, daß im wesentlichen nur katholischen süddeutschen Gebiete eine „große Dichte künstlerisch, europaweit erstrangiger Bauten“ zugeschrieben wird (153).

 

Die frühere Karte „Entwicklung der französischen Ostgrenze 1493 bis 1801“ (S. 81), die 1901 unter dem Titel „Vorschreiten Frankreichs nach Osten“ neu in den Putzger hineingekommen war, wird jetzt ersetzt durch eine neue Karte „Frankreich im 16. und 17. Jhdt.“, die auch die Provinzen mit Ständeversammlungen und die Hugenottengebiete ausweist (133). Dabei wird Lothringen zu den schon „in der zweiten Hälfte des 17. Jhdts dem französischen Staatsgebiet einverleibten Territorien“ gezählt (133), auf der Karte „Europa in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts“ jedoch erst „1735/66“ (148, ebenso 166). Die Reichsgrenze wurde übrigens von den Zeitgenossen nicht mit den nationalen Augen des 19. und 20. Jhdts. angesehen. Als nämlich Ludwig XIV. nach der Reichskrone strebte, sagten ihm seine Juristen, er könne sich ohne weiteres Kaiser nennen, da er ja Teile des Reiches beherrschte. Andererseits haben die Reichsstände es vorgezogen, lieber Teile des Reiches abzutreten, als den französischen König als Reichstagsstand in Regensburg vertreten zu sehen.

 

Aufgenommen wurden jetzt auch drei Karten über „England im 17. Jhdt.“ (134f.). Die Karte „Schwedens Aufstieg zur Großmacht“ (S. 76) ist in der Karte „Europa nach dem Spanischen Erbfolgekrieg 1714“ aufgegangen (148f.).

 

Die Karten zu den Entdeckungsreisen und den europäischen Kolonialbesitz bis 1650 (S. 62f.) und bis 1763 (S. 64) sowie die Karte zu „Südamerika in vorkolonialer Zeit“ (S. 130) wurden beibehalten (136f, 143, 140). Neu sind zahlreiche Karten über „Bedeutende Weltreisen vom 13. bis 15. Jhdt.“ (136), zum „Vordringen der Portugiesen nach Afrika im 15. Jahrhundert“, zu spanischen und portugiesischen Stützpunkten sowie Missionsgebieten in Südamerika vom 16. bis 18. Jhdt. (137), zu „Südamerika nach der Kolonisierung“ (141), zu „Entdeckungsreisen, Welthandel und Nutzpflanzen im 17./18. Jhdt.“ (142), „Entdeckungsreisen seit Beginn des 19. Jhdts.“ (196) zur „Eroberung der Pole“ (197), und zu „Afrika von 1500 bis 1800“ (200). Karten zur politischen (202) und zur wirtschaftlichen Entwicklung in Mittel- und Südamerika im 19. und 20. Jahrhundert (203) wurden überarbeitet (vgl. früher S. 131-133).

 

Neu sind Karten „Frankreich von 1794 bis 1799“ (163) und zur Kriegslage 1792 und 1793/94 (167), drei Karten zur industriellen Revolution in England im 18. und 19. Jhdt. (172f.). Die Karten zur Geschichte Nordamerikas wurden ergänzt um Karten über die Indianer vor der Kolonisation (174), zur kolonialen Entwicklung bis 1750, zu den Bevölkerungsgruppen um 1750 (175) und zu den Aktivitäten der USA im pazifischen Raum im 19. Jhdt. (177).

 

Die Karte zur Entwicklung des Eisenbahnnetzes in Mitteleuropa wurde ergänzt um entsprechende Karten für Großbritannien und Frankreich (190f.). Neu ist die Karte zur „Nationalstaatsbildung Deutschlands“ 1834-1871, wobei Österreich und Böhmen korrekt als „aus dem Deutschen Bund 1866 hinausgedrängte habsburgische Gebiete“ gekennzeichnet sind (193). Neu ist auch eine Karte „Polen und Litauen 1815-1922“ (193).

 

Die frühere Karte zur „Verteilung der Sprachen in Mittel-, Ost- und Südeuropa um 1910“ (S. 99) wurde jetzt umbenannt in „Völker und ethnische Gebiete in Mittel- und Südosteuropa um 1910“ (194). Dabei wurden mehrere Farben abgeändert. Die Polen, die früher wie andere Slawen in einem Grünton eingetragen waren, haben jetzt das Gelb der Ungarn erhalten, die sich ihrerseits nun in einem Braunton weniger von den nunmehr rot gekennzeichneten Rumänen unterscheiden. Statt früher rot sind die Deutschen weniger auffällig blau eingetragen. Die serbokroatische Gruppe ist jetzt farblich in Serben, Bosniaken und Kroaten unterschieden. Die in der alten Auflage mit den Bulgaren in einer Farbe zusammengefaßten Makedonen werden nunmehr „als christliche Slawen in Makedonien“ (so auch in Bulgarien und Griechenland) bezeichnet. Die früheren bulgarisch-türkischen Mischgebiete (so noch 221) werden in der Neuauflage als rein türkisch ausgewiesen. Nizza ist jetzt als italienisch angegeben.

 

Die Karten der Sowjetunion sind erweitert worden um Karten zum Bürgerkrieg 1917-21 (210), zu den Wahlergebnissen 1917 (211), zu der Bildung der Sowjetrepubliken im Kaukasus (211), zum Zerfall der Sowjetunion seit 1988 (214) und zu den Umweltzerstörungen in der UdSSR (215), die, wenn die Angaben stimmen, ein erschreckendes Bild geben.

 

Beikarten behandeln den griechisch-türkischen Konflikt 1919-22, die italienische, japanische (218f.) und sowjetische Expansion (244). Die Karte „Europa zwischen den Weltkriegen (1919-1939)“ (S. 110f.) wurde zur Karte „Europa 1919 bis 1938“ (220f.), wobei allerdings eine Inkonsequenz darin liegt, daß die Aufteilung der Tschechoslowakei 1938/39 und die deutsch-sowjetische Interessengrenze von 1939-1941 bereits eingetragen sind, der „Anschluß“ Österreichs 1938 aber nicht. Die Angaben über den spanischen Bürgerkrieg sind jetzt erheblich ausführlicher (auch 223). Drei neue Beikarten stellen die Staaten Osteuropas 1914, die Sprachverteilung in Osteuropa nach 1918 und die „Internationalen Krisenherde in der Folge der Pariser Vorortverträge“ dar (220f.).

 

Neu sind die Karten “Kommunistische und demokratische Revolutionen in Europa 1917-1920“, „Novemberrevolution in Deutschland 1918“ (224), „Deutschland nach dem Versailler Vertrag von 1919“ – mit farbiger Eintragung der Besatzungszonen im Rheinland – sowie „Aufstände Putschversuche und politischen Morde 1919-1923“ (225), „Synagogenschändungen in der Weimarer Republik vor 1933“ (226) und „Konfessions- und Parteienmehrheiten 1932“ (227).

 

An Stelle der zuvor einzigen Karte zum „Dritten Reich“ gibt es jetzt sechs Karten zum „Deutschen Reich“ im Nationalsozialismus: 1933-1938, 1939-1945, Hitlerjugend und Parteischulen, Aufrüstung, Konzentrationslager und Organisation der NSDAP sowie Reichspogrome 1938, außerdem zwei Europakarten zum Völkermord an den Juden (230-233). Die Karte „Kriegszerstörungen in deutschen Städten“ (246 III) ist anachronistisch auf das Bundesgebiet reduziert, so daß man den Eindruck erhalten kann, die Bundesrepublik in den Grenzen von 1990 habe den Zweiten Weltkrieg geführt (246). Auch die deutschen Kriegsgefangenen werden kartiert (239). Eine neue Karte „Sowjetische Internierungslager von 1945 bis 1949“ schließt auch Österreich und Polen ein (247).

 

Die schon in der Auflage von 1979 mißglückte Karte „Vertriebene und Umsiedler 1945-1950“ wurde leider unverändert übernommen (247). In auffallendem Unterschied zur Auflage von 1954 zeichnet sie Polen in den Grenzen von 1945/70 in gelber Farbe und darin als winzige blaue Säulen die deutschen Vertriebenen. Da diese blauen Säulen nur etwa 10% der gelben Fläche von Schlesien, Ostpommern und Ostpreußen ausmachen, entsteht optisch der Eindruck, es habe sich um die Rückführung einer deutschen Minderheit aus Polen gehandelt. Hier scheint die politische Korrektheit über die wissenschaftliche Ehrlichkeit zu obsiegen. Die Karte verhüllt auch den europäischen Charakter der Bevölkerungsverschiebungen, da die gelb in gelb bzw. braun in braun gekennzeichneten Umsiedlungen von Polen in die ehemals deutschen Gebiete bzw. innerhalb der Tschechoslowakei in die Sudetenländer optisch kaum auffallen. Vergleichsweise ist die winzige Karte „Flüchtlingsströme in Afrika 1985/86“ aussagekräftiger (268).

 

Auf der Karte „Mitteleuropa 1945-1949“ ist die Linie des weitesten Vordringens der Westallierten 1945 so gut wie nicht zu erkennen (anders noch in der Auflage von 1954). Die Karte von Deutschland 1949-1989 hat gegenüber der früheren Karte (S. 122) durch deutlichere Eintragung der Luftkorridore nach Berlin und des Gebietes grenznahen Verkehrs 1973-1989 an Informationswert gewonnen (248). Erst in der Neuauflage wurde die deutsch-deutsche Grenze vom linken auf das rechte Elbufer verlegt! Vier Karten betreffen die DDR von 1949 bis 1990: Verwaltungseinteilung, „Der 17. Juni 1953“, die Industrieproduktion (250-251) und die „Protestbewegung in der DDR Ende 1989“ (254). Zwei Karten stellen „Die deutschen Länder von der Weimarer Republik bis zum wiedervereinigten Deutschland“ dar, eine Beikarte „Rechte Gewalt im wiedervereinigten Deutschland“ (255).

 

Neu sind zwei Karten zur Entkolonialisierung 1945-1990 und „Erste, Zweite und Dritte Welt 1945-1990“ (242f.). Die beiden Karten zu den militärischen und den wirtschaftlichen Zusammenschlüssen in Europa 1945-1990 wurden aktualisiert (256f.). Im Vergleich damit wird die „Wende“ nach 1989 sichtbar in zwei Karten „Beginn des Wandels in Ost- und Südosteuropa bis Ende 1990“ (259) und „Europa und seine Staatenbündnisse zu Beginn des 21. Jhdts.“ (260f.).

 

Die wichtigsten kriegerischen Konflikte der letzten Jahrzehnte werden in Karten von Korea und Vietnam (276), Afrika 1960-93 (269), Jugoslawien 1974-90 (280), vom Nahen Osten (283) und Afghanistan (287) behandelt. Karten zur UNO, zur Welt heute und zum Stand der Entwicklung bilden den Beschluß (282-285).

 

Spezielle Karten zur Rechtsgeschichte betreffen die Konfessionsverteilung in ihrer reichsrechtlichen Festschreibung nach 1648“ (125 IV) sowie die Verfassungen im Deutschen Bund bis 1847 und zum Wahlrecht der Bundesstaaten im Deutschen Reich 1914 (184f.). Nützlich sind auch die Organigramme zur Verfassung der Römischen Republik (47), des Prinzipats (49), zur Verwaltung des Frankenreiches unter Karl dem Großen (68), zum Reich im 16. Jhdt. (122), zur französischen Verfassung von 1791 und von 1795 (163), zum Deutschen Bund (183), zu den Reichsverfassungen 1849 und 1871 (184), zur Weimarer Reichsverfassung von 1919 (224), zur Sowjetunion (212), zur DDR (250), zur Europäischen Union (257) und zur UNO (282). Im weiteren Sinne zur Verfassungsgeschichte lassen sich auch die zwei neuen Karten zur katholischen Kirche in Mitteleuropa und zur evangelischen Kirche in Deutschland 1945-1978 (249) zählen.

 

Reine Karten zur Zivilrechtsgeschichte enthält der Atlas nicht, wie etwa die Karte über die vor 1900 in Deutschland geltenden Zivilrechte, die im Putzger von 1901 eingefügt worden war, aber 1934 wieder wegfiel. Immerhin ist die Karte mit den verschiedenen deutschen Stadtrechtsfamilien, etwas abgewandelt, immer noch erhalten (90), und die Karte „Frankreich im 16. und 17. Jhdt.“ zeigt auch die Grenze zwischen dem Gewohnheitsrecht im Norden und dem geschriebenen Recht im Süden (133). Der Code Civil und das Bürgerliche Gesetzbuch werden kurz im Text (nicht aber auf einer Zeittafel, etwa 160 oder 167) erwähnt (170). Die Carolina oder der Sachsenspiegel kommen nicht vor. Ohne eine Erklärung, worum es sich dabei handelt, wird der Schwabenspiegel genannt (80), fehlt aber im Register. Doch wird die „Goldene Bulle“ ausführlich behandelt (80, 102).

 

Unter den 61 Karten-, Text- und Materialautoren scheint offenbar kein Rechtshistoriker gewesen zu sein, sonst wäre wohl nicht ein Text stehen geblieben wie: „Justinian ... beauftragte zahlreiche Juristen, das bestehende Recht zu kodifizieren, das zunächst als Codex Justitianus [sic!], in der fertigen Fassung als corpus iuris civilis die wohl einflussreichste Rechtssammlung Europas wurde“ (65).

 

Während in der 100. Auflage die Karten noch mit den Namen der verantwortlichen Autoren versehen waren, ist jetzt nur noch das copyright des Verlages mit Jahreszahl angegeben. Die Namen der Kartenautoren sind lediglich dem Mitarbeiterverzeichnis am Schluß des Bandes zu entnehmen (430). Dem Karten-, Text- und Bildteil (287 Seiten) folgt ein ausführliches Staatenlexikon (288-373), ein unentbehrliches Kartenregister (374-417), ein 19-seitiges Sach- und ein 3-seitiges Personenregister.

 

Indem der Putzger auch im Jahre 2002 das Geschichtsbild seiner Zeit spiegelt, ist er seiner 125-jährigen Geschichte treugeblieben.

 

Frankfurt am Main                                                                                                     Armin Wolf



[1] Vgl. dazu Armin Wolf, 100 Jahre Putzger – 100 Jahre Geschichtsbild in Deutschland (1877-1977), in: Geschichte in Wissenschaft und Unterricht 29 (1978) 702-718, sowie die Rezension: Putzger, Historischer Weltatlas, 100. Auflage 1979, in: Blätter für deutsche Landesgeschichte 119 (1984) 408-409.

[2] Zahlen in Klammern beziehen sich auf die Seiten in der Ausgabe von 2002, Zahlen nach S. auf die Seiten in der Ausgabe von 1978.

[3] Armin Wolf, Zum Deutschland-Bild in Geschichtsatlanten des 19. Jahrhunderts, in: Geschichtsdeutung auf alten Karten, hg. von Dagmar Unverhau (Wolfenbütteler Forschungen 101) Wiesbaden 2003, 255-286, hier 256-259 und Abb. 5-14.