Prange, Wolfgang, Vikarien und Vikare in Lübeck bis zur Reformation (= Veröffentlichungen zur Geschichte der Hansestadt Lübeck B 40). Archiv der Hansestadt Lübeck, Lübeck 2003. 201 S.

 

Das Buch behandelt in strenger Beschränkung auf eine Stadt eine Institution der katholischen Kirche, die überall gleich konstruiert war. Lediglich die Quantitäten und einige ereignisgeschichtliche Verwicklungen waren unterschiedlich. Deswegen kommt der Monographie eine allgemeine Bedeutung für die kirchliche Verfassungsgeschichte zu. Das Buch handelt auf etwa 100 Seiten von der Einrichtung der Vikarien, von dem Streit der Vikare mit dem Domkapitel, in dessen Zusammenhang die Vikare eine Brüderschaft bilden, von der Besetzung der schließlich 207 Vikarien, ihrem Besitz, ihrem Einkommen und dem Schicksal der Vikare in der Reformation. Die Vikare überleben zwar die Reformation - als reduzierte Fossile - aber nicht die Säkularisation.

 

Bei den erwähnten Streitigkeiten und der Brüderschaftbildung wurde häufig der Papst hinzugezogen. Es ist auffällig, wie leicht der Papst diesen oder jenen Wunsch durch seine Urkunden unterstützte, wobei er in kurzer Zeit die Partei wechselte und Zusagen machte, die früheren entgegengesetzt waren. Ernst Pitz, der die Urkundentätigkeit der Kurie in enger Abhängigkeit von den Machtverhältnissen der jeweiligen Landschaften und deren Lobbyismus dargestellt hat, scheint wieder einmal Recht zu bekommen.

 

Diese durch zwei Quellenanhänge und mehrere Listen abgeschlossene Arbeit steht in der guten Tradition archivalischer Geschichtsaufarbeitung. Gleichzeitig kommen implizit soziologische Konstanten zu Tag. Der erste Streit mit den Domherrn ging um die Umwidmung zweier vakanter Vikarien zu einem Domlektorat, gegen die sich die übrigen Vikare quasi reformfeindlich vehement wehrten. Wie sollte man sich nicht an den Streit um Stellen an den heutigen Universitäten erinnert fühlen. Ein anderer großer Streit ging um eine neue Besteuerung der Vikare durch das Domkapitel. Ursprünglich wurde von den Domherrn für die Stiftung von Vikarien an anderen Kirchen eine Memorie, eine gottesdienstliche Leistung, am Dom erbracht und vom Stifter mit 4 Mark lübisch honoriert. Später wurde dieses Honorar von dem eigentlichen Zweck gelöst, als Steuer aufgefaßt und rief als solche den Widerstand der Vikare hervor. Der Rat wies in Rom darauf hin, daß die Steuer zu einer Einstellung der Stiftungen führen würde (S.41), was denn auch 1422 eintrat. Wieder stehen wir vor einem Problem, das denen der modernen Steuerpolitik ähnlich ist.

 

Im übrigen durchziehen typische Zeitprobleme das betriebsame Leben der Vikare: Pfründenkumulation, Inkorporationen, Absenz und Vertretung durch schlecht bezahlte Offizienten. Gegen Ende des Mittelalters hatten viele Vikare geringere Renteneinnahmen als bei der Stiftung oder gar keine. Während die Renten, die von der Salzproduktion in Lüneburg kamen, stabil blieben, zeigen ländliche Renten die wachsende Zahlungsschwäche und Zahlungsunwilligkeit der Verpflichteten, was auch mit dem Niedergang der Zinsen zusammenhing. Die Verschlechterung des Geldwertes der nominal fixierten Renten kam noch hinzu. 1523 konstatierte ein Bischof, daß ein Vikar von einer Vikarie nicht mehr „mit priesterlichem Anstand“ (S. 85) leben könne, kaum von zwei oder drei. Im Rahmen der spätmittelalterlichen Umschichtungen verarmten einige Gruppen entschieden. Auch das wird in der ertragreichen Studie sichtbar.

 

Reichenberg                                                                                                   Rolf Sprandel