Ogris, Werner, Elemente europäischer Rechtskultur. Rechtshistorische Aufsätze aus den Jahren 1961-2003, hg. v. Olechowski, Thomas. Böhlau, Wien 2003. XIII, 831 S., Abb.

 

Im Vorwort verfasst der Herausgeber eine straffe aber umso präzisere Biographie des Verfassers, dem dieser Sammelband seiner Schriften als Abschiedsgeschenk für eine äußerst erfolgreiche und reichhaltige Lehrtätigkeit überreicht worden ist. Da Werner Ogris 1975 bis 1995 Mitherausgeber dieser Zeitschrift gewesen, ist eine ausführliche Besprechung gerechtfertigt. Der Sammelband umfasst vor allem Vorträge des Verfassers, die nachträglich in zum Teil entlegenen Zeitschriften und Festschriften veröffentlicht wurden, sodass deren Sammlung in einem, allerdings dicken Band das Oeuvre dieses bedeutenden österreichischen Rechtshistorikers einem breiteren Interessentenkreis verdienstvollerweise zugänglich macht.

 

Der zu besprechende Sammelband ist in neun Abschnitte eingeteilt, I. Rechtsgeschichte als Studienfach, II. Monarchia Austriaca, III. Aufgeklärter Absolutismus, IV. Juristenköpfe, V. Wissenschaftsgeschichte, VI. Privatrechtsentwicklung, VII. Strafrechtsgeschichte, VIII. Stadt und Land, IX. Varia, womit die ganze Breite der Forschungstätigkeit des Verfassers aufgezeigt ist.

 

Als erstes erscheint ein Plädoyer zugunsten der Rechtsgeschichte („Rechtsgeschichte und Juristenausbildung“), das der Verfasser im Jahre 2002 an der Universität Bratislava hielt. Dieser auf den ersten Blick popularisierende Vortrag enthält Kernsätze (S. 6f.), die überzeugender erscheinen als manche der bisher zum gleichen Thema vorgelegten hochwissenschaftlichen Publikationen: 1. Die Rechtsgeschichte arbeitet die großen Zusammenhänge auf und stellt sie dar. 2. Sie bietet einen Überblick über die Strömungen, Gegenströmungen, Seitentäler und Umwege, Barrieren und Sackgassen der Rechtsentwicklung. 3. Sie bietet – weil zugleich auch Rechtsvergleichung – gewisse Grundmuster für die Lösung diverser Rechtsfragen. 4. Sie vermittelt ein Gefühl für die Vergänglichkeit des positiven Rechts. 5. Sie gibt schliesslich eine Antwort auf die Frage nach dem Wesen einer gemeineuropäischen Rechtskultur. Dem ist nichts beizufügen.

 

Der „Nachruf“ auf die rechtshistorische Staatsprüfung („Die  rechtshistorische Staatsprüfung. Ein Nachruf“), der nun folgt, gibt authentische und bisher wohl geheim gehaltene Einblicke in diese Art Prüfung. Beeindruckend dabei sind die Durchfallszahlen.

 

Die Periodisierungsfrage („Periodisierungsprobleme der Rechtsgeschichte“) ist ein Dauerproblem der deutschen Rechtsgeschichte, weil sie verknüpft ist mit der Bejahung eines „germanischen“ Rechts. Wer letzteres ablehnt, kann getrost die Periodisierung pragmatisch angehen. Entgegen dem Rezensenten bleibt der Verfasser zu dieser Frage äußerst vorsichtig.

 

Die Japaner („Deutsche und österreichische Rechtsgeschichte in Japan. Flüchtige Eindrücke von einer Studienreise“) machen offenbar vor, was man an den deutschen, österreichischen und bald schweizerischen Universitäten nicht mehr wahr haben will, dass die Rechtsgeschichte eines fremden Rechts (in concreto des deutschen und des österreichischen Rechts) eine ausgezeichnete Einführung in dieses Recht und eine gute Basis für die Auslegung dieses Rechts darstellt. Der diesbezügliche Aufsatz „Deutsche und österreichische Rechtsgeschichte in Japan“ stellt auch für den Rechtsvergleicher ein aufschlussreiches Lehrstück dar.

 

Die Rechtsvereinheitlichung als Mittel der Integration der verschiedenen Erbländer der österreichischen Krone ist Gegenstand des Aufsatzes „Rechtseinheit und Staatsidee in der Donaumonarchie“. Der Aufsatz „Zwischen Absolutismus und Rechtsstaat“ ist eine Art Zusammenfassung der beiden Reden über Maria Theresia und Josef II., die ich nachfolgend bespreche. Dabei sollten nach Meinung des Verfassers die Kodifikationen auch einen Ausgleich zwischen dem „neuen“ absolutistischen Staat und dem ihm unterworfenen Individuen schaffen, ohne selbst Verfassungsgesetze zu sein (S. 64f.).

 

Der Verfasser befasst sich mit einem Gegenstand, der von der Rechtsgeschichte vernachlässigt wird, der Beamte („Der Beamte in der Habsburger Monarchie“). Hierüber gibt es in der Tat nur wenig Literatur. Umso interessanter ist der Beitrag des Verfassers bezüglich Österreichs. Die Bürokratie war das Mittel, mit welchem Maria Theresia die Macht der Stände brach, um einen absolutistischen Staat errichten zu können, der in der Lage war, dem Preußen Friedrichs II. die Stirn zu bieten.

 

Diesem Aufsatz folgt eine „Trilogie“ der Reden zu Maria Theresia, Josef II. und Friedrich II. von Preußen („Recht und Staat bei Maria Theresia“, „Josef II.: Staats- und Rechtsreformen“, „Friedrich der Große und das Recht“). Allerdings ist der letztere dieser drei Aufsätze, jener über Friedrich den Großen, der umfassendste und zugleich auch gelungenste. Er gipfelt in der Aussage, dass das Allgemeine Landrecht der Preußischen Staaten von 1794 eigentlich das Werk Friedrichs II. ist, was aus den Ideen der Aufklärung zutrifft. Während Maria Theresia in den Reformen übervorsichtig blieb, war ihr Sohn Josef II. geradezu wagemutig. Friedrich II. verband Humanität mit der Staatsräson, was möglicherweise seinen Ruhm begründet hat. Allen drei Monarchen kommt unzweifelhaft das Verdienst zu, ganz besonders auf dem Gebiet des Rechts Pionier gewesen zu sein und daher ist diese Trilogie auch besonders lesenswert. Sie ist es auch deshalb, weil bisher nur der Abschluss der Entwicklung des Allgemeinen Bürgerlichen Gesetzbuchs und des Allgemeinen Landrechts größeres Interesse erweckt, die Vorgeschichte zu diesen Kodifikationen dagegen weniger Beachtung findet.

 

Unter der Überschrift „Juristenköpfe“ werden drei berühmte „Juristen“, Goethe („Verbietet mir keine Zensur! Goethe und die Pressfreiheit“), Jacob Grimm („Jacob Grimm und die Rechtsgeschichte“), Paul Johann Anselm von Feuerbach („...zum Gedenken“) und ein weniger bekannter Jurist Karl Freiherr von Lemayer („Leben und Wirken“), letzterer ein unermüdlicher Vorkämpfer der Verwaltungsgerichtsbarkeit gewürdigt.

 

In seinem in der Festschrift Lentze erstmals abgedruckten Beitrag (im Anschluss an dessen grundlegende Arbeit[1]) stellt der Verfasser den Einfluss der historischen Rechtsschule auf die österreichische Zivilistik dar. Zwei Persönlichkeiten stehen dabei als Akteure im Vordergrund, der Erziehungsminister Leo Graf Thun-Hohenstein und Josef Unger (1828–1913) („Die Historische Schule der österreichischen Zivilistik“). Das Erstaunliche daran ist, dass das ABGB diesen Einfluss überlebt hat und heute noch gilt. Die Rezeption in complexu des römischen Rechts wurde von den österreichischen Pandektisten zwar vorangetrieben, scheiterte aber letztlich an der Solidität der Grundlagen, auf denen das ABGB beruht („Zur Geschichte und Bedeutung des österreichischen ABGB“). Das ABGB war eben doch besser als sein Ruf. Die österreichische Pandektistik hat immerhin die Novellierung dieser Kodifikation im Jahre 1917 veranlasst und damit zu dessen Modernisierung beigetragen (vgl. auch S. 438).

 

Die Universitätsreform Graf Thuns („Die Universitätsreform des Ministers Leo Graf Thun-Hohenstein“) ganz im Sinne der historischen Rechtsschule war mehr als hundert Jahre in Kraft. Seitdem folgt eine Universitätsreform nach der anderen. Dabei wird übersehen, dass die Aufgabe der Universitäten nicht im Produzieren von Universitätsordnungen sondern von bestens ausgebildeten Akademikern besteht. Einer der Vorzüge der viel gerühmten angelsächsischen Universitäten besteht darin, dass sie nicht dauernd reorganisiert werden. Die Energie, die an den europäischen Universitäten mit Reorganisieren verpufft wird, wenden die angelsächsischen Universitäten ausschließlich in eine ebenso effiziente wie auch qualitative Ausbildung.

 

Die Wiener Juristische Gesellschaft hat in der Wissenschaftsgeschichte der Jurisprudenz besondere Berühmtheit erlangt, weil sie das Forum war für den Vortrag Rudolf von Jherings über den „Kampf ums Recht“ am 11. 3. 1872. Zum Jubiläum der Juristischen Gesellschaft hielt der Verfasser am 8. 5. 1968 den Festvortrag „100 Jahre Juristische Gesellschaft“.

 

Als ein Mittel der Kapitalbeschaffung diente im Mittelalter der Leibrentenvertrag („Der mittelalterliche Leibrentenvertrag“). Mit dem Leibrentenvertrag hängt das Klosterpfründwesen zusammen. Der reich dokumentierte Vortrag des Verfassers („Die Konventualpfründe im mittelalterlichen Kloster“) zeigt die Entwicklung dieses für die wirtschaftliche Existenz der Klöster maßgebenden Instituts auf. Bemerkenswert ist dabei die Feststellung (S. 471): „Der Mensch dieser Zeit liebte das Rentendasein, das Kloster bot die Möglichkeit, es in höchster Vollendung zu genießen“. Dies erklärt wohl die Blüte des Klosterwesens und der Orden im Mittelalter. Die zugleich festgestellte Zersetzung der vita communis hängt meines Erachtens auch damit zusammen, dass sich einzelne Klöster zu weit verzweigten und zu delokalisierten „Grosskonzernen“ entwickelten, was aus rein praktischen Gründen eine vita communis unmöglich machte.

 

Der Rezensent muss sich aus Platzgründen enthalten, den Aufsatz „Die persönlichen Sicherheiten im Spätmittelalter“, der erstmals in dieser Zeitschrift erschien, ausführlich zu besprechen. Nur soviel: Das Einlager ist mit für die Volkskunde bedeutsamen Rechtsbräuchen[2] verbunden. Mit diesem Thema hängt auch der seinerzeitige Beitrag in der Festschrift für Prof. Malenu (Prag) zusammen, der unter „Varia“ veröffentlicht ist: König for sale. Der Würzburger Vertrag zwischen Herzog Leopold V. und Kaiser Heinrich VI. über die Auslieferung Richards I. vom 14.Februar 1195. Die Idee hierzu ist wohl aus dem Artikel über die Geisel im Handwörterbuch zur deutschen Rechtsgeschichte[3] entstanden.

 

Beim Erlöschen der väterlichen) Gewalt („Das Erlöschen der väterlichen Gewalt nach deutschen Rechten des Mittelalters und der Neuzeit“) spielt die sog. Abschichtung eine zentrale Rolle. Mit ihr ist in der Tat viel Brauchtum verbunden, das man in den französischen Quellen als „mettre hors de son pain“[4] findet.

 

Die „Geschichte des Arbeitsrechts vom Mittelalter bis ins 19.Jahrhundert“ ist merkwürdigerweise kein Hit der Rechtsgeschichte. Der entsprechende Aufsatz des Verfassers ragt daher wie eine Oasis in der Wüste hervor und wird denn auch in seiner ursprünglichen Publikationsform immer wieder zitiert.

 

Der „Landzwang“ (...“in Geschichte und Gegenwart“) ist den meisten unbekannt. In einem bisher nicht veröffentlichten Aufsatz erläutert Ogris dieses strafrechtliche Institut mit „Austreten aus der Rechtsgemeinschaft“ verbunden mit Bedrohung eines ganzen Dorfes, einer Stadt oder eines Gaus (in der Schweiz analog Art.258 StGB „Schreckung der Bevölkerung“). Als berühmtester Aussetzer gilt Michael Kohlhaas von Heinrich von Kleist.

 

Die beiden Aufsätze „De sententiis ex plenitudine potestas“ und „Maria Theresia judex“ gehören zusammen und behandeln das von der Rechtsgeschichte vernachlässigte Thema „Kabinettsjustiz“.

 

Das zweihundertjährige Jubiläum der Leopoldina gibt dem Verfasser die Gelegenheit, Josef von Sonnenfels („Josef von Sonnenfels und die Entwicklung des österreichischen Strafrechts“) zu würdigen. Sonnenfels ist u. a berühmt geworden, weil er in einer in Zürich veröffentlichten Schrift gegen die Folter, die in der Constitutio Criminalis Carolina immer noch eine allzu große Bedeutung einnimmt, auftrat, wenn er auch damit nicht der erste war. Allerdings hält er an der „Denunziationsfolter“ fest. Seine Strafrechtstheorie ist weniger als solche zu betrachten. Sie ist vielmehr „Strafrecht als Fortsetzung der Polizei mit anderen Mitteln“ (S. 674). Damit hat Sonnenfels Grundlegendes zur sog. Kameralwissenschaft beigetragen.

 

Die Stichwörter „ABGB“, „Maria Theresia“, „Josef II.“, „Friedrich II.“, „Kabinettsjustiz“, „Kameralwissenschaft“ u. a. m. zeigen auf, dass sich Werner Ogris intensiv mit dem 18. Jahrhundert befasst und damit einen wesentlichen Beitrag zur Rechtsgeschichte dieses Jahrhunderts leistet.

 

Die Darstellung der Entwicklung der Gemeindegesetzgebung Österreichs im 19.Jahrhundert („Die Stadt in der österreichischen Gemeindegesetzgebung des 19.Jahhunderts“) vermittelt das Bild einer durch die Zentralbürokratie eng eingeschränkten Gemeindeautonomie, wobei die Rechtsgleichheit am falschen Ort nämlich zwischen Stadtgemeinde und Landgemeinde eingeführt wurde. Eine weitere Sequenz aus der Geschichte des Verwaltungsrechts bietet der Aufsatz über die gemischten Bezirksämter. Diese Institution war aber nur von kurzer Dauer (1851–1867) und widersprach rechtsstaatlichen Grundsätzen, indem die Gewaltentrennung zwischen Gericht- und Vollzug aufgehoben wurde, ein Mangel der jedoch – man staune – durchaus den Wünschen der Betroffenen entsprach.

 

Unter „Varia“ wird eine ganze Reihe von Aufsätzen („140 Jahre Österreichischer Gewerbeverein“, „Der norddeutsche Bund. Zum 100.Jahrestag der Augustverträge von 1866“, der bereits erwähnte Aufsatz „King vor sale...“, „250 Jahre Lotterien – ja oder nein ?“, „Vom Reisen in der Rechtsgeschichte“) veröffentlicht, die aus Vorträgen bei Gelegenheit von Jubiläen entstanden sind.

 

Da die meisten Beiträge in diesem Band zunächst als Vorträge für eine gehobenes Laienpublikum verfasst wurden, ist deren Vortragsstil unverkennbar, was deren Lebendigkeit und Anschaulichkeit erhöht. Der Band ist daher auch für Laien gut lesbar.

 

Winterthur                                                                                                      Theodor Bühler



[1] Die Universitätsreform des Ministers Graf Leo Thun-Hohenstein (Sitzungsberichte der phil.hist.Kl. der Österreichischen Akademie der Wissenschaften 239/2, 1962).

[2] Vgl. Karl Meuli, Über einige alte Rechtsbräuche in Thomas Gelzer (Hrsg.),Gesammelte Schriften Bd. 1 (1975) S. 445ff.

[3] Werner Ogris, Geisel in HRG 1.6 (1969) Sp. 1445ff., insbes. 1447.

[4] Vgl. hierzu Philippe Godding, Le droit privé dans les Pays Bas méridionaux du 12e au 18e siècles (1987) S. 75.