NS-Justiz in Österreich. Lage- und Reiseberichte 1938-1945, hg. v. Form, Wolfgang/Uthe, Oliver (= Schriftenreihe des Dokumentationsarchivs des österreichischen Widerstandes zu Widerstand, NS-Verfolgung und Nachkriegsaspekten 3). LIT-Verlag, Wien 2004. LVIII, 503 S.

 

Neben den geheimen Lageberichten des Sicherheitsdienstes der SS (hierzu Tobias Müller, Recht und Volksgemeinschaft, 2001, Rez. ZRG GA 120, 844) stellen die Berichte der OLG-Präsidenten und der Generalstaatsanwälte eine wichtige Quelle zur Justizgeschichte der NS-Zeit dar (hierzu bereits H. Michelberger, Berichte aus der Justiz des Dritten Reiches, Pfaffenweiler 1998, und Aufsätze von H. Boberach und K. Oldenhagen). Wie im Altreich waren nach dem „Anschluss“ Österreichs auch die OLG-Präsidenten und Generalstaatsanwälte in Innsbruck, Graz, Linz und Wien zu regelmäßigen Berichten über die Lage in ihren Amtsbezirken verpflichtet. Der vorliegende Band enthält alle auffindbaren Berichte aus den genannten OLG-Bezirken (für den OLG-Bezirk Innsbruck auch Berichte von Amts- und Landgerichten aus den Jahren 1938/39), die Lageberichte der Oberreichsanwaltschaft beim Volksgerichtshof, soweit sie sich auf Österreich beziehen, sowie Reiseberichte von Beamten des Reichsjustizministeriums (u. a. Bericht von Schlegelberger in den OLG-Bezirk Wien im Juni 1940; S. 379ff.). Leider sind die Lageberichte nur unvollständig überliefert; nach Meinung der Herausgeber fehlt für Österreich ein Drittel der Berichte, darunter die wichtigen Berichte aus Graz und Linz für die Anfangsjahre 1938/39 und die Wiener Berichte für 1938-1942; hinzu kommt noch die allgemein unzureichende Überlieferung für 1943, während für 1944 erstaunlich zahlreiche Dokumente vorliegen.

 

Die Einleitung bringt einen Überblick über die inhaltlichen Schwerpunkte der Lageberichte, die insgesamt eine Fülle rechtssoziologischen und rechtshistorischen Materials zur Justizwirklichkeit in einer vornehmlich ländlich-katholisch strukturierten Region geben. Die Berichte von 1938 bis 1940 aus Innsbruck heben besonders die positive Aufnahme des Ehegesetzes vom Juli 1938 hervor; es sei empfangen worden „wie eine Erlösung“ und habe „schlagartig den in Österreich zu einem chronischen Übel gewordenen Eherechtswirrwarr und damit einen von einem namhaften Teil der Bevölkerung als unerträglich empfundenen Missstand beseitigt“ (S. 5, 9). Gut aufgenommen wurde das bereits am 12. 5. 1938 eingeführte Vollstreckungsmissbrauchsgesetz vom 13. 12. 1934, das zu einem großzügigen Vollstreckungsschutz führte, allerdings bei Vermietern und Kreditgebern auf Kritik stieß. Das Reichserbhofgesetz fand dagegen wenig Verständnis, so dass es teilweise nur sehr schleppend durchgeführt wurde. Zum Testamentsgesetz von 1938 findet sich in dem Grazer Bericht vom 1. 9. 1941 der Hinweis, dass die „geforderten strengen Formvorschriften von der Landbevölkerung als unverständliche Härte empfunden“ worden seien, „zumal die Formen des nach dem ABGB zugelassen gewesenen mündlichen Testamentes von drei Zeugen und des fremdhändigen schriftlichen Testamentes vor drei Zeugen nicht mehr rechtsgültig sind“ (S. 139). Während die Neuerungen des Jugendgerichtsgesetzes von 1942 allgemein akzeptiert wurden (u. a. der Jugendarrest), stießen die im Justizministerium beratenen Justizreformen (hierzu die Quellen bei W. Schubert, Akademie für Deutsches Recht, Zivilprozess und Gerichtsverfassung, Frankfurt am Main 1997, S. 527ff.) auf Widerstand (S. 112ff., 259). Aufschlussreich ist ein Lagebericht über die Aufnahme des Justizministers Thierack in der Bevölkerung und in „Rechtswahrerkreisen“ (S. 254ff.) und eine Rede des Linzer Gauleiters Eigruber vor der dortigen Richterschaft (S. 228ff.). Schwerpunkte der Berichte bilden die Strafrechtspflege (Hoch- und Landesverrat, Sexualverhalten von Frauen gegenüber Kriegsgefangenen und Fremdarbeitern, Zunahme der Jugendstrafsachen, Schwarzschlachten, Schleichhandel, Nichtigkeitsbeschwerden, Kritik an oft zu milden Strafurteilen, Anprangerungen von Frauen), das eigenmächtige Vorgehen der Gestapo und der Verwaltung (Landräte) unter Umgehung der Staatsanwaltschaft sowie Klagen über die Personalknappheit und den nur unzureichend vorhandenen Nachwuchs.

 

Mit dem von Form und Uthe herausgegebenen Band liegen erstmals für eine Region des damaligen Deutschen Reichs die Justizberichte in einer vollständigen Edition vor. Der Anhang bringt Kurzbiographien der OLG-Präsidenten und Generalstaatsanwälte in Österreich zwischen 1938 und 1945 in allerdings sehr knapper Form. Abgeschlossen wird das Werk mit einem Personen-, Behörden-/Organisationen- und einem Orts- und Personenregister sowie mit einem Verzeichnis der in den Berichten genannten Gesetze, Verordnungen und Erlasse (leider ohne Fundstelle), das ein Sachregister, wenn auch nicht vollständig, entbehrlich machte, und eine Chronologie der Berichte. Wenn die Herausgeber als Politikwissenschaftler und Historiker auf die Geschichte der österreichischen OLG-Bezirke im Allgemeinen und den rechtshistorischen Gehalt der Berichte nur am Rande eingehen, so ist dies bedingt durch ihr primär rechtssoziologisches Erkenntnisinteresse. Es ist zu wünschen, dass die wichtige Edition von Form und Uthe bald Nachfolger für weitere Regionen des Deutschen Reiches findet.

 

Kiel

Werner Schubert