MacLean, Simon, Kingship and Politics in the Late Ninth Century. Charles the Fat and the End of the Carolingian Empire. Cambridge University Press, Cambridge 2004. XIX, 262 S.

 

Mitte November 887 (der genaue Tag ist ungewiss) wurde Kaiser Karl III., „der Dicke“, an einem Hoftag der fränkischen Großen in Tribur oder Frankfurt am Main (der Ort ist umstritten) gestürzt. An seiner Stelle wurde Arnulf „von Kärnten“, Karls außerehelicher Neffe, zum König der Francia orientalis erhoben. Kurz darauf starb der entmachtete Kaiser. Arnulf dagegen regierte bis zu seinem Tod im Jahr 899 und war der letzte Karolinger, der den Kaisertitel inne hatte. Der Sturz Karls ist öfters als das Ende einer Epoche angesehen worden, weil er eine Kette von Ereignissen verursachte, die zur Auflösung des karolingischen Großreiches führte.

 

Die Studie Simon MacLeans, die hier besprochen werden soll, beginnt mit einer historiografischen Einführung, die zeigt wie verschiedene prominente Historiker, so Walter Schlesinger und Gerd Tellenbach, die Absetzung Karls und deren Folgen untersuchten und wie sie zu unterschiedlichen Ergebnissen kamen. Dabei haben sich die Forscher namentlich mit folgender Frage auseinandergesetzt: Stellte der Sturz Karls einen Wandel von verfassungsrechtlicher Bedeutung dar (nämlich die erste Königswahl der deutschen Geschichte) oder war Karls Absetzung einfach ein coup d’êtat eines ehrgeizigen Königssohns, der nur wegen seiner außerehelichen Geburt als Erbnachfolger Karls nicht in Frage kam. Schlesinger glaubte, dass die Ereignisse von 887 Symptome eines tiefgreifenden Umbruchs in der Gesellschaft waren, in der mächtige Fürsten, unzufrieden mit dem schwerfälligen Karl, ihren Herrscher selber bestimmen wollten. Auf der anderen Seite stand Tellenbach, der dieses Ereignis als reine Machtergreifung interpretierte. Weil sich berühmte Historiker so intensiv mit diesem Problem auseinandergesetzt haben, schien es unwahrscheinlich, dass ein junger Gelehrter viel Neues zu dieser Frage beitragen würde. Und doch hat MacLean, dessen Dissertation hier zur Diskussion steht, neuartige Gesichtspunkte beleuchtet, die zweifellos zu einem tieferen Verständnis der angesprochenen Problematik führen könnten.

 

Der Verfasser untersucht den Sturz Karls im Zusammenhang mit seiner gesamten Königsherrschaft, welche im Jahre 876 mit der Königswürde von Alemannien anlässlich des Tod seines Vaters, Ludwigs „des Deutschen“, ihren Anfang genommen hatte. Im März 881 erhielt Karl den Kaisertitel, was heißt, dass er zur Zeit seines Sturzes elf Jahre geherrscht hatte. Da er schon 869 als Befehlshaber eines größeren karolingischen Feldzuges erwähnt wird, darf man annehmen, dass er während mindestens zwanzig Jahren im Karolingerreich eine führende Rolle gespielt hat. Dennoch hat bis jetzt kein Forscher den Versuch gemacht, Karls Leben zu beschreiben, eine überraschende Tatsache, wenn man bedenkt, dass Herrscherbiografien im deutschen Sprachgebiet in den letzten zehn Jahren fast zu einer neuen Industrie erblüht sind. Karls III. Biografie scheint namentlich deshalb vernachlässigt worden zu sein, weil er als schwacher, träger und untätiger Herrscher in die Geschichte eingegangen ist. Diese Studie trägt viel dazu bei, die Persönlichkeit Karls in ein anderes Licht zu stellen.

 

Das zweite Kapitel ist eine Übersicht über die zeitgenössischen Quellen von Karls III. Herrschaft. Mit Recht zeigt MacLean, dass es sich bei Karls Regierungszeit um eine der bestdokumentierten Perioden der gesamten Karolingerepoche handelt. Sein Königtum wurde in zwei verschiedenen Versionen der Fuldaer Annalen beschrieben, die unabhängig von einander entstanden sind und die Karls Herrscherfähigkeit und die Gründe für seine Absetzung sehr unterschiedlich beurteilen. Wie Hagen Keller schon früher gezeigt hat, gelang es Schlesinger und Tellenbach nur deshalb ihre diametral entgegengesetzten Meinungen scheinbar überzeugend zu begründen, weil jeder sein Argument auf eine andere Version dieser Annalen stützte. MacLean weist jedoch darauf hin, dass der negative Eindruck von Karls Königsherrschaft namentlich darauf beruht, dass sich die meisten Geschichtsforscher fast ausschließlich auf die Mainzer Version der Fuldaer Annalen verlassen haben. Diese jedoch war von Erzbischof Luitbert (von Mainz) verfasst worden und war zweifellos von der Eifersucht gegenüber seinem Rivalen Bischof Luitward von Vercelli bestimmt, dem am Hofe wichtige Ämter übertragen worden waren. MacLean glaubt, dass die so genannte Regensburger Version der Annalen die Tatsachen objektiver darstellt, besonders in Bezug auf Karls Feldzüge gegen die Wikinger. Zudem zeigt der Verfasser, dass es auch eine Anzahl zusätzlicher erzählender Quellen gibt (Annales Bertiniani, Annales Vedastini und das Chronicon Reginonis), die ein differenzierteres Licht auf Karls Königsherrschaft werfen. MacLean findet die letztgenannte Quelle besonders aufschlussreich, indem ihr Autor, Regino von Prüm, Karls zwanglosen Regierungsstil im fränkischen Reich den Schwierigkeiten und dem Blutvergießen unter seinen Vorgängern entgegensetzte. MacLean zieht auch zwei literarische Quellen bei: das Gedicht über die Belagerung von Paris durch die Wikinger von Abbo von Saint Germain-des-Prés und Notkers Gesta Karoli Magni, ein Werk, das von Karl III. selbst in Auftrag gegeben worden war und indirekt auf die Probleme hinwies, die sich gegen Ende seiner Regierungszeit einstellten. Endlich macht MacLean auch darauf aufmerksam, dass aus den elf Jahren von Karls Regierungszeit 170 Diplome bis zum heutigen Tag überlebt haben.

 

Der Befund der kaiserlichen Urkunden ist besonders geeignet, um Karls Regierungsstil näher zu betrachten. Dieses Thema wird in den Kapiteln 3, 4 und 5 abgehandelt. Zuerst untersucht MacLean, wie der Herrscher das Beziehungsnetz zu den Mächtigen in verschiedenen Teilen des Reiches aufgebaut hat. Der Kaiser stützte sich hauptsächlich auf so genannte ´Supermagnaten´, also auf Männer, die sich großen Reichtums und königlicher Gunst erfreuten, besonders in Grenzgebieten, wo die militärische Macht verdichtet war. Dabei war vielleicht am wichtigsten, dass diese Männer entweder mit karolingischen Frauen verheiratet waren oder eine Karolingerin als Mutter hatten. Diese Beobachtung ist wesentlich, da sich das Hauptthema von MacLeans Studie darauf gründet. Danach stürzten die Fürsten Karl nicht, weil sie der karolingischen Herrschaft müde waren, wie oft behauptet wurde, sondern eher deshalb, weil ihnen die Karolinger so wichtig waren (S. 121). Mit anderen Worten, ihr Reichtum und ihr Einfluss waren schicksalhaft abhängig von der Karolingern, ein Zustand, den der Autor mit dem Begriff ,their Carolingianess’ bezeichnet. Es war daher ganz natürlich, dass sie ihre Bindung an diese Dynastie betonten, und je näher diese Beziehung war, desto besser, desto sicherer war ihre Stellung in der Gesellschaft.

 

Im weiteren betont MacLean in den Kapiteln über den Regierungsstil, dass sich die Persönlichkeit des Herrschers, so wie sie in diesen Urkunden erscheint, keineswegs mit dem traditionellen Bild des lethargischen Karl, „des Dicken“, vereinbaren läßt. Im Gegenteil, aus diesen Dokumenten wird klar, dass der Kaiser außerordentlich beweglich war und oft in Gesellschaft eines großen Gefolges erstaunlich schnell weite Strecken zurücklegte. Paul Kehr, der diese Diplome ediert hat, ist diese Tatsache schon vor vielen Jahren aufgefallen; doch wurde sie von den nachfolgenden Historikern ignoriert.

 

Ein dritter Aspekt von großer Bedeutung ist die geografische Lage von Karls Kerngebiet, das Alemannien und das Elsass umfasste. Im Gegensatz zur herkömmlichen Meinung handelt es sich dabei um eine Region, die als Herrschaftszentrum eines Reiches von mehr als einer Million Quadratmetern besonders gut geeignet war. Alemannien und Elsass waren in jeder Richtung mit den wichtigsten Kommunikationsrouten verbunden. Aus diesem Gebiet konnte man schnell ins westfränkische Königreich, nach Burgund oder Aquitanien gelangen. Zudem grenzte die oberrheinische Tiefebene mit ihren reichen Fiskalgütern an Karls Kernlande, und auch die Gebiete am Niederrhein konnten in ein paar kurzen Tagemärschen erreicht werden. Während Straßen von Alemannien nach Augsburg und Bayern und von da zu den ostalpinen Pässen führten, boten die churrätischen Pässe vom Oberrhein über den Bodensee eine direkte Verbindung nach Mailand und Pavia. Die Bedeutung dieser Verkehrsnetze ist kaum zu überschätzen, denn, wie MacLean zeigt, war nicht nur Karl III. während seiner Regierungszeit ständig in Bewegung, sondern auch die Großen des Reiches reisten, trotz der großen Distanzen zwischen ihren Markgrafschaften und dem Kerngebiet, häufig an den Hof, um sich der Königsnähe zu erfreuen. Ein Punkt, den MacLean nicht erwähnt, der aber seine These noch erheblich bestärken würde, wird in jüngst erschienen Artikeln von Stefan Freund und Mark Merisowsky abgehandelt, in denen die Verfasser zeigen, dass sich regelmäßige Kommunikation durch Boten im Frühmittelalter viel schneller und häufiger abspielte als gemeinhin angenommen worden ist. Die Lage von Karls Kerngebiet im Herzen des karolingischen Europa bedeutete, dass sich der Kaiser auch über Vorgänge in den entferntesten Teilen seines Reiches jeder Zeit gut orientieren konnte.

 

Wenn nun Karl III. ein verhältnismäßig fähiger Herrscher war, der sich der traditionellen Mittel karolingischer Regierungsformen bediente, ergibt sich die Frage, warum er gestürzt wurde. MacLeans Antwort darauf ist wie folgt: Da die Karolinger ihre Anhänger überzeugt hatten, dass nur ein legitimer, volljähriger, männlicher Nachkomme aus dem karolingischen Stamm befähigt sei, die Franken zu regieren, wurde offensichtlich, dass sich eine Krise einstellen würde, wenn es der Dynastie nicht gelingen sollte, einen Kandidaten mit den genannten Eigenschaften aufzustellen. Im Jahre 876 starb Karls Vater (Ludwig der Deutsche). Zu diesem Zeitpunkt gab es jedoch genug legitime Anwärter, so dass ein Aussterben des karolingischen Stammes unwahrscheinlich schien. Aber schon kurz danach starben in kurzer Folge eine ganze Reihe legitimer männlicher Nachkommen, so dass Karl III. 887, als er tödlich erkrankte, die einzige Person war, auf die diese Kriterien zutrafen. Also mussten die Regeln der Nachfolge geändert werden. Die Reichsfürsten hatten nichts gegen die karolingische Herrschaft einzuwenden, was sie jedoch beunruhigte, war die bevorstehende Unsicherheit. Um die Kontinuität zu erhalten, musste die Nachfolge so schnell wie möglich neu geregelt werden. In einigen Teilen des Reiches erklärten sich ´Supermagnaten´ selber zu Königen. Im ostfränkischen Reich anerkannte der Adel Arnulf als König, namentlich darum, weil er in diesem Gebiet eine bekannte Größe war und ihm nur ein einziges Kriterium zum karolingischen Königtum fehlte. Mochte er auch unehelich geboren sein, er war ein erwachsener, männlicher Nachkomme Karls des Großen, der seit 875 führende administrative und militärische Stellungen innegehabt hatte. Die Fürsten setzten Karl nicht ab, weil sie sich der Karolingerherrschaft entledigen wollten, sondern weil sie sich eine Regierung ohne einen erwachsenen, männlichen Karolinger nicht vorstellen konnten.

 

Im letzten Kapitel befasst sich der Autor mit Notkers Gesta Karoli Magni, um zu zeigen, dass gegen das Ende von Karls III. Regierungszeit die Sorge um die Nachfolge ein öffentliches Anliegen wurde. Das Wesen dieses Werkes änderte sich im Laufe seiner Entstehung. Anfänglich pries Notker Karls Herrschaft als Erfüllung eines göttlichen Planes. Im zweiten Teil des Buches wird jedoch klar, dass des Kaisers Versäumnis, sich mit dem Problem der Nachfolge auseinanderzusetzen, die Stabilität des Reiches bedrohte.

 

MacLeans Schlussfolgerungen sind nicht ganz zufriedenstellend. Er argumentiert zwar überzeugend, dass Arnulf kein Revolutionär gewesen sei (S.194). „He was not, nor did he consider himself to be of a particular class or standard bearer of a new age of European history.“ Andrerseits besteht er aber darauf, dass sich mit diesem Herrscher eine neue Epoche eröffnete, indem das Reich nicht mehr von einem legitimen, erwachsenen, männlichen Karolinger regiert wurde. Der Verfasser scheint sich hier in einen Widerspruch zu verwickeln und es gelingt ihm nicht den Leser von der Bedeutung dieses Wandels zu überzeugen. Bei näherer Betrachtung von Arnulfs Regierungstil wird offensichtlich, dass er im Wesentlichen genau gleich vorging wie seine karolingischen Vorgänger. So kann man also nicht sagen, dass das Reich der Karolinger mit dem Sturz Karls III. und dem Aufstieg Arnulfs zu Ende kam. Tatsächlich hatte das „Karolingerreich“ weder einen Anfang noch ein Ende; denn es handelt sich bei diesem Ausdruck um einen Begriff, den Historiker aus praktischen Gründen anwenden, um eine bestimmte Ära in der europäischen Geschichte zu kennzeichnen.

 

München                                                                                                        Charles R. Bowlus