Kumlien, Mats, Uppfostran och straff. Studier kring 1902 års lagstiftning om reaktioner mot ungdomsbrott (= Rättshistoriskt Bibliotek 56), Lund 1997, 396 S.

 

Das Werk trägt den Titel (übs.): „Erziehung und Strafe. Studien zur Gesetzgebung von 1902 über Maßnahmen gegen Jugendstraftaten“. Es handelt sich um eine Uppsalenser Dissertation, die der dortige Ordinarius für schwedische Rechtsgeschichte, Rolf Nygren, betreut hat. Das hier vorgeführte Thema ist bis heute aktuell, geht es doch um die rechtspolitische Frage, ob Jugendliche ihrer Straftaten wegen zu bestrafen oder Erziehungsmaßnahmen zu unterwerfen seien. Das schwedische Strafgesetzbuch von 1864 hatte dafür bereits einige Grundregeln festgelegt: Kinder unter 15 Jahren waren nicht strafbar, sondern die Gerichte sollten „den Umständen entsprechend“ Erziehungsmaßnahmen anordnen, nämlich entweder Züchtigung durch die Eltern oder Einweisung in eine allgemeine Erziehungsanstalt. Allerdings gab es eine Ausnahme für 14-jährige Täter: Hatten sie ein schweres Verbrechen begangen und waren sie bereits hinreichend einsichtsfähig, so konnten sie strafrechtlich belangt, aber nur zu herabgesetzter Strafe verurteilt werden. Zwischen 15 und 18 Jahren waren die Jugendlichen straffähig, aber für gewisse Straftaten galten auch für sie geringere Strafen. Erziehungsmaßnahmen kamen für Täter, älter als 15 Jahre, nicht mehr in Frage. Dieser Stand der Dinge wurde seit dem Reichstag von 1896 allerdings kontrovers diskutiert. In der ersten Kammer war Gustaf Rudebeck, in der zweiten Fridtjuv Berg der Wortführer der Neuerer. Berg war es vor allem, der die Zielgruppen eines Jugendgerichtsgesetzes umriß: Es ging einmal um die Behandlung jugendlicher Missetäter, zum anderen um Fürsorge verwahrloster und sittlich vernachlässigter Kinder. Zur Vorbereitung eines Gesetzes setzte der König 1896 auf Bitte des Reichstages eine Kommission ein, die im Sprachgebrauch der Zeit „ligapojkskommitté“ (Rowdykommission) hieß.

 

Die Diskussion mündete schließlich in ein Gesetzgebungsverfahren, in dem – wie in Schweden üblich – auch die oberen Gerichte um Stellungnahme gebeten wurden. Für Schwedens oberstes Gericht vertrat sein Präsident Ivar Afzelius die Meinung, daß die Jugendstraftaten nicht vor Strafgerichte gehörten, sondern daß die Jugendwohlfahrt sie als Fälle von Verwahrlosung betreuen solle. Die Arbeiten und Überlegungen mündeten schließlich 1902 in zwei uppfostringslagar (Erziehungsgesetzen)[1], von denen das eine die Schutzerziehung regelte, während das andere ein Jugendgerichtsgesetz war. Die Gesetze zogen eine Grenze zwischen Kindern unter 15 Jahren und Jugendlichen zwischen 15 und 18 Jahren. Begingen Kinder unter 15 Jahren Straftaten, so wurden sie nicht bestraft, sondern den kommunalen Jugendämtern überwiesen. Diese waren kollegial in barnavårdsnämnder (Jugendwohlfahrtsausschüssen) organisiert, denen der örtliche Pfarrer vorstand; praktisch waren sie mit dem Schulrat der Kirchengemeinde identisch. Allerdings zwang das Gesetz die Kommunen nicht, Erziehungsanstalten einzurichten, sondern überließ ihnen weitgehend die zu ergreifenden Maßnahmen. Der Staat beschränkte sich auf die Gesetzgebung, finanzielle Förderung und Inspektion von Fürsorgeeinrichtungen. Bei den straffälligen Jugendlichen zwischen 15 und 18 Jahren überlappte sich die staatliche Kriminalfürsorge mit der kommunalen Jungendwohlfahrt: Das Gericht verurteilte sie zunächst wie Erwachsene zu einer Freiheitsstrafe, überwies sie dann den örtlichen Jugendwohlfahrtsausschüssen, welche die (meist kurze) Strafe in langjährige und zeitlich unbestimmte Fürsorgeerziehung umwandelten. Doch lag in dem Verfahren viel Willkür: Wurde der Jugendliche rückfällig und waren beide Taten zusammen mit Kriminalstrafe von gewisser Höhe bedroht, wurde der Täter wie ein Erwachsener bestraft, ohne daß ihm die Zeit in der Erziehungsanstalt angerechnet wurde.

 

Im dritten Teil seiner Arbeit zeichnet der Verfasser den ideengeschichtlichen und rechtshistorischen Hintergrund dieser Gesetze nach. Da in der bisherigen Literatur oft behauptet wurde, sie beruhten auf den Grundideen der soziologischen Schule Franz von Liszts, geht der Verfasser hier auf die verschiedenen strafrechtlichen Schulen ein, die sich gegen Ende des 19. Jahrhunderts ausbildeten, so auf die von Cesare Lombroso angeführte italienische Schule und auf die Internationale Kriminalistische Vereinigung (IKV), die 1889 in Deutschland gegründet worden war und die Gedanken der soziologischen Schule vertrat. Die Vorarbeiten der schwedischen Gesetze von 1902 haben auf die Arbeiten von Aschrott, Appelius und Stoos hingewiesen, die sich um die Probleme der Strafmündigkeit drehten. Auch waren einige Mitglieder der Rowdykommision Mitglieder der IKV oder hatten sich auf längeren Studienreisen in Deutschland gebildet. Franz von Liszt, die „Portalgestalt der modernen Kriminalpolitik“ (Anners), forderte das Eingreifen des Staates „in loco parentis“, weil die Eltern infolge ihrer täglich langdauernden Lohnarbeit nicht in der Lage seien, ihre Kinder recht zu erziehen. So hatten in der Tat die Gedanken der soziologischen Schule erheblichen Einfluß auf die schwedische Gesetzgebung. Auch die psychiatrischen Untersuchungen Gunnar Adells und Gustav Jonssons an männlichen Landstreichern und Alkoholikern übten ihren Einfluß aus, weil sie ergaben, daß praktisch alle Insassen der Anstalt Svartsjö psychisch abnorm und erblich belastet waren. Dagegen konnten sich die rassehygienischen Lehren Olof Kinbergs und David Lunds nicht durchsetzen.

 

Den vierten Teil seiner Untersuchungen mit dem Titel „die Welt der religiösen Haustafel“ widmet der Verfasser der Behandlung Jugendlicher in der Strafrechtsgeschichte Schwedens. Die „Haustafel“ war ein Anhang zum lutherischen kleinen Katechismus, der Bibelzitate enthielt, welche die Stellung der Menschen in der Ständeordnung beschrieben, und war Ausdruck der in Schweden mächtigen lutherischen Orthodoxie. Für diesen Teil bringt der Verfasser nicht nur eine tour d’horizon der Behandlung jugendlicher Straftäter von Platon bis ins 18. Jahrhundert, er weitet auch den Gegenstand der Untersuchung aus, indem er – vor allem für die Neuzeit – die allgemeinen Probleme der Armen- und Krankenpflege und der Lohnarbeiter darstellt. Der Verfasser begibt sich jedoch für Antike und Mittelalter auf ein ihm fremdes Gebiet, von dem er wenig versteht und lebt hier ganz aus zweiter Hand. Seine Darstellung überzeugt nur für die Neuzeit. Die Ausführungen zu den einheimischen Landschaftsrechten fußen noch nicht einmal auf den Ausgaben Carl Johan Schlyters, der Verfasser begnügt sich mit ihrer neuschwedischen Übersetzung. Auch hat er His[2] nur oberflächlich gelesen. Die Herkunft der Unterscheidung von viljaverk und vaþaverk ist kein „primitives Prinzip“, das dem frühen germanischen Recht eignete (S. 188, im Widerspruch zu S. 162f.). Zudem sind einige Quellenzitate falsch (S. 173, Fn. 87; S. 188, Fn. 45). Immerhin macht das Ergebnis dieses Teils deutlich, der bis etwa 1790 reicht, daß die beiden Gesetze von 1902 nicht allein auf modernen westeuropäischen Theorien fußten, sondern daß bei ihnen die einheimische Tradition ein wichtiges Wort mitgesprochen hat.

 

Der fünfte Teil schildert die Entwicklung der Zeit von 1790 bis 1864 und ist mit ‚Anpassung der Haustafel‘ überschrieben. Der Verfasser schildert die soziale Entwicklung von der Mitarbeit der Kinder in der Familie zum Lohnarbeiter und die Hinwendung der schwedischen Rechtsordnung zu sozialer Fürsorge. Auch hier ist der Kreis der Darstellung weiter gespannt als der Buchtitel angibt, weil auch die Probleme der Armen im allgemeinen, der Landstreicher etc. mitbehandelt werden. Zugleich weist der Verfasser auf die Behandlung seines Themas in der deutschen Literatur des 19. Jhs., bei Immanuel Kant, Karl von Grolman und Johann Anselm Feuerbach einschließlich der Entstehung der klassischen Schule des Strafrechts hin.

 

Der sechste Teil schließlich behandelt die Zeit von 1864 bis 1902 im Vergleich zur Entwicklung in den europäischen, insbesondere den anderen nordischen Ländern. Mit der Gesetzgebung von 1902 war das Thema jedoch nicht erschöpft. Es entfaltete auch danach noch eine eigene Dynamik, so daß die Probleme von 1902 denen der 1990er Jahre weitgehend gleichen. Auch am Ende des 20. Jahrhunderts ging es immer noch um die Frage, wie man den Erziehungsauftrag der Familie stärken könne, ohne in das Erziehungsrecht der Eltern allzu sehr einzugreifen, und ob der Staat gezwungen sei, in loco parentis tätig zu werden, weil die häusliche Erziehung allzu große Mängel aufwies. Auch war fraglich, wie die Gesellschaft reagieren solle, wenn Jugendliche zwischen 15 und 18 Jahren straffällig wurden. Solle man sie wie Erwachsene bestrafen oder stattdessen – ihrer noch nicht voll entwickelten sozialen und rechtlichen Einsichtsfähigkeit wegen – erziehen und ausbilden? Das heute in Schweden geltende Jugendstrafrecht findet sich im Gesetz 1964, Nr. 167 „Lag om unga lagöverträdare“ (LUL), über junge Gesetzesbrecher, im Gesetz 1990, Nr. 52 „Lag om vård av unga“ (LVU), über Jugendfürsorge sowie in einzelnen Vorschriften des Straf- und des Prozeßabschnittes des schwedischen Reichsgesetzbuches.

 

Der Verfasser dankt im Vorwort dem Max-Planck-Institut für europäische Rechtsgeschichte in Frankfurt am Main für die ihm gewährte Unterstützung. Auch hat er die deutsche strafrechtliche Entwicklung vom 18. bis zum 20. Jahrhundert, von der auch viele schwedische Juristen durch ihre Studien in Deutschland Nutzen gezogen haben, genauestens, die englische Entwicklung dagegen nicht dargestellt. Um so mehr verwundert, daß er seine Ergebnisse am Schluß in einem englischen Summary zusammenfaßt. Zusammenfassungen finden sich dankenswerterweise auch am Ende jedes Teils, doch verfehlen sie ihren Zweck, weil sie viel zu breit geraten sind (so ist z. B. beim 64 Seiten füllenden Teil III die Zusammenfassung 13 Seiten lang und eigentlich eine eigene Untersuchung mit neuen Fußnoten). Zu kritisieren ist auch das Verzeichnis ausländischer Rechtsquellen: Wer diese Gesetze nachschlagen möchte, wäre für die Nennung der Fundstelle im entsprechenden Gesetzblatt dankbar gewesen, doch gibt es keinen Hinweis darauf. Teilweise hat der Verfasser veraltete Auflagen benutzt (z. B. Hafström, rättskällornas historia, Kaser, römisches Privatrecht, Liebs, lat. Rechtsregeln). Im Literaturverzeichnis fehlt bei vielen Büchern der Reihentitel. Auch daß die Vornamen abgekürzt sind, dient nicht dem suchenden Leser (z. B. A. Nelson – Alvar oder Axel?). Immerhin hat das Buch ein Personen- und ein Sachregister. Insgesamt zeigt das Werk des Verfassers, daß man auch aus einem Gebiet, das als bekannt und ausgeschrieben gilt, bei näherer Betrachtung noch Funken schlagen kann.

 

Köln am Rhein                                                                                                           Dieter Strauch



[1] Svensk Författningssamling (SFS) 1902, Gesetze Nr. 67 und Nr. 72; ihren Titel teilt der Verfasser leider nicht mit.

[2] Rudolf His, Das Strafrecht des deutschen Mittelalters, Band I: Die Verbrechen und ihre Folgen allgemein, Leipzig 1920, S. 61 – 66.